Ich bin selbstredend für Gefühle, ein fiktives Kollektiv betreffend, verloren. Das werden die verehrten Stammleserinnen und die geschätzten Stammleser schon ahnen. Aber man kann das Nationalgefühl (was das ist, kriegen wir später), das die deutschen Poren jetzt ausschwitzen, ganz kalt und nüchtern analysieren, wie andere kollektive Formen des Wahnsinns, etwas die Verehrung höherer Wesen.
Der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer, der Mitglied des NSDAP war, schrieb: "Nationalismus: Daß ich zum Beispiel Österreicher bin, ist mir auch mit einer Fülle widerwärtiger Individuen gemeinsam, da daß ich es mir verbitten möchte, lediglich mit Hilfe dieses Begriffs bestimmt zu werden."
Gefühle, das heißt bestimmte, durch chemische und physikalische Prozesse im Körper hervorgerufene psychische Zustände, kann man auf alles Mögliche projizieren. Es ist jedem freigestellt, ob er Menschen liebt oder Tiere oder Phantasmagorien wie "Vaterland". Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann sagte, er liebe nicht sein Land, sondern seine Frau.
Liebe hat die Evolution als Katalysator für die geschlechtliche Vermehrung und den Erhalt der Spezies vorgesehen. Wer Nationen, Länder oder Hunde oder Spinnen liebt, muss als evolutionäre Verirrung und als Blinddarm der menschlichen Kultur gelten. Gefühle für ein Kollektiv sind also nur dann sinnvoll und nützlich, wenn sie dem Eigennutz dienen. Das ist aber auch ihr Risiko: Sie definieren auch immer die, die nicht dazugehören sollen. Ware das anders, wäre zum Beispiel ein "Nationalgefühl" völlig unnötig.
Was aber ist eine Nation? Der Clan als Familienverbund ist die kleinste kollektive Einheit. Ein Volk, neudeutsch: Ethnie, ist die Summe vieler Clans - diese müssen aber nicht biologisch definiert sein. Ob die Auca des heutigen Ecuador sich als ein Volk gefühlt haben, ist fraglich, als Nation garantiert nicht - wenn man die Worte nicht als Synonym nehmen will. Und gibt es eine "indische" Nation? Die Goten etwa definierten sich so wie die Sorben: Wer dazugehören wollte, war Gote, solange er sich einigermaßen an die Sitten und Gebräuche hielt.
Die Nation aber gehört zum Kapitalismus - und ausschließlich zu dem. Der Nationalismus oder das Nationalgefühl wurden gebraucht, um die rein ökonomische Einheit Nationalstaat weltanschaulich zu unterfüttern. Insofern war das Gefühl, dass sich an ein rein fiktives Kollektiv schmiegte, von Anfang an eine Missgeburt.
"Im 18. Jahrhundert in Folge der Französischen Revolution entstanden und durch zunehmende Mobilität begünstigt, entfaltete die Idee der Nation (siehe: Nationalismus) eine hohe Dynamik, die anfangs gegen Feudalismus und Autokratie (Frankreich, Deutschland), gegen wirtschaftlich und politisch einengende Kleinstaaterei (Deutschland bzw. deutscher Sprachraum), oder aber gegen imperiale Herrschaft (Russland, Donaumonarchie) gerichtet war." (Wikipedia)
Der einzige Begriff der Nation, den ein denkender Mensch akzeptieren könnte, ist der französische: Er ersetzt die biologische oder kulturelle Zwangsgemeinschaft durch eine Idee, die zwar ebenso fiktiv ist, aber mit dem rein formalen Regelwerk der Demokratie gefüllt werden kann.
Interessant, dass der Wikipedia-Eintrag zum Thema vor Unsinn strotzt. "Diese [eine von mehreren. B.S.] Definition der Nation geht von der gemeinsamen Abstammung der Angehörigen der Nation und einer daraus resultierenden Kultur- und Spracheinheit aus." Das ist waschechtes völkisches Denken und sofort Nazi-kompatibel. Ich vermute, dass aber die Mehrheit der deutschen Staatsbürger genau so denkt. Und das ist nicht gut so.
Fotos: Berlin-Kreuzberg, 15.06. (oben), Fans vor dem Quartier der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Berlin-Grunewald (Mitte), Berlin-Wilmersdorf, Uhlandstrasse; schwedischer Fan im Hotel (unten) |