Gestört

Tagesspiegel: „Schwere Defizite bei Berlins künftigen Erstklässlern – Rund ein Drittel der Fünfjährigen hat vielfältige Störungen – auch dann, wenn sie eine Kita besucht haben.

„Grenzwertige“ oder „auffällige“ Befunde zeigt ein Fünftel der deutschstämmigen Kinder und der Kinder aus westlichen Industriestaaten, ein Drittel der Kinder aus Osteuropa, 36 Prozent der türkischstämmigen und über 40 Prozent der arabischstämmigen Fünfjährigen.“

Für politische Pappnasen ist das natürlich ein gefundenes Fressen. Ich kann mir aber das Ergebnis nicht wirklich erklären. Für die Zukunft sehe ich da schwarz.

Chicas y chicos

chicas

Puebla, Mexiko, 1979

Mit Verlaub, Herr Thierse (SPD)

Wolfgang Thierse (SPD) behauptet im Interview: „Aber es gab radikalisierte Elemente in der Arbeiterschaft. Die waren nun mit Waffengewalt zu besiegen. Das bleibt ein schmerzlicher Vorgang, auch im Rückblick, aber man kann doch wissen, dass der Weg, der dann eingeschlagen wurde, der bessere war…“

Nein, war er nicht. Ich muss jetzt an ein bestimmtes Zitat denken, das mit „mit Verlaub“ beginnt. Aus Wut und Zorn muss ich hier ein Posting aus dem Jahr 2017 wiederholen. Ich bin bekanntlich auch ein radikalisiertes Element.

Paul Weniger

Der Bergmann Paul Weniger aus Altenbögge-Bönen starb im Kampf gegen die Kapp-Putschisten, die im Frühjahr 1920 die Weimarer Republik durch eine Militärdiktatur ersetzen wollten. Paul Weniger war Mitglied der KPD und Verhandlungsführer der Roten Ruhr-Armee in Pelkum. Er wurde am 3. April 1920 im Hof des Polizeigefängnisses von Hamm erschossen. Er hinterließ eine Frau und zwei Kinder. Er war 31 Jahre alt.

Die Rote Ruhr-Armee wurde vor allem von Mitgliedern der anarchosyndikalistischen Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) und der Unabhängigen Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) gebildet.

Bönen (dort war mein Großvater 40 Jahre lang Bergmann) ist der einzige Ort im Ruhrgebiet, in dem eine Strasse nach eine Arbeiter benannt wurde, der von der Reichswehr ermordet wurde.

Klassisch

klassen

Das hiesige Publikum zweifelte jüngst daran, ob es noch Klassen im Marxschen Sinn bzw. das Proletariat gebe. Darüber lese ich gerade die Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung Nr. 116, die sich speziell diesem Thema widmet.

Ich saß im Café Zuckerbaby, trank Milchkaffe und aß Käsekuchen, der dort Cheesecake genannt wird, vermutlich weil US-Amerikaner sonst nicht wissen würden, was sie da vor sich haben.

Minuspunkt im Café Zuckerbaby: Ein Haufen unerzogener und bläkender Kinder aus den neuen Mittelschichten, deren Eltern so aussehen, als hätten sie veganen glutenfreien Sex.

Gegenwelt zur Parallelgesellschaft

tuba sarica

„Die Sommerferien verbrachten wir typischerweise immer in der Türkei. Doch anders als die meisten deutschtürkischen Familien hielten wir uns den Großteil dieser Zeit nicht bei der Verwandtschaft in der Provinz oder in Istanbul auf. Stattdessen kauften sich unsere Eltern ein Ferienhaus an der Westküste, fernab von Istanbul und fernab von muslimischen Verpflichtungen. Dieses Haus symbolisierte uns als autonome Familie. Es schrie der Verwandtschaft ins Gesicht: Wir, Vater, Mutter, Kinder, sind unsere eigene kleine Familie. Unser Familienleben ist nicht an eures gekoppelt. Ihr kontrolliert es nicht. Touristisch weitgehend unerschlossen, ist die Gegend nahe Izmir bekannt dafür, im Gegensatz zu anderen Teilen der Türkei besonders fortschrittlich zu sein. Hier machten wir auch Urlaub von der Verwandtschaft in Deutschland, die ich als hinterwäldlerisch empfand und die trotz der Grenzen, die meine Eltern ihr setzten, Druck auf unsere Familie ausübte. Hier konnten wir besonders ausgelassen und glücklich sein, den ganzen Tag in Badesachen verbringen, Burger essen, das türkische Bier Efes trinken, abends ausgehen – alles ohne die verurteilenden Blicke von konservativen Muslimen, denen man unter vielen Türken und Deutschtürken begegnet. Hier waren wir befreit von dem Gefühl, wir müssten irgendetwas verdecken oder verstecken. Sei es ein Körperteil oder der Wein im Schrank. Die Nachbarn in der Ferienhausanlage waren ebenfalls sehr inspirierend. Sie kamen aus weniger konservativen Haushalten aus Istanbul und Ankara und nahmen sich hier eine Auszeit vom Leben in den Metropolen. Zum Glück gab es keine deutschtürkischen Familien, keine herumschreienden Kinder und Eltern also. Die Kinder der vornehmen türkischen Nachbarn waren auffällig leise. Das hier war unsere kleine Gegenwelt zur Parallelgesellschaft in Deutschland.“ (Tuba Sarica: Ihr Scheinheiligen!: Doppelmoral und falsche Toleranz – Die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen.

Für mich war das Buch nichts Neues, ist aber lesenswert.

Lügenpresse, revisited [Update]

Der Spiegel entlarvt einen eigenen Redakteur als Betrüger: „Ein Reporter des SPIEGEL hat in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert. Durch interne Hinweise und Recherchen erhärtete sich in den vergangenen Tagen der Verdacht gegen Claas Relotius – der inzwischen Fälschungen zugegeben und das Haus verlassen hat.“

Relotius hat auch für andere Medien im In- und Ausland gearbeitet. Er publizierte in seiner Zeit als freier Journalist unter anderem in „Cicero“, der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“, der „Financial Times Deutschland“, der „taz“, der „Welt“, im „SZ-Magazin“, in der „Weltwoche“, auf „Zeit Online“ und in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.

Schadenfreude ist nicht angebracht. Wie sieht es denn in anderen Medien aus, die ihren Schreiberlingen nicht so genau auf die Finger gucken?

Die kruden Potpourris, die wie meisterhafte Reportagen aussahen, machten ihn zu einem der erfolgreichsten Journalisten dieser Jahre. Sie haben Claas Relotius vier Deutsche Reporterpreise eingetragen, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis. Er wurde zum CNN-„Journalist of the Year“ gekürt, er wurde geehrt mit dem Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize, er landete auf der Forbes-Liste der „30 under 30 – Europe: Media“ – und man fragt sich, wie er die Elogen der Laudatoren ertragen konnte, ohne vor Scham aus dem Saal zu laufen.

Unfassbar. Ich weiß schon, warum ich Preise für Journalisten für Bullshit halte.

[Update] „Letztlich steckt hinter dem „Fall Relotius“ aber ein viel grundsätzlicheres Problem. Ausgezeichnet und gedruckt werden hauptsächlich Reportagen, die kompliziertere politische Zusammenhänge und Szenarien auf rührselige und psychologisierende Einzelgeschichten runterbrechen. Dann sind plötzlich nicht mehr die jahrelange Dürre in Syrien, ökonomische Fehlentwicklungen in Folge der Weltfinanzkrise, geopolitische Fragen und Interessen sowie damit verbundene ausländische Interventionen für den Bürgerkrieg in Syrien verantwortlich, sondern ein Jugendlicher, der eine Parole an die Wand schreibt und ein blutsaufender Diktator, der so ist, weil er eben gerne Blut säuft. Und genau diese Form von Journalismus hat Relotius bedient. Wenn der jetzt verschwindet, wird sich an diesem grundsätzlichen Webfehler des deutschen Journalismus nichts ändern. Im nächsten Jahr hat dann halt ein anderer das verlogene Rührstück geschrieben, dem der Preis verliehen wird.“ (Christian Y. Schmidt)

„Jugendwiderstand“ [Update]

Die Pseudo-Maoisten des so genannten „Jugendwiderstands“ sind „Brandenburger Gymnasiasten aus dem südlichen Berliner Speckgürtel.“

Sehr gut recherchierter Artikel im Tagesspiegel über die Neuköllner Antisemiten-Bande: „Der „Jugendwiderstand“ attackiert systematisch Andersdenkende – am liebsten ebenfalls Linke. Nun kommt raus: Ihr Wortführer ist ein Kreuzberger Kindergärtner“.

