Wer steckte den Reichstag an? Ich bin wieder einmal zufällig auf das Thema gestoßen - durch einen Artikel der Jungen Welt vom 14.07.2006. Interessant ist weniger die historische Frage, deren Pro und Kontro im entsprechenden Wikipedia-Artikel nachzulesen ist, auch in Telepolis vom 25.02.2006, sondern die medienkritische Komponente. Der Spiegel weigert sich bis heute, sich mit der Geschichtsfälschung, die ihm vorgeworfen wird, kritisch auseinanderzusetzen.
Der Historiker Otto Köhler schreibt in Junge Welt: "Beim Spiegel waren 1956 für Germani zuständig die beiden Ressortleiter für Internationales und Ausland Horst Mahnke und Georg Wolff. Sie kannten sich schon als SS-Hauptsturmführer im SD des Reichssicherheitshauptamts. Wolff wirkte im Krieg auf den Viktoriaterrassen, dem Gestapohauptquartier in Oslo. Mahnke wurde unentbehrlicher Adjutant von Alfred Six, der als Chef des Vorauskommandos Moskau der Einsatzgruppe B auf seinem Rückzug vorzugsweise jüdische Lehrer liquidierte. Die beiden SD-Leute, die nach dem Krieg beim Kaffeehandel im Hamburger Freihafen untergekommen waren, hatten für den Spiegel eine offen antisemitische Serie gegen jüdische DPs (Displaced persons) geschrieben, die Kaffeeschmuggel und Schwarzhandel betrieben. Der Spiegel war damals ein Sammelbecken von – mehr oder weniger ehemaligen – hochrangigen Nazis und Terroristen aus dem Reichssicherheitshauptamt und diente ihnen mit wohlplazierten Meldungen als Informationszentrale für ihre NS-Mitmenschen draußen im Land."
Ein SS-Obersturmbannführer, der im Spiegel eine Serie über den Reichstagsbrand redaktionell bearbeitet - wenn das keine Ironie der Geschichte ist. Die Neue Zürcher Zeitung warf Augstein laut eines Berichts der Netzeitung vom 08.12.2000 vor, er betreibe "Weißwäscherei" ehemaliger Nazis und vernachlässige die journalistische Sorgfaltspflicht. Am 02.05.2001 legte die Netzeitung noch einmal nach: "Ein Kronzeuge der Alleintäterthese ist dabei höchst suspekt: Er hatte bei den Ermittlungen 1933 selbst eine wichtige Spur unterdrückt."
Wer sich in die Details knien will, sollte die Fakten des Forschers Hersch Fischler im Reichstagsbrandforum studieren. Die NZZ"... zitiert den Soziologen Hersch Fischler mit Hinweisen, 'dass die Altnazis im Spiegel vom sowjetischen Geheimdienst erpresst und abgeschöpft wurden'. Marinus van der Lubbe als Sündenbock habe verhindern sollen, den Reichstagsbrand neu aufzurollen. Dabei habe ein hoher Ministerialdirektor - zuständig ausgerechnet für den Verfassungsschutz - gedeckt werden sollen. Fischler sieht in Augsteins Darstellung des Reichstagsbrandes 'eine der übelsten apologetischen Geschichtsfälschungen in der deutschen Publizistik überhaupt'. Voller interessanter Details, obzwar in etwas dubiosem Umfeld, ist auch die Sammlung der Zeitschrift kuckuck (1986/87) zum Thema.
Kontra Spiegel argumentieren die tazund der Lokalhistoriker Willi Creutzenberg; der gelernte Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff möchte sich angesichts der Fakten letztlich gar nicht entscheiden, behauptet aber faktenfrei, die Vorwürfe, der Spiegel habe die Geschichte gefälscht, seien nicht richtig. Die FAZ und die Hannoversche Allgemeine Zeitung stellten sich in Beiträgen mehr oder weniger hinter den Spiegel.
Alexander Bahar über das Buch "Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird" ("edition q", Berlin, 863 Seiten) und die Methode des Spiegel, über das Thema zu berichten: "Da werden zunächst einmal die Kritiker der Spiegel-Thesen (Gerhard Brack, Hersch Fischler, Wilfried Kugel und Alexander Bahar) als 'Vierer-Gruppe' von 'akademischen Außenseitern' vorgestellt und suggeriert, diese arbeiteten in einem Forschungsteam zusammen, um sich gleichzeitig über angebliche interne Widersprüche innerhalb dieses Teams mokieren und diese gegeneinander ausspielen zu können. Tatsächlich bestehen zwischen den unabhängig voneinander arbeitenden Forscherteams Brack/Fischler und Bahar/Kugel nicht mehr Gemeinsamkeiten als zwischen beliebigen, am gleichen Forschungsgegenstand arbeitenden Wissenschaftlern. Ihre Positionen sind in entscheidenden Fragen grundverschieden, diejenigen von Hersch Fischler in manchen Punkten (Verdächtigung der Deutschnationalen, Urheber des Reichstagsbrandes zu sein) tatsächlich so abenteuerlich, dass man versteht, was der Spiegel mit seinem Konstrukt einer 'Vierer-Gruppe' bezweckt. In dieselbe Richtung zielte ganz offenkundig auch der Verzicht auf klare bibliographische Angaben."
Ich bin bekanntlich auch gelernter Historiker und imstande, lange Dokumente zu lesen und zu verstehen. Ich neige nach grober Lektüre der zitierten und verlinkten Texte dazu, die These von der alleinigen Täterschaft van der Lübbes abzulehnen. Das, was der Spiegel publiziert hat und dessen Autoren gehören propylaktisch in die Tonne und haben mit seriösem Journalismus nur wenig zu tun. Peinlich, dass die Verschwörungstheorie der Altnazis im Spiegel - so muss man es wohl nennen - noch in den Schulbüchern zu finden ist.
Christiane Schulzki-Haddouti bleibt im Telepolis-Artikel letztlich nur das Fazit zu zitieren: "...die Alleintäterschaft van der Lubbes sei unwahrscheinlich. So ist es nicht abschließend geklärt, wer für den Anschlag verantwortlich war. Für die Täterschaft gibt es nur mehr oder minder starke Indizien - unter anderem verfolgten Bahar und Kugel die These, die SA stünde hinter dem Anschlag. Gerhard Brack hingegen präsentiert in seinem BR-Beitrag einen Gestapo-Agenten, der Lubbe in den Niederlanden aufgesucht und zur Tat animiert haben soll." |