Unter Beschuss

Lesenswert: Richard Gutjahr über Mobbing und Verschwörungstheoretiker:
„In unzähligen YouTube-Videos, Postings auf Facebook und auf Twitter wurden meine Frau, meine Tochter und ich aufgrund meiner Berichte (und vielleicht der Tatsache geschuldet, dass meine Frau Jüdin ist) bezichtigt, Teil einer internationalen Verschwörung zu sein, der sog. New World Order (NWO). Ziel dieser geheimen Organisation: durch inszenierte Terrorakte (‚Hoaxes‘ oder auch ‚FalseFlag‘-Angriffe) die Weltherrschaft zu erlangen. Haben wir anfangs über diesen Irrsinn noch gelacht, ist meiner Familie und mir das Lachen nach und nach im Hals stecken geblieben.“

Mit Mobbing habe ich ja auch diverse und intensive Erfahrungen gemacht, auch seitens von Leuten, die andere für seriös halten. Es ist natürlich ein Unterschied, ob mal allein gegen alle steht, was mir – auch wegen meiner Biografie – noch nie etwas ausgemacht, sondern mich eher angestachelt hat, oder ob die Familie mit darunter leidet.

Gegen Idioten wie die von Gutjahr erwähnten Verschwörungstheoretiker (die auch allesamt Antisemiten sind) würde ich vermutlich nicht vorgehen, aber welche, die man in Maßen ernst nehmen kann, dürfen mit meinem Gegenmobbing rechnen.

Smankies

Frankreich will Handys an Schulen verbieten. Großartige Idee!

…eine Studie der London School of Economics zeigt: In Schulen, in denen Smartphones verboten sind, verbesserten sich die Testergebnisse der 16-jährigen Schüler um 6,4 Prozent. Besonders Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommen profitierten von solchen Verboten.

Sollte man hier auch einführen, inklusive der Pflicht, Schuluniform zu tragen.

Religioten et al

kitsch

Feuerbach sieht daher nicht, daß das „religiöse Gemüt“ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört. (Karl Marx: Thesen über Feuerbach, 1845)

Dem geschätzten Stammpublikum seien diverse Artikel zur weiteren Lektüre über Religiotismus empfohlen, obwohl man danach in tiefe Depression verfallen könnte, da, was sogar Marxisten erkannt haben, die Welt leider nicht – im teleologischeschatololgischen Sinn – in eine bessere Zukunft marschiert, sondern, wie der Fall verschiedener Imperien trotz Hypokaustum und Beton zeigt, auch wieder in die düstere Hölle des Aberglaubens und der geistigen Umnachtung zurückfallen könnte, was insbesondere die Grünen, eine Partei des neuen und reaktionären Kleinbürgertums, exemplarisch beweist, da deren Ideen, Religion (Verehrung höherer Wesen) und Esoterik (Verehrung niederer Wesen) betreffend, mittlerweile auf dem Stand des frühen 19. Jahrhunderts angekommen sind, also vor Feuerbach und Marx ohnehin.

Die Berliner Grünen wollen laut Tagesspiegel wieder mehr religiöse Symbole in Schulen (einstimmig!). Dann sollte man auch alles mit Kruzifixen zupflastern. Und was wäre, wenn eine Muslimin mit Hijab in einer bayerischen Schule unterrichten will? Ist das nicht kognitiv dissonant für Schüler, oder müssen die dann alle eine Kippa aufsetzen?

Ich frage mich, welcher Teufel Iblīs in die gefahren ist. Zugegeben: In Deutschland sind Staat und Kirche nicht wirklich getrennt. Man darf sich also nicht wundern, dass die armen Kinder mit relgiösen Märchen und mit Aberglauben indoktriniert werden. Es scheint da einen – nur auf den ersten Blick – merkwürdigen Schulterschluss zu geben, der aber in den Medien nicht erwähnt wurde: Die Grünen-Abgeordnete Bettina Jarasch, die etwas gegen das Neuträlitätsgesetz hat, ist auch im Zentralkomitee der deutschen Katholilen. Da wächst zusammen, was zusammengehört. Die Grünen sind also sogar reaktionärer als die SPD. I told you so.

Die Stadt Berlin musste sich jetzt vom Märtyrermuseum distanzieren. Die Bild-Zeitung hatte ein Stöckchen hingehalten, über das zu springen man sich bemühte. Die Diskussion tobte schon vor einem Jahr: Islamistische Terroristen als „Märtyrer“ zu bezeichnen, halte ich für einen Wahnwitz. Was die Veranstalter herumschwurbeln, überzeugt mich nicht. Ich warte jetzt darauf, dass die Grünen eine Ausstellung über die so genannten Palästinenser finanzieren.

Zum Thema Märtyrer, grauenhaft geschrieben, aber dennoch interessant: Flugschrift: Von der syrischen Katastrophe zur Demokratie der Märtyrer.

Übrigens sollte man über Religion ganz anders diskutieren: Der Glaube ist ein Produkt, nicht als anthrolopogische Konstante vorausgesetzt. Das hatte Marx schon 1845 (vgl. das Zitat oben) erkannt.

Es geht nicht darum, wie islamisch Europa wird und wann, sondern darum, welchen Vorteil sich Menschen davon versprechen, dass sie plötzlich religiöser werden, auch wenn es Alternativen gibt. Religion fällt nicht vom Himmel. Ethnologen wie die von mir verehrte Mary Douglas haben interessante Antworten, aber das will niemand wissen – es ist zu kompliziert, zu zynisch und passt daher nicht in den Mainstream. Oder, wie man sagen könnte: Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.

Paul Weniger, du bist ein Held

Paul Weniger

Der Bergmann Paul Weniger aus Altenbögge-Bönen starb im Kampf gegen die Kapp-Putschisten, die im Frühjahr 1920 die Weimarer Republik durch eine Militärdiktatur ersetzen wollten. Paul Weniger war Mitglied der KPD und Verhandlungsführer der Roten Ruhr-Armee in Pelkum. Er wurde am 3. April 1920 im Hof des Polizeigefängnisses von Hamm erschossen. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder. Er war 31 Jahre alt.

Die Rote Ruhr-Armee wurde vor allem von Mitgliedern der anarchosyndikalistischen Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) und der Unabhängigen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) gebildet.

Bönen (dort war mein Großvater 40 Jahre lang Bergmann) ist der einzige Ort im Ruhrgebiet, in dem eine Strasse nach einem Arbeiter benannt wurde, der von der Reichswehr ermordet wurde.

Irgendwo an der Weser? [Update]

weser

Frage an die schwarmintelligenten Experten: Das Foto meiner Großeltern und deren Kinder wurde Ende der dreißiger Jahre gemacht, irgendwo „an der Weser“. Man kann im Hintergrund etwas erkennen – aber was? Und was bedeutet die Fahne des Schiffes? Das „Kraft“ wird vermutlich nicht „Kraft durch Freude“ sein, sondern irgendetwas mit Kraftschifffahrt – damals noch mit zwei F?

[Update] Ich beuge mich dem weisen Ratschluss der schwarmintelligenten Leserinnen und Leser dieses Blogs. Es ist definitiv die Festung Ehrenbreitstein, und das Schiff ist der KdF-Dampfer „Elberfeld“ (1968 verschrottet). Es gibt sogar noch Fotos, auf denen das besser zu sehen ist.

Feierabend

feierabend

Feierabend nach einer 12-Stunden-Horror-Nacht ohne Pause. Man kommt sich dämlich vor, ins Wachbuch einzutragen: „Keine besonderen Vorkommnisse“. Besser wäre: „Zahllose Vorkommnisse, aber hier keine besonderen.“

Drei Großfamilien vom Balkan. Das meint: Nach Mitternacht mehr als 50 Personen im Warteraum, inklusive mehrerer lärmender Kinder. Dazu besoffene Hipser-Tussies, die sich über sich selbst lauthals totlachen, mehrere „südländische“ Männer, die kurz vor dem Ausflippen sind und die ich nur mühsam im Zaum halten kann.