Taktikka, der Wortführer der Schlägertruppe, heißt im wahren Leben Patrick. Von Beruf ist der 27-Jährige Kindergärtner. Seine Kita liegt in Kreuzberg in der Nähe vom Lausitzer Platz. Kitaleitung und Trägerverein wollen sich nicht äußern. Es heißt, mit den Kindern gehe Patrick liebevoll um. Manchen Eltern sei sein Engagement beim Jugendwiderstand durchaus bekannt. Er habe ihnen allerdings versichert, dass die Gerüchte über seine Gruppe nichts weiter als bösartige Lügen seien.

Ausführlich und mehr auf Friedensdemowatch.de.

[Update] Ich habe versucht, die Stellungnahme der Judäischen Befreiungsfront „SoL“ (Sozialistische Linke) zu lesen, ich schaffe es einfach nicht…. Ich musste immer an ein Zitat Mao Zedongs denken: „Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen.“

Streisand-Effekt, reloaded

Für diesen Text wurde Hamed Abdel-Samad von Facebook gesperrt.

„Ihr Feiglinge! Viele junge Muslime/Muslimas leben im Westen und genießen die Vorzüge der Freiheit, setzen sich sich aber für diese Freiheit kaum ein. Viele sind gut gebildet und haben einen guten Job, bleiben aber in den Zwängen der Religion und der eigenen Community verhaftet. Ihre Bildung und Engagement stellen sie selten in den Dienst der Aufklärung und des Gemeinwesens, sondern eher in den Dienst des Islam oder der Parallelgesellschaften. Sie kritisieren die rechte Ideologie, solange sie von Bio-Deutschen kommt, aber wir hören von ihnen kaum Kritik gegen die reaktionären Islamverbände, die nationalistischen Grauen Wölfe oder die patriarchalischen Strukturen in den eigenen Familien. Im Gegenteil, viele von Ihnen sind Krawatten-Islamisten, die Erdogan, die grauen Wölfe und die Muslimbruderschaft unterstützen und das Patriarchat verteidigen. Sie zitieren Kant und Adorno, um die Aufklärung zu relativieren und den Islamismus zu verniedlichen. Sie verlangen Sonderrechte für Muslime in Deutschland, lehnen aber die Minderheitenrechte für Kurden in der Türkei oder für Christen in der arabischen Welt ab. Selbst viele muslimische Intellektuelle und Journalisten sind in diesen Sippen verhaftet und werben ständig um Verständnis für den Islam und die Parallelgesellschaft statt ihre Leute mit Kritik herauszufordern. Selbst wenn diese Kritik manchmal kommt, ist sie oft leise und relativiert sich nach zwei Sätzen, indem die Debatte in Richtung Kampf gegen Islamophobie driftet.

Migrantenkinder der zweiten und dritten Generationen wissen ganz genau, was schief läuft in der Erziehung und in den Communities, und haben selbst oft darunter gelitten, nehmen aber ihre Leute sippenhaft in Schutz wenn Kritik von außen kommt. Statt Selbstkritik zu üben, geben sie den anderen die Schuld für die Misere. Die Frauenhäuser sind voll von entrechteten muslimischen Frauen, aber viele gebildete Muslimas machen lieber Kampagnen für das Kopftuch und den Burkini. Statt sich vom Joch der patriarchalischen Tradition zu emanzipieren, starten sie Initiativen und Projekte, um einen Propheten, der Frauen als Kriegsbeute nahm und ein sechsjähriges Mädchen heiratete, als Vorbild für den modernen Menschen zu rehabilitieren!

Ich sage euch, ihr seid Feiglinge und Heuchler! Ihr seid keine freien mündigen Bürger, sondern Untertanen eurer Religion und eurer Community! Und wenn ihr genauso vehement gegen die Missstände in Euren eigenen Reihen vorgehen würdet, wie gegen Islamkritik, wäre diese Kritik überflüssig! Wenn ihr mehr Mut zeigen würdet statt Opferhaltung, wäre die Gesellschaft reicher. Wenn ihr euch für die Freiheit aller einsetzen würdet, statt nur Sonderbehandlung für euch zu verlangen, wäre viel gewonnen!“

Islamismus und Kollaboration

Telepolis über Islamismus und Kollaboration (2 Teile) – ein bisschen verschwurbelt, aber lesenswert!

„Wenn sich Angehörige der unteren Klassen über die Folgen der Islamisierung beklagen, wird ihnen traditionellerweise ein repli sur soi (Rückzug auf sich selbst) vorgeworfen. Gleichzeitig bleiben ja gerade die meinungsbildenden Mittel- und Oberschichten in den geschützten Quartieren unter sich, wählen sich die guten Schulen für die Kinder aus et cetera. (…)

Der sich als „antirassistisch“ verkaufende Diskurs im frankophonen Europa (hierzu gehören auch Wallonien, Brüssel und die französische Schweiz) hat sich zu einem semitotalitären islamophilen McCarthyismus entwickelt, der auch die Praxis im deutschsprachigen Raum in den Schatten stellt.“

Das ist in Deutschland nicht anders. Aber: Linke Islamkritik ist immer auch Kritik an jeder Religion.

Opium raus aus den Schulen!

Kleine Zeitung (Österreich): „Susanne Wiesinger, Lehrerin an einer Neuen Mittelschule in Wien-Favoriten, erzählt vom Alltag in ihrer Brennpunktschule: von Konflikten mit muslimischen Kindern, vom Schweigen ihrer Vorgesetzten und der Politik.“

„Bis heute scheuen sich viele Lehrer, Kritik am Islam zu üben. Der Grund des Schweigens liegt in einer Verwechslung von Akzeptanz und Toleranz sowie der Sorge, als überfordert und islamophob diffamiert zu werden.“

Ein Grund mehr, warum Religion in Schulen überhaupt nichts zu suchen hat.

Der wilde Fluss

Masparro

[Reprint vom 26.12.2003]

Im Febuar 1998, Venezuela. Der Bus fuhr in der Nacht von Quibor über Acarigua nach Barinas. In der staubigen Provinzstadt – es war Trockenzeit – suchte ich mir ein billiges Hotel direkt am kleinen Busbahnhof. In Barinas gab es nichts von touristischem Interesse: eine kleine Plaza, Geschäfte, deren Inhaber arabischer Herkunft zu sein schienen wie so oft im Westen Venezuelas. Und ein paar Banken. Ich brauchte drei Tage, um meine Dollars in venezolanischen Geld zu tauschen, weil sich die Banken weigerten, das zu tun. Man wird geduldig, wenn man in Schlangen vor südamerikanischen Bankschaltern steht… Ich musste mich erst durchfragen, eine hilfsbereite Dame in einem Reisebüro vermittelte mir eine Frau, die wohl häufig private Geldgeschäfte machte…

In der Region um Barinas wollte ich mir den Fluss Masparro ansehen, der sich aus den Anden in die weiten Ebenen, die Llanos, ergiesst und im Osten in den Apure mündet. Die Konquistadoren blieben damals an den Ausläufern der Berge stecken, viele wurden fieberkrank und starben. Doch wo war der historische „Flecken Moßpaw“ alias Masparro?

Am 16. September 1535 schrieb der deutsche Konquistador Philipp von Hutten: „Zohen über ain grosse Refier [Fluss], Wannawanain genandt, darinnen vns ain Christ ertrunken. Den 2. Tag im Feld. Schickt der Gubernator [Gouverneur von Venezuela, hier: Georg Hohermuth von Speyer] Steffan Martin mit sechtzig zue Fueß vnd zehen Pferden, Weg zu suechen, vnd bliben wir hie ligen. Den 16. embot Steffan Martin dem Gubernator, er wartet sein ain Tagraiß von hinnen inn ainem gueten Flecken mit vil Prouiant, het 26 Indier gefangen. Fertigt der Gubernator viertzig Pferd ab, embot seinem Statthalter, so in Hacke Rigua [Acarigua] lag, er solt mit dem anderen Volck hernachkommen. Zoch er gedachten Flecken, Moßpaw [Masparro] genannt, wurden fast alle Christen krank. wie nun die Indier sahen, das vnser wenig waren, auch fast kranck, vnderstunden sy sich, vns mit Gewallt auß jrem Land zu schlahen. Kamen auff ain Morgen biß in fünff- oder sechstausent Indianer mit Geschray…“

Masparro

Weite Teile der venezolanischen Llanos sind in der Regenzeit überschwemmt. Die historischen Orte Itabana, Moßpaw und Tharobeia, die in den Papieren des Konquistadors Philipp von Hutten erwähnt werden und die auch in meinem Roman Die Konquistadoren Schauplätze des Geschehens sind, können heute nicht mehr exakt lokalisiert werden. Der Masparro war der grösste und in der Regenzeit wohl auch der gefährlichste Fluss der Region. Der auf historischen Karten noch eingezeichnete Ort lag im Dreieck Sabaneta-Barinas-Obispo. Die Konquistadoren unter Hohermuth folgten ungefähr der heutigen Eisenbahnlinie von Guanare über Barinas nach Südwesten und brauchten vier Monate – von März bis Juni 1536 – um Rio Apure, Rio Arauca und den Casanare – im heutigen Kolumbien – zu passieren.