Vier Polizisten und drei Feuerwehrleute bringen einen gefesselten, aber dennoch tobenden Mann auf einer Trage, der Schaum vor dem Mund hat und schier unmenschlich kreischt und schreit. Definitiv die falsche Drogenmischung. Eine alte Bulgarin im Rollstuhl bekreuzigt sich, als die Prozession an ihr vorbeizieht. Vielleicht ist das das Richtige. Wir brauchten auch einen Exorzisten. #rettungsstelle #notfallaufnahme

Brunnenvergiftung aus dem Mittelalter

Rainer Trampert:
„Im Europaparlament quittierte im Juli vergangenen Jahres die Linke mit stehenden Ovationen die Rede des Palästinenserführers Mahmoud Abbas, in der er Schauermärchen verbreitete über Juden, die Wasser vergiften wollten, »um Palästinenser zu töten«. Die Brunnenvergiftung aus dem Mittelalter kommt bei Linken noch immer gut an. In Spanien begrüßten Podemos und die kommunistische »IU« das Auftrittsverbot des Rappers Matisyahu. BDS-Kader hatten es erwirkt, weil er »Israel repräsentiert«. In spanischen Gemeinden kämpft die Linke für die Entfernung israelischer Waren aus Kaufhäusern. Das ist dem Eurolinken Fabio De Masi nicht genug. Er startete zusammen mit der schottischen Nationalpartei einen Aufruf an die Fifa, sie möge jüdische Fußballteams aus Siedlungsgebieten vom Spielbetrieb aussperren. De Masi: »Wir verhandeln auf dem Platz auch nicht darüber, ob eine Blutgrätsche eine rote Karte ist … « Die jüdische Blutgrätsche – eine seltene Metapher. Jede Nähe zum jüdischen Staat wird geahndet. Als Klaus Lederer (Berliner Linkspartei) 2009 an der Kundgebung: »Solidarität mit Israel – Stoppt den Terror der Hamas!« teilgenommen hatte, entzogen Elmar Altvater, Hans Modrow und Wagenknecht ihm die Friedenslizenz. Er habe zur »Rechtfertigung der brutalen israelischen Aggression« beigetragen.

Nichts belegt die Enteignung des linken Gewissens so innig, wie der Angriff auf die einzige Demokratie von Marokko bis zum Iran und die Solidarität mit islamisch-patriarchalen Diktaturen im Westjordanland und in Gaza, deren Klassengesellschaft, Männergewalt, Antisemitismus, Gräueltaten, Kinderausbeutung, Zwangsehen, Ermordung von Schwulen bewusst ignoriert werden, um den Antisemitismus nicht zu schwächen.“

Ritterinnen der politischen Korrektheit

Märkische Oderzeitung: „In Berlin-Friedrichshain gehen die Kinder zum „Verkleidefest“. Eltern, die mit dem Wort nichts anfangen können, werden belehrt: ‚Fasching‘ und ‚Karneval‘ bezeichnen aus dem Christentum stammende Bräuche. Aus Rücksicht auf andere Kulturen und Religionen sollen sie nun nicht mehr benutzt werden.“

Wenn ich das schon höre. „Kulturen“, womöglich lebende! Jetzt rächt sich der unpolitische bzw. entpolitisierende Begriff von „Kultur“, den das grüne Milieu zusammen mit „Multikulti“ in den Diskurs eingeführt hat. Falsch ist es sowieso. „Kultur“ und „Paternalismus“ sind auch zwei Seiten einer Medaille. Es ist hoffnunglos – jetzt ist auch schon die „Linke“ infiziert.

Vgl. Wikipedia:
Vorläufer des Karnevals wurden bereits vor 5000 Jahren in Mesopotamien gefeiert, im Land mit den ersten urbanen Kulturen. Eine altbabylonische Inschrift aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. gibt Kunde davon, dass unter dem Priesterkönig Gudea ein siebentägiges Fest gefeiert wurde und zwar nach Neujahr als symbolische Hochzeit eines Gottes. Die Inschrift besagt: „Kein Getreide wird an diesen Tagen gemahlen. Die Sklavin ist der Herrin gleichgestellt und der Sklave an seines Herrn Seite. Die Mächtige und der Niedere sind gleichgeachtet.“ Hier wird zum ersten Mal das Gleichheitsprinzip bei ausgelassenen Festen praktiziert und dies ist bis heute ein charakteristisches Merkmal des Karnevals.

In allen Kulturen des Mittelmeerraumes lassen sich ähnliche Feste, die meist mit dem Erwachen der Natur im Frühling in Zusammenhang stehen, nachweisen: In Ägypten feierte man das ausgelassene Fest zu Ehren der Göttin Isis und die Griechen veranstalteten es für ihren Gott Dionysos und nannten es Apokries.

Die MOZ fragt ganz richtig: „Besonders traurig ist, dass die Amadeu Antonio Stiftung ihren Namen für diese alberne Kampagne hergibt. (…) Weitergedacht stellt sich die Frage, ob das islamische „Zuckerfest“ nicht eigentlich viel zu ungesund klingt? Und warum sollten sich beim Karneval nur Scheichs und Indianer diskriminiert fühlen? Was ist mit den verniedlichten Prinzessinnen? Mit verhöhnten Hexen, veralberten Dickwänsten und der Amtsanmaßung in Polizei- oder Feuerwehruniform aufzutreten?“

Schuldig bei Verdacht

Ich hatte zu einem bestimmten Thema, das irrelevant ist, aber offenbar viele interessiert, keine Meinung, bis ich diesen Satz bei Meedia.de las:
Die Mitarbeiterin, die zuvor im Zuge der internen Nachforschungen gegenüber dem Medienhaus auch die Zahlung einer nicht unerheblichen Geldsumme in den Raum gestellt haben soll, erstattete offenbar ihrerseits Strafanzeige…

Danach hatte ich eine Meinung. Mir würde übrigens schon mal während eines verbandsinternen Machtkampfs vorgeworfen, Kinderpornografie zu verbreiten, und auch eine Strafanzeige durch eine Frau wurde gestellt. Natürlich habe ich gewonnen und bekam am Ende eine (für mich) „nicht unerhebliche Geldsumme“, aber es gilt die Überschrift. Ich weiß also, wovon ich rede. Man braucht Nerven wie Drahtseile.

In Zukunft empfehle ich, betriebliche Sausen nach Geschlechtern getrennt zu veranstalten oder nach der Methode vieler Firmen zu verfahren, bei der genderpoltische Themen nicht direkt eine Rolle spielen.

Charaktermasken oder: Soko Nafri und Soko Casablanca

nafri

Source: Entschließungsantrag der Fraktion der FDP, Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 16/10731, 14.01.2016 (!)

Dummerweise las ich beim Frühstück eine Zeitung (online). Das verdarb meine Laune ein wenig.

In Berlin löst man gerade die dringendsten Probleme der Stadt. Ich meine übrigens, dass man Toiletten für alle einrichten sollte und nicht für verschiedene Geschlechter. Ich halte es auch mit Karl May, der meinte, dass böse Taten unter dem Einfluss von Alkohol oder anderer Macken härter bestraft werden sollten und nicht milder. (Das kommt davon, wenn man als Kind die falschen Bücher liest.)

Wer noch nicht wusste, was schleimiger Opportunismus ist und welche Mentalität die meisten Politiker haben, der kann sich das fast live anschauen. Das gilt auch für Revolutionäre (natürlich nicht für Fidel. RIP). Charaktermasken eben.