Auf der heutigen Karte des Bundesstaats Barinas sucht sich der Fluss zwischen Sabaneta im Norden und Barinas seinen Weg. Ein Ort Maspara östlich von Barinas, der auf historischen Karten eingezeichnet ist, existiert heute nicht. Die Augenzeugen der Konquista wie Nikolaus Federmann und Philipp von Hutten überlieferten die Namen der Orte nur lautmalerisch. Man kann davon ausgehen, dass die historische Bezeichnung Masparro sowohl den Ort als auch den Fluss oder gar die ganze Region meinte. Eine Karte der heutigen indianischen Völker Venezuelas gibt keine Informationen darüber, ob es sich um ein Wort aus dem Arawak handelt. Vielleicht waren die kriegerischen „Indier“, von denen Hutten berichtete, die Vorfahren der Guahibos, die sich heute in das Grenzgebiet zu Kolumbien zurückgezogen haben.

Masparro

Ich nahm einen klapperigen Lokalbus, meine detaillierte Karte zur Hand und sagte dem Busfahrer, er möge mich an einer Brücke über den Masparro absetzen. Doch der gefährliche und reissende Fluss, in dem um 1536 mehrere Soldaten ertrunken waren, entpuppte sich als harmloses Rinnsal (Fotos oben). In Sabaneta redete ich mit den Taxifahrern, die sich im Zentrum des Dorfes langweilten. Der Älteste von ihnen erbot sich, für sehr wenig Geld mit mir in der Gegend herumzufahren und das Rätsel um den Masparro zu lüften. Wir tuckerten in der glühenden Hitze gemütlich in Richtung der Berge im Westen, und der alte Herr redete unentwegt auf mich ein, erzählte von seinen Kindern in den USA und welche Sorten Fische es im Masparro gebe. Und dann wurde mir klar, warum der Fluss heute keine Gefahr mehr ist: ein Staudamm! Das Wasser donnerte in einem mehrere Meter dicken Strahl in die Tiefe – und das in der Trockenzeit, in der der Fluss extrem wenig Wasser führt. Man kann sich vorstellen, wie es aussehen könnte, wenn es mehrere Monate lang geregnet hat: Die Ebene östlich der Berge – der venezolanischen Anden – verwandelt sich in einen See. Und das erklärt auch, warum die Konquistadoren damals meinten, sie wären am Ufer des indischen „Südmeers“ und die Molukken fast in Reichweite…

Masparro

Die Heilerin und der manipulierende Einfluss

spiegel

Wir hatten hier schon einen Verweis auf Noam Chomskys und Edward S. Hermans Theorie der Medien, die „den manipulativen Einfluss wirtschaftlicher und politischer Interessengruppen auf die Berichterstattung der Massenmedien in Demokratien beschreibt.“

Hier ein aktuelles Beispiel von Spiegel online: „Wie Neuseelands Regierungschefin ihr Land heilen will“.

1. Jacinda Ardern wird fast ausschließlich lachend dargestellt, also von den Medien sympathisch gemacht – ganz im Gegenteil zu Trump, den man nur in ungünstiger Position abgebildet sieht. (By the way: Wie man aussieht, sagt nichts darüber aus, was man macht. Oder?) Ich habe nur eine Ausnahme in einer indischen Zeitung gefunden. (Wie wäre es mit jenem Bild, Spiegle online? Machte das den Artikel kaputt?)

2. Was eine Vertreterin der herrschenden Klasse ankündigt zu tun, ist irrelevant. „…will zeigen, wie moderne Sozialdemokratie aussehen kann.“ (Ach ja? Es gibt keine herrschende Klasse, raunt man in den Mainstream-Medien, und wenn es sie gäbe, dürfte man sie nicht so nennen?) Meiner Meinung nach ist es mitnichten die Aufgabe von Journalisten, sich zum Sprachrohr der Politik zu machen. Dafür gibt es Pressesprecher und andere Lautsprecher des Kapitals.

„Nun hat sie es sich zum Ziel gemacht, das Land umzukrempeln“. Das steht vermutlich genau so vage im Parteiprogramm. Als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, hatte er es sich zum Ziel gemacht, das Land umzukrempeln etcetera. Ist das eine Information, die mir nützt, die mich aufklärt, die mich informiert, die Hintergründe erhellt? Nein. Es ist schlicht Bullshit und Gefasel. „Nun hat sie es sich zum Ziel gemacht, das Land nicht umzukrempeln.“ Wäre ja viel lustiger, mit so eine Aussage gewählt zu werden. Keine Experimente oder so.

3. „Für ihre erste Woche kündigte sie an, sie wolle sich in den kommenden Tagen um Themen kümmern, die ‚mir sehr viel bedeuten‘. Herrje. Wie langweilig ist das denn? Ist auch das Gegenteil möglich? Der Satz erinnert mich an Wolf Schneiders Deutsch für Profis und seine Tipps: Was selbstverständlich ist, sollte nicht erwähnt werden. „Bauernverband ist dagegen, die Subventionen für die Landwirtschaft zu streichen.“ Wer hätte das gedacht?! Ausserdem ist das Zitat „mir sehr viel bedeutet“ total unsinnig. Zitate sind dazu da, etwas authentisch zu machen (was diese vier Wörter nicht tun) oder die Ideen des Zitierten exakt zu erläutern, weil es besser nicht geht. (Ich vermute, dass man in Neuseeland Englisch redet; Ardern hat das eh nicht wörtlich gesagt.)

Was soll das also? Ich spüre den suggestiven Holzhammer: Die muss mir unbedingt sympathisch gemacht werden. Finde die Charaktermaske der neuseeländischen herrschenden Klassen nett, im Gegensatz zu Trump. Widerstand ist zwecklos.

4. „Der Kampf gegen Kinderarmut ist ein persönliches Anliegen der Premierministerin.“ Wäre ja noch schöner, wenn es ein unpersönliches Anliegen wäre oder die Dame sagte: Kinderarmut geht mir am Arsch vorbei! Ist das Journalismus? Nein, es ist wiederholtes Geschwurbel und langweilig zudem.

By the way: Spannend war für mich nur, darüber informiert zu werden, wie der Kapitalismus in Neuseeland funktioniert – Obdachlosigkeit, Armut: wie überall, nur mehr. Aber warum gibt es dort so viele Gewalt gegen Frauen? Das Land ist doch schön, wie man aus unzähligen Hochglanzbroschüren und den jubilierenden deutschen Medien weiß. Vielleicht sollte man Neuseeland einfach mal boykottieren, genauso wie die Türkei, bis sich die Männer gebessert haben?! Nein? Geht nicht? Oder liegt es an den Schafen?

5. „Bis 2021 soll der Mindestlohn auf 20 Dollar steigen.“ Das kennen wir von der hiesigen SPD. Ich wüsste aber gern, wie viele Ausnahmen es gibt? Was ist mit Teilzeitarbeit? Der Mindestlohn wird hier bekanntlich von vielen Firmen umgangen. Man müsste auch den Lebensstandard in Neuseeland kennen: Sind 20 Dollar wie 10 Euro hier oder nur fünf oder 20? Ich fühle mich wieder nicht hinreichend informiert.

6. „Im neuen Haushaltsplan kommen vor allem Gesundheit und Bildung gut weg.“ Schon klar, aber viel zu vage. (Ein Link wäre hilfreich gewesen: Was ein „Wānanga“ ist, wusste ich bis eben nicht.) „Gut wegkommen“ ist ohne Details (was vorher war und jetzt besser oder schlechter werden soll) keine journalistische Aussage.

7. „Dann hätte sie insgesamt sechs Jahre Zeit, um den Sozialstaat nach ihren Vorstellungen umzugestalten.“ Große Frauen machen die Geschichte. Wer baute das siebentorige Wellington? Hat sie nicht wenigstens eine Köchin bei sich?

K‘UYUY

Amantani

Das Foto habe ich 1984 auf Amantani gemacht, einer peruanischen Insel im Titicaca-See. Dort habe ich eine Woche bei Quechua-Bauern verbracht, die schlechter Spanisch sprachen als ich. Hier webt meine Wirtin etwas für ihre Kinder.

Die Raramuri (Tarahumara), Mennoniten und der Chepe

CuauhtémocCuauhtémocCuauhtémocCuauhtémoctarahumaratarahumarachepechepechepebarranca del Cobrebarranca del Cobre

Dieser Artikel erschien auf Burks.de am 25.05.2015. Einige Links wurden aktualisiert.

Manchmal ärgere ich mich darüber, dass ich meine Reisen in den siebziger und achtziger Jahren nicht als Buch oder journalistisch ausgeschlachtet habe. Vor kurzem las ich bei Spiegel online eine Reportage über eine Zugreise durch den wilden Norden Mexikos. Alles kommt dort vor, worüber ich auch hätte berichten können: Die deutschsprachigen Mennoniten, die karg-wilde Berglandschaft, eine der größten Schluchten der Welt, die aber kaum jemand kennt, und die aztekischen Tarahumara.

Mit dem Zug „Chepe“ von Chihuahua nach Los Mochis bin ich 1979 und 1982 gefahren, vorbei an der „Kupferschlucht“ (Barranca del Cobre), die vier Mal so groß ist wie der wesentlich berühmtere Gran Canyon in den USA. Damals gab es noch keine komfortablen Waggons, der Chepe war mehr ein Güterzug mit einigen einfachen Waggons für Reisende.

Ich war einige Zeit in dem Ort Cuauhtémoc, der nach dem letzten Herrscher der Azteken benannt ist, und wohnte bei den dortigen strenggläubigen Mennoniten, die mich als angeblichen „Lutheraner“ als Gast akzeptieren. Die Bauern liehen mir einen Pickup, mit dem ich die Gegend erkundete (Foto oben); mit Pferd und Wagen, wie die meisten der Mennoniten sich fortbewegen, hätte ich nicht wirklich umgehen können. Rund um den Ort in den Bergen findet man zahlreiche Höhlen, die vermutlich schon seit Jahrtausenden von Menschen benutzt wurden.

In Cuauhtémoc sah ich auch die ersten Tarahumara, eines der geheimnisvollsten indianischen Völker Amerikas, nicht nur wegen ihrer Fähigkeit, unglaublich lange Strecken laufen zu können, Männer wie Frauen gleichermaßen.

Ich hatte extra vor der Reise einige Worte ihrer Sprache gelernt, aber es ist sehr kompliziert, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ein Tarahumara sagt oft zu einem anderen nicht einfach „Hallo“ oder „guten Tag“, sondern stellt sich seitlich hin, dass die Schulter zum anderen zeigt – der andere macht es auch so. Dann tauscht man die sinngemäßge Grußformel aus „Ich geh grad so zufällig hier vorbei und führe nichts Böses im Schilde“. Die Tarahumara oder Raramuri („die Menschen“), wie sie sich selbst nennen, sind unglaublich stolz und selbstbewusst und können sehr aggressiv sein, auch untereinander, und der Gruß soll wohl dokumentieren, dass man friedlich gestimmt ist. Über mich haben sie nur gegrinst, obwohl sie mich wohl verstanden, weil sie den Gruß erwiderten – aber mehr nicht.

Die Tarahumara laufen übrigens in den Bergen immer hintereinander im Gänsemarsch, auch wenn Platz genug ist (vgl. das 5. Foto von oben). Manchmal verdingen sie sich als Tagelöhner, aber nur solange, wie sie wollen. An Verträge halten sie sich nicht. Leider scheint die Drogenmanfia einige von ihnen heute als Kuriere zu missbrauchen. Ihre Heimat ist auch durch Abrodung durch holzverarbeitende Konzerne (Kapitalismus, Profit usw, wie bekannt) bedroht und auch durch die von der Regierung Mexikos erzwungene Hispanisierung von Verwaltung und Sprache.

tarahumara

Text aus: Claus Deimel : „Tarahumara: Indianer im Norden Mexikos“ (1980) – das beste und leider fast das einzige ernst zu nehmende wissenschaftliche Buch über die Tarahumara.

Die Raramuri sind neben den Seminolen Floridas das einzige Volk Nordamerikas, das nie bezwungen wurde, die Tarahumara haben es sogar geschafft, die Missionierungsversuche sowohl der Jesuiten als auch aktuell der Mennoniten weitgehend abzuwehren. Das ist eine Leistung, die man nur bewundern kann. Die Jesuiten wurden im 17. Jahrhundert erst ignoriert und dann verhauen und fortgejagt oder gar getötet. Wenn ihnen etwas befohlen werde, klagte der Jesuitenpater Neumann 1686, würde die Indianer es extra nicht tun oder genau das Gegenteil. Sympathische Leute also und genau das Gegenteil vom deutschen Nationalcharakter. Rauschdrogen nehmen sie auch sehr gern, eine Peyote-Art, die sie hicoli nennen. Deimel schreibt:
Mit der Gutmütigkeit der Gemeinschaft kann der einzelne nicht lange rechnen. Man erwartet, dass jeder seine Arbeit allein ausführt. Spontane oder unbezahlte Hilfeleistungen sind nicht üblich und gelten gegebenenfalls als unhöflich, weil sie zu ungewollten Gegenleistungen zwingen. Auch Alte tragen schwerste Lasten, ohne daß dabeistehende Jugendliche ihnen zu Hilfe kommen. (…) Mann und Frau behalten jeder das Verfügungsrecht über ihr mitgebrachtes Erbe. Handel unter den Tarahumaras dauert deshalb so lange, weil beispielsweise ein Mann in der Regel nichts aus dem gemeinsamen Besitz verkauft, ohne seine Frau vorher zu fragen.

Man sieht, welche Vorteile es hat, wenn das Christentum niemals viel zu melden hatte. Die Tarahumaras sind dafür bekannt, dass sie ihre Kinder nie schlagen. Häuptlinge gibt es auch nicht, sie kennen noch nicht einmal ein Wort dafür: „Von einem gebietenden Herrn haben die Tarahumaras keinen Begriff“, schreibt ein katholischer Pfaffe 1791 missmutig. Das einzige „Amt“, das die Tarahumara zu vergeben haben, ist eine Art Redner – der „Stabträger“ – bei jährlichen rituellen Trinkgemeinschaften („tesgüinada“ – ein Maisbier) – und das will niemand gern haben, weil es dazu verpflichtet, die gleichen Geschichten im Wortlaut zu erzählen, die allen schon immer erzählt wurden. Die Missionare waren über die Sitten und Gebräuche entsetzt: „Mehr oder weniger alle Teilnehmer einer tesgüinada nehmen an diesen schauspielerischen Formen des Geschlechtsverkehrs teil.“

Die Tarahumara haben mit Fremden, die sie chavochi nennen, fast nur schlechte Erfahrungen gemacht. Touristen interessieren sie nicht.

Der Zug hatte 1982 an mehreren Bahnhöfen lange Aufenthalte, einmal sogar einen ganzen Tag, daher könnte ich mich ausgiebig in den kleinen Siedlungen an der Bahnstrecke umsehen. Das Foto mit den drei Tarahumara habe ich in Creel gemacht, das damals noch ein winziges Nest war.

Und nun zu etwas ganz anderem, der Barranca (spanisch für Schlucht oder Canyon) del Cobre. Hm, nun ja, die ist sehr schön, wie die Fotos zeigen. El condor no pasa, weil er fast ausgestorben ist. Mehr weiß ich dazu nicht zu sagen.

Das Tegeler Duell und die Sechserbrücke

Tegeler SeeTegeler HafenSechserbrückeHumboldt Insel RückseitesechserbrückeSkyline Spandau

Ich war heute sieben Stunden auf der Havel und dem Tegeler See und beabsichtige nicht, dem Publikum heute noch die politischen Weltläufte zu erklären. Ich werde noch nicht einmal meinen Avatar in Second Life bewegen. Die folgenden Fakten sind nicht von mir, aber die Links.