Wenn Kinder nicht zur Schule kommen, setzen einige Döspaddel in der Hauptstadt offenbar auf Habermas. Funktioniert aber nicht. Es muss doch möglich sein, Eltern zu zwingen, ihre Kinder zur Schule zu schicken? „Was nach Law-and-Order klingt, ist nichts anderes als die logische Konsequenz aus der Beobachtung, dass selbst Bataillone von Sozialarbeitern, Lehrern und Lesepaten an ihre Grenzen stoßen, wenn sie es mit Familien zu tun haben, die ihre Schuldistanz bereits in der zweiten oder dritten Generationen pflegen.“ Yesssss. (Abgesehen vom Deutsch des Grauens: „Schuldistanz pflegen“. Aha. Tot sein heißt jetzt: Lebensdistanz pflegen.)

Manchmal werde ich einfach wütend, wenn ich Kurzberichte lese. Ich wüsste gern mehr (der Version der Polizei ist etwa anders, sagt aber auch nichts aus). Was hätte ich gemacht? Bei dreien hätte ich, wette ich.

Die Kölner Polizei hat erklärt, was für sie „Nafri“ ist. Es gibt ja schon seit rund einem Jahr eine gleichnamige Sonderkommission. In Düsseldorf heisst die „SoKo Casablanca“.

„Polizeisprecher Thomas Held erläuterte, die Polizei habe in der Silvesternacht Passanten nicht allein nach ihrer mutmaßlichen Herkunft kontrolliert. ‚Bei den Kontrollen haben die Beamten verschiedene Kriterien berücksichtigt‘, sagte Held dem Tagesspiegel. Entscheidend sei nicht allein das Aussehen gewesen, sondern auch das Verhalten von Personen: ‚Handelt es sich um eine Gruppe, die sich dynamisch oder sogar aggressiv bewegt? Wie ist die Stimmung in der Gruppe?‘ Vergleichbar sei dies beispielsweise mit der Situation vor Fußballspielen, wenn größere Fangruppen anreisten.“ Und jetzt kommt mal wieder von den Palmen runter.

Übrigens: Es gibt auch Ofris und Drittis.

Revolt of the Poor

Proleten, Pöbel, ParasitenIch empfehle ausnahmeweise ein Buch, das ich noch gar nicht ausgelesen habe. Christian Baron: „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten“ – über das Thema Eribons, ist aber besser und geht mehr auf die speziellen deutschen Zustände ein. Baron schreibt mit einem Furor, der mir ausnehmend gut gefällt. Er legt sich mit allen an: den „Gefühlslinken“, den Grünen, Veganern, Verteidigern des Islam, Fußball-Hassern; es bleibt kein Auge trocken und alle kriegen ihr Fett ab. Viel Freunde im „linken Milieu“ wird er jetzt nicht mehr haben. Das Gefühl kenne ich irgendwie…

Deutschland lässt sich dennoch nur als Klassengesellschaft begreifen. (Baron)

Frage: Warum wählen die Arbeiter Parteien, die nicht die Interessen des Proletariats vertreten? Die Frage wurde für Frankreich, Deutschland und die USA schon gestellt, aber nie beantwortet.

Deutsche Journalisten stammen fast ausnahmslos aus der Mittelschicht. Das bedeutet: Sie nehmen den Klassenstandpunkt der Mittelschicht ein – und nur den – und leugnen es gleichzeitig. Sie leugnen auch unisono, dass es Klassen gebe, und wenn doch, dann höchstens, was „Bildung“ angeht.

Das Buch konfrontiert die Leserin und den Leser mit verzweifelten Menschen, die nicht wissen, wie sie mitten in diesem schwerreichen Land ihre Kinder sattkriegen sollen; derer letzter Stolz aber darauf gründet, dass sie sich dennoch selbst zur Mittelschicht zählen. (…) Das Buch handelt auch von Menschen, deren Ohnmacht in diffuser Fremdenfeindlichkeit mündet und deren real empfundenen Ängste eine in Selbstgewissheit lebende Bildungselite einfach nicht zur Kenntnis nehmen will.

Ich glaube, dass es sehr schwer ist eine Perspektive einzunehmen, die über die der Klasse hinausgeht, in die man hineingeboren und in der man sozialisiert wurde. Das ist das Thema sowohl bei Eribon als auch bei Baron. Beide stammen aus dem Proletariat und sind „aufgestiegen“. (Beide sind als Trickster, sagt der Völkerkundler.) Für mich gilt das auch. Ich musste bei der Lektüre Borons ständig nicken – ich konnte alle seine Gedanken nach vollziehen.

Das Treten nach unten ist dennoch leider auch in linken Milieus auf dem Vormarsch. (Baron)

Ganz einfach: Weil diese „Gefühlslinken, auf die Baron eindrischt, eben meistens Kinder aus der Mittelschicht sind. Die können nicht anders. (Nmatürlich gibt es Ausnahmen.)

Warum müssen linke Akademiker so arrogant sein? (…) …was mir an so vielen linken Aktivisten mittlerweile so übel aufstößt: diese Unfähigkeit, aber oft genug auch eine start ausgeprägte Weigerung, die Perspektive völlig anders sozialisierter Menschen einzunehmen. (Baron)

Peter Nowak schreibt auf Telepolis: „Doch leider kann man ein Buch, das dieses Thema in den Mittelpunkt stellt, wohl kaum einem größeren Publikum verkaufen. (…) Dabei aber übersieht Baron, dass die theoretische Arbeit durchaus ein eigenes Feld ist und nicht immer und von allen gleich verstanden werden kann und muss.“

Das ist Unfug, Kollege Nowak. Wer sich nicht so ausdrücken kann, dass ein normaler Mensch ihn versteht, muss an sich arbeiten – wenn es um Politik und Ökonomie geht. Wer nicht verständlich schreiben kann, denkt auch wirr. Marx, Brecht und Freud haben Kompliziertes so formuliert, dass man es versteht, wenn man nicht ganz bekloppt ist. Proletarier sind eben nicht dumm. Ich habe viele Arbeiter und Gewerkschaftler kennengelernt, die gebildeter also heutige Studenten waren und auch mehr wussten. Mehr Lebenserfahrung hatten sie sowieso.

Selbsthass kennzeichnet viele aus der Unterschicht, während die Mittelschicht das Radfahrer-Prinzip anwendet: Nach oben buckeln und nach unten treten. Die Oberschicht verfügt als Einzige über das, was man früher als „subjektives Klassenbewusstein“ bezeichnet hat. Ihre Aufgabe sieht sie darin, eigene Privilegien zu sichern und Unfrieden unter den Lohnabhängigen zu stiften. (Baron)

Einen gewaltigen Shitstorm wird Baron auch für seine These ernten: „Multikulti ist gescheitert“. Das habe ich schon in „Nazis sind Pop“ vor 16 Jahren gesagt, und auch damals wollte es niemand hören, obwohl es eine Kritik aus einer radikal linken Perspektive war.

Linke verirren sich nur selten in soziale Brennpunkte. Und wenn doch, dann meiden sie den Kontakt zum „white trash“ und wenden sich – was allein natürlich unterstützenswert ist – den dort lebenden Flüchtlingen zu.

Har har. Jemand, der das in der „Taz“ schriebe, würde sofort sozial geächtet und in Zukunft totgeschwiegen. Es ist aber bezeichnend und wahr.

Leider hat die Linke die Religionskritik den Rechten überlassen. (Baron)

Das erinnert wieder an Frankreich, wo sich die rechte Front National als Verteidigerin des Laizismus aufspielen kann – leider zu Recht: Vertreter der Linken eiern beim Thema oft nur elendlich herum.

Und was ist mit dem Rassismus? Die Jungle Word lässt Tuvia Tenenbom zu Wort kommen, der wie gewöhnlich den argumentativen Knüppel dem Degen vorzieht:

Man könnte durchaus von einer »revolt of the poor« sprechen. Das erste Mal in der Geschichte der USA stand mit Donald Trump ein Kandidat zur Wahl, der rassistische Äußerungen von sich gab und all den Rassisten ein Sprachrohr war. Er lieferte einen Tabubruch nach dem anderen. Hat es die Leute gestört? Nein. Man war dankbar, dass das Diktat der Political Correctness durchbrochen wurde. Besonders in New York hat dieser Irrsinn dazu geführt, dass alles furchtbar berechenbar und harmlos geworden ist. Schwarze heißen dort »Afroamerikaner«, Europäer »Kaukasier« und Obdachlose nennt man »anders Ausgestattete«. Alle müssen sich andauernd lieb haben. Und dann kommt einer, der endlich mal sagt: »Ich habe nicht alle lieb.« Es geht also um zwei Dinge. Einerseits gibt es die Revolte von denen, die sich durch die Regierung im Stich gelassen fühlen, andererseits die Leute, die dankbar dafür sind, dass sie endlich wieder sagen dürfen, was sie wirklich denken.

Ein wunderbares Beispiel linker Arroganz ist übrigens D. Watkins auf Salon.com: „Dear hard-working white people: Congratulations, you played yourself“. Was er über den Rassismus und die ultrarechten Unterstützer Trumps feststellt, ist natürlich richtig, aber die Wähler Trumps zu beschimpfen, hilft nicht wirklich weiter. Baron hat dazu eine sehr interessante Formulierung, die ähnlich auch eine der zentralen Thesen Eribons ist:

Eine Gesellschaft von finanzieller und kultureller Teilhaben an ihrem unermesslichen Wohlstand systematisch ausschließt, darf sich nicht wundern, wenn diese ausgeschlossenen im Übertreten bürgerlicher Wertvorstellungen ihr letztes Refugium widerständigen Verhaltens und damit eine Art letzter Restwürde zu finden hoffen,“

Demnächst noch mehr dazu in diesem Online-Theater.

(Links)Liberale Arroganz

Junge Welt: „Gleichwohl haben auch viele jener, die nun mit selbstgerechter Empörung auf die angeblich dummen und ungebildeten Trump-Wähler zeigen, ihren eigenen großen Beitrag zum Ausgang der Wahlen geleistet.

Große Teile des linksliberalen und linken Spektrums beschränken ihre politische Arbeit seit Jahrzehnten auf allerlei Kulturkämpfe und eine immer irrealer anmutende Identitätspolitik. Akademiker, die sich selbst für unglaublich tolerant und weltoffen halten, tragen ihre moralische Überlegenheit wie eine Monstranz vor sich her. Allzu viele Progressive verbringen ihre Tage in einer Filterblase aus Facebook, New York Times und »irgendwas mit Medien«. Sie kämpfen für »Triggerwarnungen« und Unisextoiletten und debattieren in Universitätsseminaren darüber, ob weiße Menschen Dreadlocks tragen dürfen. Für jene vielen Millionen Menschen, die sich derweil von einem prekären Arbeitsverhältnis zum nächsten hangeln und sich – trotz »Obamacare« und alledem – keine adäquate Gesundheitsversorgung für sich und ihre Kinder leisten können, wollen sie derweil kaum etwas wissen.“

Ack. Gilt auch für Deutschland.

Positiver Rassismus

Zeit online interviewt die Kreuzberger Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann. Die Dame hat oft recht. Ich musste meine Meinung, dass die Grünen meistens Unfug von sich geben, temporär revidieren.

Ich glaube, dass die Linken in der Analyse einen Fehler machen. Die Wähler der AfD das sind Leute, die Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit wollen. Sozial abgehängt oder arm müssen sie nicht unbedingt sein. In Berlin hat die AfD viele Wähler, die die Linke immer als die Nachfolgepartei der SED gewählt haben. Es gibt ja nix Spießigeres, als es die DDR war. (…)

Ich kann Ihnen nur sagen, wenn Merkel weg ist, gnade uns Gott. Sie ist das Bollwerk gegen einen absoluten Rechtsruck. (…)

Darf nur ein Proletarier ein Linker sein oder geht linke Politik auch, wenn man eine bürgerliche Herkunft hat? Die Autonomen beschimpfen mich in der Flüchtlingsfrage als Rassistin und da merke ich, wie wenig sie sich mit Rassismus auseinandergesetzt haben. Vor allem mit dem positiven Rassismus. Dass jemand, weil er Flüchtling ist, per se bevorzugt sein muss, sich nicht an Regeln halten muss. Das hat die gleichen Mechanismen wie der Negativrassismus. (…) Aber denen fehlt oft so ein bisschen der ideologische Überbau. Wenn ich mir die Schriften angucke, die manchmal verteilt werden. Das sind weiterhin diese Bleiwüsten ohne Absatz, ohne irgendwas, was kein Mensch liest.

Die „Autonomen“ von heute sind doch keine Proletarier, sondern spießbürgerliche Akademiker-Kinder, die einen auf linksradikal machen. Beweist mir das Gegenteil!

Melden ist die oberste Bürgerpflicht [Update]

Cora Stephan in der NZZ: „Der «Kampf gegen Rechts» treibt seltsame Blüten. Eine der schillerndsten ist die Amadeu-Antonio-Stiftung, finanziert unter anderem vom deutschen Familienministerium. Dort wird mit staatlichem Geld und regierungsamtlicher Billigung gegen alles vorgegangen, was nicht auf Linie ist. «Melden» ist die oberste Bürgerpflicht. Wer die unappetitliche Broschüre der Stiftung liest, wird mit Erstaunen feststellen: Schon ein Gespräch unter Frauen über Kinder und Sexualität kann ein Anwerbeversuch von rechts sein.“

Was ich vom staatlichen Antifaschismus und vom so genannten Kampf gegen Rechts halte, sollte bekannt sein.

Melden. Durchführen. Verbieten. Ich schrieb es hier schon. Und zitierte auch wiederholt Tucholsky: „Deutsch bleibt Deutsch, da helfen keine Pillen.“

Oder auch, Antonio-Amadeo-Stiftung: Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Egal, gegen wen sich das richtet. Es ist eine Charakterfrage.

[Update] Lesenswert ist auch Don Alphonso zum Thema. Fefe schreibt dazu: „Stellt sich nämlich raus, dass wir hier einen über die Bande ausgetragenen Krieg des SPD-Ressorts „Familienministerium“ von Manuela Schwesig gegen das CDU-Ressort „Innenministerium“ und insbesondere die Person Thomas de Maizière beobachten können.“

Leider muss ich auch diesem Satz zustimmen: „Der beste Weg, die Linken ineffektiv zu machen und ihre Kräfte aufzureiben, ist sie in Räume zu setzen und reden zu lassen.“

Krieg und Terror

Neulich habe ich mal in die Liste meiner Vorfahren geschaut. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Familienmitglied in einem Krieg getötet wurde, war damals erheblich höher als heute vom Terror getroffen zu werden.

Alma, die älteste Schwester meines Großvaters (väterlicherseits): Ihr Mann starb als Soldat im 1. Weltkrieg, ihr Schwiegersohn ist im 2. Weltkrieg verschollen. Eine ihrer Töchter beging mit ihren zwei Kinder 1945 Suizid während der Flucht aus Westpreußen.

Selma, die zweitälteste Schwester meines Großvaters, kam 1945 während der Flucht um, ihr Schwiegersohn starb ein Jahr vorher als Soldat.

Friedrich, der älteste Bruder meines Großvaters: Einer seiner Söhne starb als Soldat 1945. Kurt, ein weiterer Bruder meines Opas, starb als Soldat schon im 1. Weltkrieg.

Helmuth, der jüngste Bruder meines Großvaters, wurde von den Nazis im Euthanasie-Programm ermordet.

National befreite Zone Prenzlauer-Berg

Markus Lindemann schreibt auf Zeit online über „Neukölln“. Ich wohne ja auch in diesem Stadtteil, genauer: In Rixdorf, aber ich erkenne den Kiez nicht unbedingt wieder. Der Verwaltungsbezirk Neukölln umfasst so unterschiedliche „Dörfer“ und Mikrokosmen wie z. B. den Reuterkiez, das Rollberg-Viertel, Böhmisch-Rixdorf, Deutsch-Rixdorf (da wohne ich), Britz und Rudow, „Kreuzkölln“ – man muss schon genauer sagen, was man meint.