Das Wort „Tegel“ entstammt einem slawischen Wurzelwort, das „Anhängsel“ bedeutet. Und genau dies ist der Tegeler See: er ist ein Anhängsel der Havel. Der Anteil der Uferstellen, an denen man baden kann, ist zwar gering, allerdings hat der See eine gute Wasserqualität und zählt zu den innerstädtischen Berliner Gewässern mit der größten Sichttiefe.

Am Nordostufer des Sees, unterhalb der „Seeterrassen“ an der Greenwichpromenade, befinden sich [was für ein verficktes schlechtes Deutsch!] die Schiffsanlegestellen der verschiedenen Reedereien. Die Uferpromenade wurde als lange Allee zum Flanieren mit Ruhebänken und Kinderspielplätzen gestaltet [Passiv ist immer schlecht und langweilig. Wer tat was? Und von wem stammt der Plan?]. Der nördliche Teil der Promenade endet an der Tegeler Hafenbrücke (auch Sechserbrücke genannt). Sie bildet die Zufahrt zum 1908 als Verbreiterung der Mündung des Tegeler Fließes gebauten Tegeler Industriehafens [irgendwas mündet da und wird breit, um ohne Ung auszukommen]. Große Teile des Ostufers sind in der Hand von Bootsvereinen und öffentlich nicht zugänglich. Am 25. März 1852 fand am Seeufer das Duell Vincke–Bismarck statt.

Wieder was gelernt. Klicken und sich weiterbilden!

Unter Produktmanagern

News of the world

Dieser Artikel von Roger Boyes erschien unter dem Titel „Journalisten sind Verräter“ im Medienmagazin Berliner Journalisten (heute: Nitro), Ausgabe 3, 2005. Er ist immer noch aktuell. News of the World wurde am 10.07.2011 eingestellt. Auf Burks.de wurde er 2011 veröffentlicht.

Aktueller Anlass: Gestern hielt ich eine Rede zum 70. Geburtstag des Deutschen Journalistenverbands Berlin. Darin zitierte ich den Boyeschen Satz (vgl. unten), dass das öffentliche Ansehen von Journalisten in Großbritannien gegen unter Null tendiere, „gleich dem von Immobilienmaklern und minimal über dem von Kinderschändern. Das ist gesund.“ Daraufhin wurde ich nach meiner Rede von einem Kollegen von DPA erregt angesprochen, der sinngemäß meinte, mein Zitat sei unverschämt und dem Anlass unangemessen. Er kündigte an, aus dem DJV Berlin auszutreten. Er hatte wohl auch herumgefragt, ob der Vorstand meine Rede vorher „abgenommen“ hätte (Natürlich nicht, ich durfte sagen, was ich wollte.). Da zeigt sich doch gleich, wes Geistes Kind deutsche Journalisten sind.

Jedes Jahr feiert die britische Presse, wie auch die deutsche Presse, sich selbst. Bei den Briten läuft das natürlich ein bisschen anders ab. Man betrinkt sich, man flüstert sich boshaften Tratsch zu; manchmal gibt es eine Schlägerei in den Gängen eines teuren Grandhotels, in dem die Preisvergabe stattfindet.

Die britische Presseauszeichnung „Scoup of the Year“ – das journalistische Äquivalent zum Oskar – ging dieses Mal [2005] an News of the World, ein Revolverblatt. Der Medien-Oskar wurde für eine Geschichte verliehen, mit der erstmal die Identität der Geliebten von Fußballstar David Beckham enthüllt wurde.

Das Wort „scoop“ hat eine ganz spezielle Bedeutung. Gemeint ist eine Zeitungsmeldung, die etwas von größtem öffentlichen Interesse aus Licht bringt, häufig nach wochen- oder monatelangen Recherchen. David Beckhams Geliebte hingegegen war gekauft: Sie hatte eingewilligt, die erotischen Textnachrichten, die sie von dem Spieler erhalten hatte, an News of the World zu verkaufen.

Als der „Scoop“-Preisträger verkündet wurde, ging ein Ächzen durch den Raum. Ein Journalist, der über mehrere Monate hinweg korrupten Machenschaften in der UN nachgespürt war, verließ den Raum und übergab sich im Herrenklo. Elf leitende Redakteure verkündeten, sie würden nicht mehr an der alljährlichen Zeremonie teilnehmen. „Dies ist das Ende des investigativen Journalismus“, sagte einer, „Berichterstattung ist zur Farce verkommen.“

Und doch steckte mehr Leben, mehr journalistischer Geist in diesem lächerlichen Revolverblatt als in der gesamten deutschen Presselandschaft. Die News-of-the-World-Geschichte war zwar so wertlos wie eine Weimarer Banknote. Doch im Auftrag just dieser Zeitung arbeitet ein Redakteur namens Mazher Mahmood, dessen Veröffentlichungen bereits in 118 Fällen dazu beigetragen haben, Pädophile, Schleuser, Fälscher, russische Mafiosi und Hochstapler zu überführen. Er ist sieben Mal zusammengeschlagen worden und mittlerweile in ständiger Begleitung eines Bodyguard. Das Haus seiner Eltern in Birmingham wurde bereits von einer Straßenbande mit Macheten überfallen. Zu allem Übel kommt die Ablehnung seiner Kollegen: Mahmood ist ein Außenseiter. Für mich ist so eine Art postmoderner Held. Er hat etwas von Walraff. Beide setzen auf Verkleidungstaktiken, aber Mahmood ist professioneller als jener.

Mahmood arbeitet mit einem Team von Mitarbeitern, inklusive Technikern, die Gespräche mutmaßlicher Verbrecher abhören. Über das Internet werden Kontobewegungen nachvollzogen; aus dem Mobilfunknetz werden Daten abgesaugt und analysiert.

Kürzlich sagte er in einem Interview: „Ich habe etwa 40 000 Britische Pfund für Geschichten investiert, aus denen am Ende nichts geworden ist, und niemand in der Redaktion hat sich beschwert. Es ist ein Geschäft, da braucht es Investitionen. Unser Geschäft ist es, Zeitungen zu verkaufen. Die entscheidende Frage ist: Worüber sprechen die Leute in den Kneipen? Sprechen sie über deine Geschichte, so ist das viel mehr wert als eine journalistische Auszeichnung. (…)

Meinungsumfragen zeigen, dass das öffentliche Ansehen von Journalisten in Großbritannien gegen unter Null tendiert, gleich dem von Immobilienmaklern und minimal über dem von Kinderschändern. Das ist gesund. Journalisten sollten gefürchtet, nicht geliebt werden, so die angelsächsische Lektion.“

Religiöses Mobbing

Ein sehr interessantes Interview mit einer Neuköllner Lehrerin im Freitag: „Die türkische Community entfremde sich und religiöses Mobbing nehme dramatisch zu, sagt sie.“

„Ja, aber diese ganze Religiosität ist erst nach und nach gekommen. Man hat früher mal über den Islam geredet, aber das stand nicht so im Vordergrund. Jetzt kann man das Religiöse und die Politik der Türkei kaum noch trennen. Ich habe manchmal das Gefühl, die extremsten Anhänger Erdogans leben hier in Deutschland. (…)

Da das Kopftuch verhindern soll, dass Männer sich von Frauen angezogen fühlen und diese vor Belästigung schützen sollen, ist dies eine Sexualisierung von Kindern! Außerdem nehmen einige muslimischen Männer sich das Recht, unverschleierte Frauen belästigen zu dürfen! Und dann gibt es eine ganze Reihe Linker und Grüner, die glauben, die Verschleierung von Frauen sei eine kulturelle Besonderheit, die man schützen müsse.“

Das wichtigste militärische Ereignis des II. Weltkriegs, revisited again

Warschauer Ghetto

Dieser Artikel erschien auf burks.de vor fünfzehn Jahren. Ich habe ihn leicht verändert und die Links und Bilder aktualisiert. Vgl Burks.de vom 19. April 2013 und vom 20. April 2003: „Das wichtigste militärische Ereignis des II. Weltkriegs“ sowie den Stroop Report.

Am 19. April 1943 fand die herausragendste militärische Leistung des zweiten Weltkriegs statt. Sehr wenige gegen viele, sehr schlecht Bewaffnete gegen einen übermächtigen militärischen Apparat, heroischer Mut, den sicheren Tod vor Augen, nur noch ein mögliches Ziel: in Würde zu sterben. Der Kampf der wenigen hundert Frauen und Männer hinterließ der Welt ein Fanal – es machte sie und die wenigen Bilder, der erhalten sind, unsterblich.