Ein Satz hat mir aber sehr gefallen: „In Vierteln wie Prenzlauer Berg sei eigentlich, wie ein Wohnungseigentümer mir während meiner Recherchen sagte, der rechtsradikale Traum der ’national befreiten Zone‘ wahr geworden. Rumänen, Türken, Araber müssten draußen bleiben.“

Unter Dandys und anderen reaktionären Kleinbürgern

dandy diner

Tagesspiegel: „Die Eröffnungsparty des veganen Imbisses ‚Dandy Diner‘ in der Karl-Marx-Straße in Neukölln musste am Samstagabend abgebrochen werden.“

Da passen doch gleichzeitig viele Ärsche auf viele einen Eimer. (Wenn „Gentrifizierung“ nicht so ein hässliches Wort wäre, würde ich es benutzen.) Karl-Marx-Straße neun: Das ist Kreuzkölln. Da denkt man an nächtens Flaschen haltende Teeager Ende zwanzig, hirnlos, grünalternativ wählend, oder Irgendwas-mit-Mate trinkende und Betriebswirtschaft studierende Kinder von Oberstudienräten… nein, ich höre jetzt besser auf, meine durch keinerlei Empirie gestützten Vorurteile (ist das jetzt ein Oxymoron?) zu verbreiten. Und Polen trinken auch selten Alkohol.

Mode-Blogger, die einen asketistisch-veganistischen Imbiss betreiben? Da fehlt eigentlich nur noch Gendersprech. Danke, dass ich jetzt weiß, was ich weiträumig umwandern muss.

Fragen wir doch mal die Experten von Indochino („Modern Male Elegance“): „Middle class men used clothing to mimic the lifestyles of aristocrats, elevating their status among peers.“

Das ist aus völkerkundlicher und linksextremer Sicht äußerst interessant. Die unpolitische Masse derjenigen, die Modetrends hinterherlaufen, weil man gern dem Mainstream der gefühlten Peer-Group huldigt, ist selbstredend reaktionäres Kleinbürgertum, das den sozialen Status zwischen Proletariat und herrschender Klasse bewahren möchte und deshalb nach unten tritt und noch oben buckelt. Auch in der Ikonografie: Arbeiter müssen sich bekanntlich nicht selbst zitieren, aber die mittleren Klassen übernehmen die Sitten der da oben – genial elegant im Englischen: „elevating their status“. Aber natürlich nur gefühlt. Wenn es drauf ankommt, werden sie sie Körner zwischen Mühlsteinen aka im Klassenkampf zermalmt.

„Wir sind Individuen, aber natürlich sind wir geprägt von der Gesellschaft. Heutzutage ernährt man sich bewusst. Deshalb sind wir zwei definitiv Trendveganer“, sagen sie selbst. Bewusst bescheuert: Da kann ja nichts mehr schief gehen. Möge der rechte Mainstream mit euch sein.

Wenn also heute jemand mit dem Begriff „Dandy“ hantiert, weiß man, was man politisch bekommt. Vegan, Denglisch und Gendersprech, Lifestyle-Codes vom Feisten, sind Moden, also irrelevant, und werden zum Glück irgendwann wieder verweht werden.

Babylonien, revisited

Babylonien, revisited, 26.0: Dari, der Mann kam aus Afghanistan.

„Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.“ (Jean Jaurès (1859-1914)

Ich muss hier mal etwas sagen. Vermutlich sehe ich die Welt anders als die Masse derjenigen, die sich in den „sozialen“ Netzwerken und anderswo stundenlang über Einwanderer oder Menschen auslassen, die vor dem Krieg flüchten. Ich sehe die fast täglich, und ich habe ganz konkret mit denen zu tun, wenn ich im Krankenhaus arbeite. Ich kann über die kackbraunen Kameraden und die, die es noch werden wollen – wie der unsägliche Matussek – nur den Kopf schütteln. Ich weiß nicht, in welcher Welt die leben, jedenfalls nicht meiner.

Ich mag nicht über den Job als „Bodyguard“ im Krankenhaus schreiben, allein schon aus Gründen des Datenschutzes. Es würde mir auch niemand glauben, was dort täglich geschieht, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Man kann sich das gar nicht ausdenken.

Kleine Gesten erklären manchmal die Welt besser als langatmiges theoretisches Gefasel.

Ein junger Mann kam in die Rezeption. Er sprach nur Arabisch und ganz wenige Brocken Englisch und Deutsch. Um das Handgelenk hatte er ein Plastik-Armband (des LAGeSo?) mit einer Nummer. Keine Papiere, keinen Ausweis, noch nicht das grüne Papier, das Flüchtlinge bekommen, wenn sie registriert sind. Er schrieb seinen Namen auf einen Zettel, aber auf Arabisch, und das konnte niemand entziffern. Die Schwester in der Rezeption – übrigens eine Afrodeutsche – musste ihn deshalb wegschicken. Ich habe das natürlich gesehen und ihm mit Gesten klargemacht, dass er im Warteraum bleiben solle. Das Problem schien mir doch lösbar, da die Mehrheit der Wartenden oft ohnehin aus Deutschtürken und Arabisch sprechenden Kranken und deren Angehörigen besteht.

Exkurs zu Mehrheiten im Warteraum des Krankenhauses: „Türken“ (die in Kreuzberg sowieso alle Deutsch sprechen, außer den Alten) und Araber sind nur dann in der Mehrheit, wenn nicht gerade eine bosnische Großfamilie kommt, die, wenn eine Person krank ist, mindestens 30 Angehörige aufbietet, um dem Kranken gruppendynamisch beizustehen, was dann „Party“ im Warteraum bedeutet und für mich Stress, weil natürlich alle Kinder mitkommen, auch wenn es zwei Uhr morgens ist. Gegen Bosnier sind Roma ein Kinderspiel, und außerdem kennt mich die Roma-Satra schon, die hier immer auftaucht: Die Roma lebten vorher in Spanien, deshalb sprechen sie neben Romanes Spanisch, was ich wiederum verstehe. Sie seien vor dem unerträglichen Rassismus dort geflohen, sagte mir die so genannte mama principal – das ist die Frau, die bestimmt, was gemacht wird. Und wenn ich der sage, dass es zu laut sei im Warteraum – was es immer ist, wenn die Roma wieder mal da sind -, dann gibt sie einen Befehl und die Bande ist wieder ein paar Minuten ganz brav. Wenn ich das einem männlichen Roma sagte, passierte gar nichts, und ich müsste sehr laut werden, was ich zu vermeiden suche. Vielleicht würden Ethnologen, die sich mit Roma auskennen, das bestreiten, aber bei mir ist es so. Mir zeigen auch die kleinen Jungen stolz ihre teuren Armbanduhren, die nicht so aussehen, als hätten sie sich die gekauft. Vielleicht bin ich auch nicht der typische „Security“-Mann, mit dem Roma normalerweise zu tun haben.

Der junge Araber stand etwas ratlos herum, zog seinen schmuddeligen Pullover hoch und zeigte mir eine üble blutige Schwellung an seinem Bauch. Ich fragte die Wartenden, ob jemand Arabisch und Deutsch oder Englisch verstehe – das war aber ausnahmsweise nicht der Fall. Die Sache wurde vertrackt. Ein kranker Mann, der auf einer Trage drinnen auf seine Behandlung wartete, hörte, was ich sagte, und winkte mich heran: Er sei Türke, aber wenn es um Araber aus dem Irak nahe der türkischen Grenze gehe, dann können er den vermutlich verstehen. Er quälte sich von seiner Trage hoch, obwohl er das nicht hätte tun müssen, und humpelte mit mir in den Warteraum. Der junge Araber freute sich königlich, als ich mit einem Mann kam, in dem er wohl einen Dolmetscher vermutete. Aber leider funktionierte es nicht: Die beiden redeten aufeinander ein, aber verstanden sich nicht.

Dann mischte sich ein weiterer Mann ein, der allein im Warteraum saß. Der sprach zwar kein Wort Deutsch, aber auch Arabisch. Jetzt hatte der junge Mann einen Ansprechpartner. Nur konnte ich weder den einen noch den anderen verstehen. Der Türke aber kam mit dem älteren Araber irgendwie radebrechend klar. Es stellt sich heraus, das der ältere Araber aus Syrien stammte, was bedeutete, dass der junge Araber kein Syrer war.

Mittlerweile waren irgendwie alle Leute im Warteraum – rund zwei Dutzend – am Thema interessiert und beobachteten uns gespannt. Ich sagte dem Türken, er solle dem älteren Araber klarmachen, dass ich von dem jüngeren Araber dessen Namen und Geburtsdatum und Nationalität brauchte, sonst weigerte sich die Krankenhaus-Bürokratie, in Gang zu kommen. Mit der LAGeSo-Nummer allein ginge das nicht. Es half aber alles nichts, obwohl mittlerweile vier Personen mit Händen und Füßen gestikulierten.

Neben uns saß ein junges französisches Paar: Die Frau war verletzt und wartete wie alle anderen. Sie sprachen schlechtes Englisch, und ich kann Französisch zwar verstehen, aber keinen geraden Satz herausbringen. Die Frau begann plötzlich, auf den jungen Araber einzureden. Es stellte sich heraus, dass sie zwar nicht Arabisch aktiv sprechen konnte, aber ein wenig verstehen. Als ich das den Anwesenden berichtete, lächelten einige, auch welche, die sich gar nicht beteiligt hatten. Ich hoffe, ich kann verständlich machen, was ich meine.

Die Sache lief dann so ab: Der junge Araber schrieb etwas auf einen Zettel, den ich organisiert hatte, und die Französin transkribierte es. Und ein halbes Dutzend Leute guckte ihr dabei über die Schulter und gab Ratschläge. Des Rätsels Lösung: Der junge Araber stammte aus Tripolis in Libyen, war 1992 geboren und auf dem „üblichen“ Weg nach Deutschland gekommen. Jetzt hatte ich auch seinen Namen. Den Zettel gab ich der diensthabenden Schwester, und alles nahm seinen bürokratisch-ordnungsgemäßen Gang.

Ich brachte dann eine Flasche Mineralwasser und Pappbecher in den Warteraum. Der Türke legte mir seinen Arm um die Schulter, während er das Mineralwasser trank, auch, weil er vor Schmerzen kaum stehen konnte, der ältere Araber „prostete“ mir mit dem Pappbecher zu, der Libyer und die Französin redeten immer noch lebhaft aufeinander ein.

Ceterum censeo: Ich hoffe, ich konnte verständlich machen, was ich meine.

Ich vergaß zu erwähnen: Im Warteraum saßen auch drei Thailänderinnen und eine Tamilin. Der Afghane war schon in Behandlung, und der junge Afrikaner mit frauenfreundlichem Rasta-Look, der Mandinka und perfekt Deutsch sprach, war schon gegangen. Der einzige Mann, der mich total und über Stunden nervte, war ein älterer Albaner, der alle fünf Minuten fragte, ob er nicht zu seinem Verwandten hineingehen könne, weil der kein Wort Deutsch spreche und außerdem Analphabet sei.

Vorgestern musste ich einem jungen Mann, der sich mit psychotrophen Substanzen abgefüllt hatte, gleich zwei Messer wegnehmen, bevor er damit spielen konnte. Eines davon hatte er im Schuh versteckt. Und heute Nacht meinte ein etwas betrunkener, aber sehr kräftiger Herr, er müsse auf einen älteren Polizisten einprügeln, der ihn zum Ornithologen Psychiater der Rettungstelle bringen wollte. Ich hatte es irgendwie geahnt, stand daneben und hatte Gelegenheit, die Grundtechniken des Krav Maga zu demonstrieren. Der Job ist manchmal ganz interessant.

Der Großmufti und die Islamogermanen

Amin el-Husseini | Hitler

Amin al Husseini und Adolf Hitler, Fotograf Heinrich Hoffmann, Quelle: Wikipedia | Bundesarchiv

Dieser Artikel von mir erschien 1996 in der Berliner Stadtzeitschrift tip – unter dem Titel „Führer unter sich“. Viele der Quellen zum Thema, die heute online verfügbar sind, haben daraus abgeschrieben. Ich habe ihn geringfügig aktualisiert.

Im Sommer 1933 entdeckten Spaziergänger am Ufer eines Sees im Grunewald eine Leiche: Der Ertrunkene war Mohammed Nafi Tschelebi, ein syrischer Student an der Technischen Universität Charlottenburg. Mit ihm verloren die Muslime im Deutschen Reich ihre herausragenste Persönlichkeit.

Während die Islamische Gemeinde in Berlin trauerte, kam Tschelebis Tod den Nationalsozialisten sehr gelegen: Er enthob sie der unangenehmen Pflicht, gegen den prominenten Muslim vorzugehen und sich dadurch bei den Anhängern der Lehre des Propheten unbeliebt zu machen. Die Umstände seines Todes blieben ungeklärt. Auch was mit seiner Leiche geschah und wo sie bestattet wurde, ist nicht bekannt.

Man kann vermuten, dass Mohammed Nafi Tschelebi schon von dern Schergen Hitlers beobachtet wurde. Am 30 Mai 1930 hatte sich, von Tschelebi angeregt, die Deutsche Moslemgemeinde gegründet, später „Deutsch-Muslimische Gesellschaft„. Ihr Ziel war, „das Verständnis für den Islam zu fördern“ und die „Kameradschaft unter den Muslimen in ganz Europa zu pflegen“.

Nicht nur Muslime, sondern auch Andersgläubige – wie Juden und Christen – durften Mitglied werden. Die Nazis hielten diese Organisation zeitweilig für einen „Zufluchtsort für Kurfürstendammjuden„, reiche Deutsche mosaischen Glaubens, die im vornehmen Westend lebten. Auch der kosmopolitische Zuschnitt des Vereins war den Nationalsozialisten suspekt. Bei einigen Mitgliedern witterten sie „bolschewistische Gedanlen.“

Erst mit Mohammed Nafi Tschelebi war ein frischer politischer Wind durch die islamische Gemeinde Berlins gezogen. Eine Gruppe arabischer und nationalistischer Studenten im Tschelebi hatte 1927 die Führung übernommen. Ihr autokratischer Leite, der Inder Abdel Jabbar Kheiri, wurde abgesetzt. Tschelebi übernahm auch den Vorsitz der muslimischen Studentenvereinigungen „Islamia“ und „El-Arabyia“.

Im selben Jahr gründete Tschelebi das „Islam-Institut“* im Humboldt-Haus in der Fasanenstrasse (heute: Literaturhaus) als Gegenpol zu der traditionell mehr konservativen und unpolitischen Islamischen Gemeinde. Das Institut sollte die „Entfremdung zwischen Europa und der islamischen Welt“ überwinden helfen. Seine Gründer verstanden sich als „ehrliche Makler“ in völkerverbindender Mission. Auch bei der Gründung des Islamischen Weltkongresses 1932 in Berlin sass Tschelebi im Vorstand.

Nach Tschelebis Tod führten das Islam-Institut und die Deutsch-Muslimische Gesellschaft nur noch ein Schattendasein. Seine Nachfolger verstrickten sich in endlose Intrigen und Profilierungskämpfe. Das völkerverbindende Motto und der Gedanke der Verständigung zwischen den drei grossen Buchreligionen wurde zu den Akten gelegt.