Am 19. April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Im Juli des Vorjahres hatten die Nazis angefangen, die Juden aus Warschau in die Konzentrationslager zu deportieren. Die Geschichte ist bekannt, und zahlreiche und gute Websites informieren über die Details. Im Oktober 1942 gründete sich die „Jüdische Kampforganisation“ Żydowska Organizacja Bojowa“ im Ghetto. Die ersten Aktionen wandten sich gegen Kollaborateure. Am 23. Januar sollte losgeschlagen werden. Doch vier Tage vorher marschierten die Nazis in das Ghetto ein. Nach vier Tagen erbitterten Kampfes mussten sich die Deutschen zurückziehen. Die ZOB verlor fast 80 Prozent ihrer KämpferInnen.
Warschauer Ghetto
In den folgenden Wochen organisierten die Juden im Ghetto ein System von Bunkern, die mit der Kanalisation verbunden sind, und versuchten, Waffen „nach drinnen“ zu schmuggeln. Einige Namen sollen hier genannt werden: Mordechai Anielewicz, der Organisator der Untergrundbewegung und des Aufstands im Ghetto, Yitzhak Zuckerman, Gole Mire and Adolf Liebeskind. Und Marek Edelmann der letzte überlebende Anführer des Aufstands starb 2009. Eine Ironie der Geschichte ist es, dass die Fotos des heroischen Widerstands ausgerechnet von einem fanatischen Nazi stammen, von Jürgen Stroop, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, Leiter der Vernichtung des Warschauer Ghettos. Der 76-seitige „Stroop-Report“ samt Fotos kann digitalisiert im Original im Internet nachgelesen werden.

Im Morgengrauen des 19. April marschieren die Waffen-SS erneut in das Ghetto ein – Himmler will Hitler zum Geburtstag ein „judenfreies“ Warschau schenken. Die Juden – weniger als 1000 – haben nur zwei Maschinengewehre, 15 (!) Gewehre und 500 Pistolen – und eröffnen dennoch das Feuer. Die Nazis werden zurückgeschlagen und kommen mit 5000 Mann am Abend zurück.

Ein Augenzeuge: „Die unseren kämpften so gut sie konnten. (..) Ich blickte in die ruhigen Gesichter der Frauen, sie waren ohne Tränen, ohne Furcht, entschlossen, würdig zu sterben.“ Am vierten Tag der Kämpfe beginnen die Nazis das Ghetto auszuräuchern und schießen mit Flammenwerfern die Häuser in Brand. Die ZOB zieht sich in die Bunker zurück. Da die Nazis hier nicht eindringen können, leiten sie Giftgas in die Bunker oder setzen die Gebäude unter Wasser. Roza Rozenfeld – die Kommandeurin des Bunkers in der Lesznostraße – kämpft, bis ihr das Wasser bis zum Hals steht. Dann wird sie erschossen. Am 8. Mai 1943 nehmen die Nazis den Bunker, in dem der Führungsstab der ZOB kämpft. Doch der Widerstand geht weiter. Viele der Kämpfer bringen sich um. Die SS braucht zehn Wochen, um die jüdischen KämpferInnen zu besiegen. Die Überlebenden werden in Konzentrationslager gebracht. Nur wenigen gelingt die Flucht. Das Warschauer Ghetto wird dem Erdboden gleichgemacht.

Warschauer Ghetto

Aus dem Kriegstagebuch des Wehrmachtsoffiziers Wilm Hosenfeld: „In Treblinka werden die Züge mit den Viehwaggons ausgeladen, viele der transportierten Menschen sind schon tot. Die Toten werden neben den Gleisen aufgeschichtet, die gesunden Männer müssen die Leichenberge wegschaffen, neue Gruben graben und die gefüllten zuwerfen. Dann werden sie erschossen. Frauen und Kinder müssen sich entkleiden, werden in eine fahrbare Baracke getrieben und werden da vergast. […] So geht das nun schon lange. Ein furchtbarer Leichengeruch liegt über der ganzen Gegend.“

Bildquellen: „Unknown Stroop Report photographer“, vgl. die Angaben bei Wikipedia.

Phantasus, revisited

Dieser Artikel erschien in leicht veränderter Form in Pl@net im November 1996 (!). Die Pl@net, das erste deutsche Internet-Magazin, wurde 1997 zu Internet Professionell. Das Thema: Die virtuelle Welt Phantasus alias „Worldsaway“ alias „vzones“. Virtuelle Welten, die mit Avataren bevölkert waren – wie heute Second Life -, gab es also schon vor fast zwanzig Jahren. (Vgl. spiggel.de, 26.02.2007: „Kein Ort. nirgends“) Es gibt nur noch sehr wenige Screenshots von Phantasus aka WorldsAway aka Dreamscape. Ich habe Phantasus 1995 auch via Compuserve gespielt.

Ave Avatar! So nannten sich die indischen Götter, die die Menschen aufsuchten. Gliedmaßen, Köpfe und Körper suchen sie sich nach Gutdünken aus. Die Erdlinge sollten sich in der Illusion hingeben, die Götter seien wie sie, so wie der heutige Avatar angeblich dem realen Menschen ähnelt.

Am Anfang ist der Avatar allein und so ungünstig gekleidet wie der Terminator bei seiner Ankunft in der Gegenwart. Nicht nackt, aber in häßliches Dunkelblau gewandet, auf den Planken eines virtuellen Schiffes, das auf dem Meer dahindümpelt. Der Körper schmächtig, aber im Profil mit dem Robbenbaby-Effekt ausgestattet, Kulleraugen und Schmollmund. Ein bißchen dümmlich und hilflos blickt man noch namenlos in die knallbunte Welt. phantasus

Der Neuling trampelt per Mausklick ein wenig hin und her, dreht sich, schlenkert mit den Armen, winkt dem Alter Ego vor dem Bildschirm zu, hopst versuchsweise auf und ab und wartet auf etwas Aufregendes, Seejungfrauen oder ähnliche Ungeheuer. Nichts passiert, nur, daß man zwangsweise auf die Uferpromenade verfrachtet wird und sich entscheiden muß, ob man in Zukunft Männchen oder Weibchen sein will.

Drei Körper stehen pro Geschlecht zur Auswahl: schlank, athletisch oder dick, ganz wie im wirklichen Leben. Wer Mann ist, neigt spontan zur Schwarzenegger-Variante oder, wenn man Computer-Freak ist und ehrlich sich selbst gegenüber, mehr zum leptosomen Typus, der leicht vornübergebeugt daherschlurft. Athletische Frauen haben den Männern etwas voraus: Sie können sich, wiederum per Mausklick, eine kurze Zeit in die Lüfte erheben und schweben, mit den Armen ausgestreckt flatternd, über dem virtuellen Erdboden.

Fast wehmütig habe ich mir meinen ersten Screenshot auf den Bildschirm geholt: „This is my first minute as an Avatar…“ sagt das blaue Männchen unsicher zu sich selbst. Hinter ihm wartet ein weiteres blaues Männchen, das beim Anklicken seine Identitätsnummer ausspuckt, 2735, auch ein Neuling. Das Ambiente in sanften Farben, ein paar Säulen, die an nichts erinnern In fast unendlichen Weiten blaue Berge Fußgängerzonenkompatibles Kleinpflaster. Und natürlich die anderen, wegen derer man Phantasus betreten hat und mit denen man chatten will. Ein athletischer Kerl mit Birne auf dem Kopf und Schiffchen unter dem Arm. Eine schwarzgelockte Schönheit mit weiblicher Fußstellung, also nicht so breitbeinig wie die Männer. Dafür kann sie nichts, aber die Programmierer, die sich diesen interaktiven Comicstrip ausgedacht haben. Alles hat seine Ordnung.

Aber vielleicht ist die junge Schöne keine Sie, sondern ein ältlicher Er? Und das schmächtige Hutzelmännchen, das sich soeben etwas ruckelnd von links ins Bild schleicht, im wahren Leben Kate Moss oder Linda Hamilton? Die Phantasie darf schweifen, aber nicht zu ausschweifend. Außer Winken, Hopsen, Achselzucken und den Mimik-Varianten Trauer, Frohsinn, Wut und „Normal“ ist nichts vorgesehen, nur reden, reden, reden. Die Worte schweben als eckige Sprechblasen über der Szenerie. Ein ideales Betätigungsfeld für die frauen- und männergruppengestählten neuen Mittelschichten.

Und warum sollte ich etwa Herren mit Froschköpfen, Damen mit Katzenschädeln oder den Typen mit dem Astronautenhelm anquatschen? Den Fischkopf, der ausnahmsweise nicht aus Hamburg, sondern aus München stammt? Oder den, der einen Computer statt Kopf auf den Schultern balanciert? Oder einen Ghettoblaster? Ein Psychologe wüßte interessante Fragen zu stellen. Rollenspiel? Regression? Ich bin wieder ein Kleinkind und alle sind lieb zu mir! Streichle mich! Ich bin eine Maschine und funktioniere prächtig! Ich werde bewundert, weil ich einen Kopf trage, den niemand trägt! Den niemand sich leisten kann! Mein Rasenmäher ist der schnellste!

Wer die Regeln und Rituale einer fremden Welt nicht kennt, bewegt sich mißtrauisch und vorsichtig. Wer weiß, ob nicht irgendwo eine virtuelle Gottheit lauert, die unbotmäßiges Verhalten mit Dematerialisation bestraft oder allzu kecke Neulinge an unfreundliche Orte beamt? Also tastet man sich vor in Phantasus und erreicht den Eingang des Jungle Parks. Auch dort lungern diverse Gestalten herum, die sich in englisch unterhalten. Smileys tauchen auf und ab. Wer neu kommt, wird angewinkt. Hello, hallo, hi. Park your Butt, Newbie! Hinsetzen funktioniert nicht, ist also nur metaphorisch gemeint. We’re having a helluva time! Oops. Gobsmacking!

Das „umwerfend“ ist leider nicht auf mich gemünzt, sondern auf eine schlanke Dame, die soeben materialisiert. Ganz in rot, blonde Löckchen, mit geheimnisvoller Kapuze und schwarz umrandeten Augen wie die Panzerknacker-Bande. Die will mir etwas zeigen, ein Geheimnis, sagt sie per ESP. Das ist so etwas wie „personal mail“, eine Nachricht, die niemand außer mir lesen kann. Wie heißt das Fräulein? Mausklick. „Headhunter Temptress.“ Nomen est omen? Schon fordert sie mich auf, meinen virtuellen Kopf auf den Fußboden zu legen. Anklicken und „put on the floor.“ Denkste. Die will doch etwas anderes als mir ihre digitalisierte Briefmarken oder etwas Pikanteres zu zeigen. Ich lasse meinen Kopf dort, wo man ihn am ehesten erwartet. Headhunter Temptress verwandelt sich in einen „Geist“, eine winzige Wolke am Bildrand, in deren Mitte ein Auge blinzelt.

Bald begegne ich anderen blauen Neulingen, deren Hals kopflos im Nichts endet. Also gibt es auch in WorldsAway das Böse, das zu unserem edlen Charakter gehört wie der Schatten zum Licht. Zeit, sich einen Namen zu geben und zu machen! Doch wie? Der Mitmensch und Avatar an sich ist hilfreich und gut und beantwortet diesbezügliche Fragen, ja, die betreffende Ente in gelben Hosen erklärt sich bereit, den Weg zum Tempel zu zeigen. Wohin des Wegs, müder Wanderer? Berlin, Germany. I’m from California. Oh, nice. Mr. Bill Gates, I presume? Fröhliches Smiley. My name is Angela. A female Duck, eine Überraschung inmitten der netzsurfenden Männergruppen. How old are you? Twentytwo. Könnte meine Tochter sein. I’m just the double oder wie heißt das noch mal? Darf man online The Advanced Learner’s Dictionary for Current English benutzen? Das ist also chatten.

Der Tempel, ein leicht esoterisch angehauchtes Gebäude, das mit antiken Vorbildern architektonisch so viel zu tun hat wie das Hauptquartier der Mormonen mit der Akropolis. Die Ente zeigt das Buch der Bücher, in dem sich jeder Avatar mit einem Pseudo verewigt. Sunray Dream Keeper. Big Kahoona. Duckolyte Sr. Wing, Doc Moriarty, Mischi, Thomas, Perry Rhodan und Vagabund. Alien 1, Kiwi-Schokoline, Crusader Obi, Ronny und Cloachrd. Ich heiße jetzt ganz profan Burks. Und bald werfe ich meinen Kopf in den Recycling-Automaten. Für ihn bekomme ich eine Handvoll Tokens. Für eine Handvoll mehr kaufe ich mir in einem Automaten einen braungebrannten und bärtigen Fakir-Schädel. Zu dem paßt der leptosome Körper. Wo gibt es nur schwarzes Spray für Hemd und Hose?

Was machst Du denn so, Avatar? Avatare spiegeln die reale Welt und nichts anderes als die. Wer glaubt, ein weiblicher Körper in einer virtuellen Stadt wie Phantasus verwandle einen in eine Frau, der weiß nichts von Frauen. Aus einem Puttchen am PC wird trotz athletischem Avatar keine Emanze. WorldsAway lebt von der Illusion, zweidimensionale bewegte und sprechende Bildchen könnten irgendetwas mit dem realen Leben zu tun haben. Weit gefehlt: Kommunikation per Chat funktioniert wie alle andere Formen der Kommunikation auch. Man nimmt nur das zur Kenntnis, was man schon kennt und das redundante Weltbild nicht irritiert.

Von wegen Rollenspiel: Wer in virtuellen Welten plaudert und chattet, macht nur soziale Geräusche, deren Erfahrungswert dem eines traditionellen Kaffekränzchens oder Stammtisches gleicht. Dafür sorgt schon die infantile Sprache. Man muß schon lange suchen, um in Phantasus einen ganz normalen deutschen Satz, womöglich durch Kommata unterteilt, zu finden. Einwand: Eine Million Fliegen können nicht irren. Chatten ist eine der beliebtesten Beschäftigungen der Netzgemeinde. Die Wirklichkeit spielt ihrer virtuellen Widerspiegelung einen Streich. Man lernt sich online kennen, verliebt sich sogar in das, was der andere sagt, verspürt das Bedürfnis, sein gegenüber kennenzulernen. Das funktioniert aber so gut wie nie. Man lebt von der Hoffnung und der Hand im Mund.

Avatar-Treffen, wie sie in der RW (Realen Welt) stattfinden, sind nicht mehr oder weniger als ein Kegelabend von Kaninchenzuchtfreunden, die sich über ein gemeinsames Hobby kennenlernten. Und behaupte jemand, die Zucht von Karnickeln und die damit verbundene menschliche Interaktion sei sozial weniger wertvoll als eine Versammlung von Computer-Besitzern, die – als Comic-Strip-Figur – online gemeinsam Bingo gespielt haben! phantasus

Apropos: Aktiver als Chatten ist das gemeinsame Spiel im Spiel. Wer das fucking englische manual der bingo.exe aus der Forums-Bibliothek verstanden hat, kann so sein virtuelles Konto auffüllen.. Dem unbedarften Neuling passiert es, daß er soeben mit Mühe vom Geist zum Avatar materialisiert ist, weil nicht mehr als sieben Figuren auf einen Screen passen. Statt eines Gesprächs der Anwesenden erscheinen kryptische Zahlenkürzel, N-43, O-69, N-35, B-15. Wenn er Pech hat, fordert ihn jemand höflich, aber bestimmt auf, schleunigst wieder zum Geist zu werden, weil man das Spiel verlangsame. Das ist Bingo. Ähnlich niveauvoll, der Name sagt es, kann sich jeder an Trivial Pursuit beteiligen, auf deutsch oder englisch. Oder Ghostracing: Wer am schnellsten vom Geist zum Avatar materialisiert oder umgekehrt oder von einem Ort an Phantasus zum anderen gelangt. Die Teilnehmer versammeln sich anschließend zum Gruppenscreenshot.

Überhaupt die Deutschen. Die sorgen für Kultur. Der deutschsprachige „Traumbote“ ist die meistgelesene Zeitschrift in WorldsAway, erstellt von Idealisten und Idealistinnen, mit einer größeren Auflage als der „offizielle“ englische „Clarion“. Der „Traumbote“ bietet alles, was ein Vereinsblättchen braucht und was die positiven Vibrations der Leser garantiert. Lesen und gelesen werden: Was ich neulich erlebt habe. Steckbriefe der bekannten Diebe. The Yellow Pages. Stadtführung für Neulinge. Veranstaltungskalender: Demnächst Lesung mit dem berühmten Gedicht „Ode-to-your-Head“ „Ich suche eine liebe (!) Partnerin für eine WG. Allein kann ich mir nur ein Zimmer leisten.“

Gemeint sind die virtuellen Zimmer im neuerrichteten Gebäude gleich hinter dem „Magic Shop“. Die Miete ist nicht von Pappe und wird vom Token-Konto abgezogen. Wer sich nicht lange genug in Phantasus aufhält, goes to Moscow (wird gepfändet). Man verdient Tokens, die Währung in WorldsAway, automatisch, ohne den Finger rühren zu müssen, pro Stunde Aufenthalt, aber nicht als Geist, sondern als Avatar. Manchmal trifft man einen bewegungslos vor sich hin starrenden Avatar, der auf keinerlei provokative Anmache reagiert. Richtig vermutet: Das wahre Selbst der Figur verlustiert sich anderweitig und läßt sein virtuelles Ich durch bloßes Dasein in Phantasus Tokens horten. Mehrere Token-Automaten stehen in WorldsAway herum und spucken die goldigen Münzen aus.