Dabei mischten die Nazis wenig später kräftig mit. Die deutsche Wehrmacht marschierte 1941 in Richtung Ägypten, und im Irak putschte eine anti-britische Offiziersclique. Die Nationalsozialisten definierten ihre Interessen im Nahen Osten neu. Nach der Eroberung Nordafrikas sollte das britische Mandatsgebiet Palästina von zwei Seiten in die Zange genommen werden. Deutsche Truppen sollten über den Kaukasus vorstossen und im Irak eine Marionettenregierung etablieren.

Der ägyptische Journalist Kamal Eldin Galal gründete am 21.9.41 im Restaurant Berliner Kindl am Kurfürstendamm das „Islamische Zentral-Institut e. V.“ – unter wohlwollender Billigung des Auswärtigen Amtes, das sich eine Propagandawirkung in der arabischen Welt versprach. Die meisten Mitarbeiter des neugegründeten Instituts arbeiteten auch als Journalisten für das Amt, Galal unter dem Decknamen Baschir Sufian.

SS Mullahschule

Im Juni marschierten die Engländer in den Irak ein. Einer der Drahtzieher des Putsches war Amin El-Husseini gewesen, ein fanatischer Antisemit und Mufti von Jerusalem. El-Husseini hatte seine Finger in mehrere Aufständen arabischer Nationalisten in Palästina gehabt und stand auf der englischen Fahndungsliste ganz oben. Der Gesuchte floh über Teheran und Italien nach Berlin.

Dort traf der Mufti am 6.11.41 ein, nannte sich fortan „Grossmufti von Palästina“ und verlangte gleich, dass ihm „eine grössere Judenwohnung“ zur Verfügung gestellt werden sollte. Das geschah – Adresse: Goethestrasse 27 in Zehlendorf. Bald darauf wurde er von Hitler persönlich empfangen.

Amin el-Husseini gelang es in kurzer Zeit, sowohl das „Islamische Zentralinstitut“ als auch die Islamische Gemeinde zu instrumentalisieren und alle seine Gegenspieler kaltzustellen. Bei der Einweihung des Instituts im Prinz-Albrecht-Palais, dem „Haus der Flieger“, wurde der Mufti von der Islamischen Gemeinde als „Führer der arabischen Welt“ begeistert empfangen. In seiner antisemitischen Hetzrede behauptete er unwidersprochen, die Juden seien die „erbittersten Feinde“ der Moslems und seit jeher ein „zersetzendes Element“. „Das Weltjudentum“ hätte den Krieg entfesselt.

In den letzten Kriegsjahren intervenierte el-Husseini von Berlin aus bei diversen Behörden, um zu verhindern, dass osteuropäische Juden auswandern konnten. Adolf Eichmann hatte Mai 1943 den Briten vorgeschlagen, 5000 jüdische Kinder aus Bulgarien nach Palästina emigrieren zu lassen, im Austausch gegen die Freilassung internierter Deutscher im Ausland. Der Mufti protestierte bei der SS – erfolgreich. Die Kinder wurden stattdessen nach Polen geschickt, in den sicheren Tod. Ein deutscher Beamter protokollierte, dass der Mufti die Juden „am liebsten alle umgebracht“ sähe.

Amin el-Husseini | Bosnische Freiwillige

Der Großmufti von Jerusalem bei den bosnischen Freiwilligen der Waffen-SS. Der Großmufti schreitet die Front mit Hitlergruß ab. Credits: Wikipedia | Bundesarchiv

1944 reiste el-Husseini mehrfach nach Bosnien, wo er im Auftrag der SS muslimische Regimenter rekrutierte. Die bosniakische „Waffen-Gebirgs-Division-SS Handschar“ erfreute sich des Wohlwollens Heinrich Himmlers, der sich um die religiöse Erziehung kümmerte. In Dresden wurde eine Mullah-Schule der SS eingerichtet. Himmler schwärmte von der „weltanschaulichen Verbundenheit“ zwischen dem Nationalsozialimus und dem Islam.

Bei Kriegsende floh Amin el-Husseini in die Schweiz. Von Frankreich aus gelangt er nach Kairo, dann in den Libanon. Obwohl Jugoslawien ihn als Kriegsverbrecher ausgeliefert sehen wollte, ließen ihn die Alliierten laufen: Sie hofften, sich seiner in Palästina bedienen zu können.

Der Mufti genoss die Unterstützung der Arabischen Liga und finanzierte mit dem von den Nazis erhaltenen Geld die sogenannte Arab Liberation Army, die die Juden in Palästina terrorisierte. 1949 rief das Arab Higher Comittee, eine einflussreiche Gruppe palästinensischer Notablen, el-Husseini zum Präsidenten einer Gesamt-Palästinensischen Regierung im Gaza-Streifen aus. 1951 wurde der jordanische König Abdullah ermordet. Die Täter gehörten zu einer Geheimorganisation, die der Grossmufti 1948 gegründet hatte, um „Palästina vor den Zionisten zu schützen“. Einer der zum Tode verurteilten Verschwörer, Dr. Mussa Abdullah el-Husseini, war ein Vetter des Muftis.

Im selben Jahr immatrikulierte sich ein weiterer Verwandter El-Husseinis an der Universität Kairo: Rahman Abdul Rauf el-Qudwa el-Husseini. Der Student hielt es für ratsam, seinen genauen Namen zu verschweigen, um sich von der kompromisslosen und fanatisch antisemitischen Politik des Grossmuftis zu distanzieren. Er nannte sich später Yassir Arafat.
_______________________________________

* Das damalige „Islam-Institut“ hat nichts mit dem Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland zu tun, obwohl dieses immer wieder – historisch falsch – eine Kontinuität behauptet.

Literatur: Kurt Gensicke: Der Mufti von Jerusalem und die Nationalsozialisten: Eine politische Biographie Amin el-Husseinis, 1988

Die Akte Bernd Lammel – Teil 3

stasi

Foto: Bernd Lammel (links) vor einem der Fotos, das er aus der DDR in den Westen geschmuggelt hatte. Das Foto ist Teil der Ausstellung „25 years of the Fall of the Berlin Wall“ an der Bornholmer Brücke. „I took the photograph in the middle of the display, showing East German police attacking peaceful demonstrators on Schönhauser Alle on October 7th [1989].“

Credits: Bernd | Betty Lammel. Die Idee ist recht abwegig, dass die Stasi Fotos ihrer eigenen Knüppeleinsätze gegen friedliche Bürger durch einen „Reisekader“ ins feindliche Ausland hätte schmuggeln lassen. Aber offenbar ist nichts zu absurd, als dass es der RBB nicht verbreiten würde.

Reisekader, Agenten und Stasi-Experten

Wer denkt, es ginge bei dem Thema darum, Missstände aufzuklären oder um journalistische Glaubwürdigkeit, der irrt. Am 03.11. veröffentlichte der „Mediendienst“ kress.de „eine Analyse von Helmut Müller-Enbergs“ zu den Akten des IM „Michael“. Zu meinem Erstaunen war diese „Analyse“ wortgleich mit den Antworten auf meine Fragen zu den Stasi-Akten über Bernd Lammel, die der Stasi-Experte mir schon im Oktober per E-Mail gegeben hatte. Müller-Engbers schrieb mir dazu, er habe „mangels Zeit“ die Antworten an mich einfach an jemand anderes weitergeleitet, „ohne zu ahnen, dass es so abgedruckt wird. Im übrigen fragte nicht kress an, sondern ein Journalist. Komische Welt.“

Wohl wahr. Auf Kress.de waren in den letzten Wochen zahlreiche Artikel publiziert worden, die im Kern die These ventilierten, dass Lammel als Journalist untragbar sei und als Vorsitzender des DJV Berlin zurücktreten müsse. Ein derartiger Verdacht – andere bespitzelt zu haben, wie ihn der RBB und als Trittbrettfahrer auch kress.de publizierten, kann die berufliche Existenz vernichten, wiegt also schwer, wenn er sich bewahrheitete.