Wer Geld hat, staffiert sich aus. Im NuYu und im U-Mart warten Automaten mit neuen Köpfen, Utensilien, die man in Kisten verpacken und mit sich herumtragen kann, Spraydosen, um Teile seine Körpers in allen Farben des Regenbogenspektrums zu färben, und unnützer Schnickschnack wie Teddybären. Je seltener die Gegenstände sind, um so mehr gewinnen sie an „Wert“ und um so höher werden sie bei virtuellen Auktionen eingeschätzt. Kleine Lektion Spätkapitalismus gefällig? Da will jemand für einen extrem originellen Rosenkopf 1800 Tokens. Das sind 30 Stunden online, „die kosten mich sage und schreibe 105 echte Deutschmark“, schreibt ein Avatar verbittert.

Die fleißigen Deutschen sind nicht so beliebt wie sie selbst meinen. Natürlich bleiben die amerikanischen Avatare höflich und korrekt, aber lieber unter sich. Schon wieder haben die Krauts die Mehrheit. Bloß weg hier. Drei aus Florida „ghosten“. Wahrscheinlich haben sie sich im Starway-Cafe verabredet oder im Meditation-Park. Germany? I’m from Great Britain. Don’t like Huns. We win every war against you. – And Falkland? Shut up. Weg isser.

Wo bleibt das Abenteuer? Das schleimige Monster, das hinter der Stahltür lauert und sich mit Gebrüll auf einen stürzt, wenn man als virtueller Krieger ahnungslos um die Ecke biegt? Will ich per Computer das erleben, was ich sonst auch erlebe? Oder haben sich Chat-Foren die ausgedacht, für die die mittlere Beamtenlaufbahn der ultimative Thrill ist? Der frisch eingeführte Kopf des Tyrannosaurus Rex ist the most popular bei neuen Avataren. Schön gruselig. Einmal jemand sein, vor dem die anderen Angst haben. Oder das Gegenteil: Ausleben des Krankenschwester-Syndroms. Diese Avatare lauern nur darauf, daß ein Newbie, wie die Neulinge genannt werden, auftaucht, um den mit gut gemeinten Ratschlägen und Warnungen zu überschütten. Du kannst mich in deine Freundesliste aufnehmen! Danke. Oops.

Kennst du die Golden Handcuffs-Technik? Eine der befreundeten Avatarinnen will dir ein großes und rotes Herz zeigen, eines der seltensten Dinge in Phantasus, im Wert vergleichbar nur mit der legendären One-Pence-Briefmarke. Das hat sie anläßlich der „Ladies Night at the Duckolyte Auction“ erstanden, 11. September 11 art 6pm Pacific Time. Dazu muß sie die Kiste, die sie unsichtbar mit sich trägt, auf den Boden stellen. Dort ist die dem Zugriff der bitzschnell materialisierenden diebischen Geister schutzlos ausgeliefert. Einem Räuber, der etwas ergreift, kann man das nicht mehr abnehmen, und erst recht nicht, wenn der sich im selben Augenblick in ein Wölkchen verwandelt. Also ein Trick: Du nimmst eine deiner Tokens in die Hand. In dem Augenblick, wenn die Freundin die Kiste virtuell abstellt und ein Dieb auftaucht, wählst du per Mausklick die Option „give Token to“. Der Bösewicht kann nur einen Gegenstand auf einmal greifen und steht nun mit vollen Händen da, während die Freundin des Herzens ihre Kiste wieder greift. Nur dein mickriger Token ist weg.

Avatar Claudy hat schon einen Hilfsfonds für diejenigen gegründet, die Opfer eines „Inworld“-Verbrechens“ geworden sind, ein virtueller „Weißer Ring“, der dem Initiator ein garantiert gutes Gewissen verschafft. Das Gute siegt, auch deshalb, weil die Phantasie-Welt nicht ohne soziale Hierarchie auskommt. Da gibt es „Acolyte von Morpheus“, die immer die Wahrheit sagen und die sich nicht imitieren lassen, Kymer Guardians, die Ermahnungen aussprechen und Verfehlungen notieren, ein besonders bei den deutschen Avataren begehrter Job, Sunray Knights und Helpolytes.

Und „Geistliche“, die Trauungen vornehmen, nach selbst erfundenen Ritualen und ohne Ansehen des realen Geschlechts. Screenshots der digitalen Einladungen und der Heiratsurkunden von Duckolyte Ropes und Princess Di in der Forums-Bibliothek gratis erhältlich! Vagabond und Aphrael werden ihre Verlobung im Turf (Wohnhaus) X-Bies Club feiern! „Von dieser Stelle aus wünsche ich, Mivo, der einzige deutschsprachige Acolyte im Dreamscape, den beiden alles Gute, und mögen sie den Traum ab nun gemeinsam träumen!“ Nächste Sprechstunde für Probleme Freitag 20 bis 21 Uhr MEZ im Kaminzimmer des Turfs. phantasus

Avatare, die Chat-Foren wie WorldsAway gegen den Rest der realen Welt verteidigen, meinen, auf der virtuellen Spielwiese etwas lernen zu können: Wer sich ungehörig benimmt („nice breasts“ per ESP), gegen den kann man kaum etwas ausrichten. Virtuelle Faustschläge sind genausowenig möglich wie ein Kuß. Also, so könnte man vermuten, muß sich jeder Teilnehmer des Chat-Forums überlegen, ob es nicht zivilisierte Formen gibt, Druck auszuüben, daß die Bösen resozialisert werden. Nur ist auch das eine Illusion. Wer es darauf anlegt, gegen die Phantasus-Nettiquette zu verstoßen (kinderfreundlich, no sexual harrasment) und endlich, nach mehrfachen Ermahnungen, von den Machern ins virtuelle Nichts geschleudert wird, der taucht einfach unter anderem Namen am nächsten Tag wieder auf. Gewalt ist sprachlos und stellt eine soziale Hierarchie auf eine Weise her, die den alles verbalisierenden Netz-Sozialarbeitern nicht zugänglich ist. Wer chattet, wird nicht mehr oder weniger gewalttätig als er schon war.

Und auch die Gefühle ändern sich nicht. Ein stotternder Jüngling, der es nicht wagt, seine Madonna in einer Bar anzusprechen, kann das per chatten üben. Aber das Stottern verlernt er dadurch nicht. Eine virtuelle Welt bevölkert sich mit genau den Charakteren, die man im realen Leben findet Es tauchen Leute auf, die sich sofort für den Job des Vereins-Kassenwarts bewerben. Frauen unterhalten sich über ihr Outfit und sonst gar nichts. Frankfurter tauschen mit Kölnern per Rechner in Houston die neuesten Bundesliga-Ergebnisse aus. Da findet man in zwanzig Sekunden „Freunde“, die nett daherplaudern und tunlichst verschweigen, daß sie zuhause ihre Gattin verprügeln. Mag sein, daß es ein Edeka-Filialleiter aufregend findet, mit einem Amerikaner übers Wetter in Ohio zu reden. Aber trotzdem ist das nicht zu vergleichen mit der warnenden Meldung des Rückenmarks, wenn man auf einem 60 Meter hohen Kran steht und sich am Gummiseil in den Abgrund stürzen will.

Vorsicht, Kamera!

Amantani

Das Foto habe ich 1984 auf Amantani gemacht, einer peruanischen Insel im Titcaca-See. Dort habe ich eine Woche bei Quechua-Bauern verbracht, die schlechter Spanisch sprachen als ich. Die Kinder hatten noch nie eine Kamera gesehen und reagierten dementsprechend. (Das Original-Foto ist zu dunkel, bei der Nachbearbeitung wurde das Bild sehr körnig.)

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