Man sollte wissen, dass kress.de zum Verlag Johann Oberauer GmbH gehört, der zahlreiche „Journalistenfachzeitschriften“ herausgibt, somit in Konkurrenz zum unabhängigen Medienmagazin Nitro steht, für das Bernd Lammel arbeitet (und bei dem ich Chefredakteur war). Der Verlag Oberauer hatte 2011 die Website journalistenpreise.de übernommen; für dessen Eigentümer Bülend Ürük wurde eine Position „Chefredakteur Online“ im Oberauer-Verlag geschaffen. Ürük, der als Autor des oben zitierten Artikels firmiert, „ist Referent und Dozent zu verschiedenen journalistischen und gesellschaftsrelevanten Themen, unter anderem an Universitäten in St. Petersburg und in Istanbul.“

Wie in „Die Akte Bernd Lammel Teil 2 erwähnt, führte das Ministerium für Staatssicherheit Bernd Lammel als „IM Michael“, der wusste davon aber gar nichts. Lammel wurde „abgeschöpft“, ahnte manchmal, mit welchen Leuten er zu tun hatte, er versuchte aber, wie ihm unter anderem seine Freunde im Westen geraten hatten, Sand ins Getriebe zu werfen, ohne sich selbst zu gefährden. Dafür gibt es Zeugen, aber um die herauszufinden, hätten die Klartext-Autorin Gabi Probst und der RBB recherchieren müssen, was bei einer „Skandal“-orientieren Berichterstattung natürlich nicht erwünscht ist.

Die Stasi kam nicht immer offen, um Lammel zu bedrängen, sondern tauchte auch als „Zoll“ auf oder versuchte, ihn auf andere Weise zu behelligen. Einmal stand ein Mann vor seiner Wohnungstür, der sich als „Kriminalbeamter“ ausgab. Dieser wurde aber nicht hineingelassen. Lammel besaß schon damals einen Anrufbeantworter, größtenteils Marke Eigenbau, und rief anschließend bei der Volkspolizei an: Es sei jemand bei ihm gewesen, der sich als Kriminalpolist ausgegeben habe, vermutlich, um seine Wohnungs auszuspionieren – vielleicht ein potenzieller Dieb? Es wurde sogar eine Strafanzeige aufgenommen. Die Gespräche hat Lammel aufgenommen und Freunden aus dem Westen unter Gelächter vorgespielt.

Olaf B. ist einer dieser Freunde aus dem Westen und kann sich daran noch erinnern. Lammel sei „immer auf Distanz“ gewesen zu den staatlichen Organen, auch bei der Nennung von Freunden. B. arbeitete damals als Grafiker für eine Werbeagentur und suchte ein Foto für ein Plattencover der DDR-Band Karat. Er reiste oft in die DDR und freundete sich mit Lammel an. In den Stasi-Akten taucht B. – ohne Nennung seines Namens – unter der Kategorie „Blickfeldarbeit“* als „Material ‚Karat'“ und „Westberliner Grafiker“ auf. Lammel hat aber – das geht auch aus den Akten hervor – in Gegenwart von Leuten, die er im Verdacht hatte, für die Stasi zu arbeiten, B. nie erwähnt.

stasi

Im engeren Umfeld Lammels spionierte ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, der heute namentlich genannt werden könnte, der dem MfS berichtete, dass Lammel „privat“ Kontakt „zu einem Kripo-Angehörigen“ im Westteil Berlins aufgenommen hatte. Das geht aus einer Zusammenstellung des „Referat A I“** hervor. Die wenigen und auch nur kurzen Reisen Lammels in den Westen waren natürlich für die Stasi sehr interessant.

Der RBB macht daraus: „Eingesetzt wurde er demnach in der Hauptabteilung II, also der Spionageabwehr. Lammel war ein so genannter Reisekader und durfte somit in den Westen reisen. Für Roland Jahn, den Bundesbeautragten [sic] für die Stasiunterlagen, ist das kein Einzelfall: ‚Es sind ganz bewusst Reisekader eingesetzt worden, um Informationen aus dem Westen für die Stasi zu sammeln.'“ Dumm für den RBB ist, dass der Begriff „Reisekader“ in der DDR ganz anders verwendet wurde: Alle Bürger, die in das „Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet“ (NSW) reisen durften, waren „Reisekader“, auch LKW-Fahrer der DDR-Spedition Deutrans oder Kinder und Jugendliche. Mit Spionage hat das nicht automatisch etwas zu tun.

Das weiß natürlich auch Roland Jahn. Der von ihm zitierte Satz ist an sich richtig, suggeriert aber etwas, was man so nicht behaupten kann. Man sollte vielmehr einen Satz beherzigen, den das Magazin Rolling Stone zitiert:

„Dass die Akten heute alle offen sind, hat eine Kehrseite“, sagt Jens Gieseke, Historiker und Stasi-Experte. ‚Beim Lesen übernimmt man automatisch die Perspektive der Stasi auf ihre Informanten. Nicht überall, wo IM draufsteht, ist auch IM drin.‘

Genau das ist aber unter den „Stasi-Experten“ strittig. Und deshalb kann man sich – je nach weltanschaulichem Bedarf – vorab zum gewünschten Statement die passenden „Experten“ heraussuchen, mit oder ohne Schaum vor dem Mund.

Der von kress.de zum Fall Lammel zitierte Hubertus Knabe ist wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Knabe gilt als Vertreter des „totalitaristischen Diktaturbegriffs“, wie Christoph Seils in der „Zeit“ 2006 formulierte. Verkürzt: rot gleich braun. Für den Deutschlandfunk rezensierte zum Beispiel Günter Hellmich Knabes Buch „Honeckers Erben – Die Wahrheit über die LINKE“:
Die Perspektive Knabes ist allerdings nicht die des halbwegs objektiven Historikers, sondern die eines höchst emotional engagierten Anwalts der Stasi-Opfer, die – was für sie auch subjektiv verständlich ist -, in der ganzen SED nichts anderes sehen können als eine Verbrecherbande.

In einer Rezensionsnotiz auf perlentaucher.de zur FAZ heißt es: „Die Wahrheit über die Linkspartei, die der Autor [Hubertus Knabe] hier präsentiert, ist laut Küpper viel zu reaktionär, wie sie schreibt: die IM-Akte wird zum einzigen Werturteil, egal wie sich die Menschen seitdem zu ihrer Vergangenheit verhalten haben und was sie seitdem geleistet haben.“

Wer Knabe also wählt, weiß also, was er bekommt. Knabe hält Bernd Lammel laut kress.de für „unhaltbar“. Meine Anfrage, ob er die Akten Lammels habe einsehen können, ob man ihm nur davon erzählt habe und ob er auch die Betroffenenakten Lammels habe einsehen können, die kress.de nicht vorlagen, ließ Knabe unbeantwortet. (Stand: 06.11.)

In „Die Akte Lammel“ Teil 4: Nur Schlamperei und Dummheit? Oder eine Verschwörung?

* Stephan Wolf: Hauptabteilung I: NVA und Grenztruppen (Handbuch).Hg. BStU. Berlin 2005
** „Das Referat AI war ein sogenanntes Dienstleistungsreferat und befasste sich mit der Auswertung der operativ gewonnen Informationen (Informationsstatistik), führte die IM-Kartei der Abteilung XV und leistete Recherchedienste (zum Beispiel das Ausfindigmachen von Adressen im „Operationsgebiet“).“ (Quelle: BStU – Außenstelle Neubrandenburg, Aktenverzeichnis zur Abteilung XV (Aufklärung) in der Bezirksverwaltung Neubrandenburg des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR)

Die Akte Bernd Lammel Teil 1
Die Akte Bernd Lammel Teil 2

← ltere EinträgeNächste Einträge →