Energie, Masse und Kraft

trebuchet

Es werden Maschinen gebaut werden, mit denen die größten Schiffe, von einem einzigen Menschen gesteuert, schneller fahren werden, als wenn die mit Ruderern vollgestopft wären; er werden Wagen gebaut werden, die sich ohne die Hilfe von Zugtieren mit unglaublicher Geschwindigkeit bewegen werden; Flugmaschinen werden gebaut werden, mit denen ein Mensch die Luft beherrschen wird wie in Vogel; Maschinen werden es erlauben, auf den Grund von Meeren und Flüssen zu gelangen.“ (Roger Bacon, Epistola de secretis operibus artis et naturae, um 1260)

Liebe Studenten! Wo sind wir gerade? Beim Einschub eines Einschubes. Die ursprünglichen Fragen wird jeder vergessen haben. Wer will, kann noch einmal nachsehen.

Ich schrieb: „Ich wollte Mitterauers „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ weiterlesen, stockte aber, weil mir unangenehm auffiel, dass ich das Standardwerk Lynn WhitesMedieval Technology and Social Change“ über die Entwicklung der Produktivkräfte gar nicht kannte.“

Wir sind also beim zweiten Einschub in der Lektüre Mitterauers und immer noch bei den Vorarbeiten zum Einen und Einzigen Wahren und Autorativen, Historisch Genauen und Amtlich Anerkannten Bericht über den Feudalismus und wie er den Kapitalismus gebar und warum und warum anderswo nicht.

Und nun kommen wir zur Kurbel. Ich habe die Blide natürlich mit einem Hintergedanken zusammengebaut: Warum ist die den Römern nicht eingefallen? Welche Naturkräfte wirken, wie erkennt und begreift man die, und wann versteht man das und warum? Das Hebelgesetz kennen wir schon seit Archimedes. Der war so aus seiner Zeit gefallen bzw. ihr voraus wie Leonardo. Archimedes hat die Römer mit Maschinen erschreckt, die die einfachen Gesetze der Mechanik ausnutzen, aber außer ihm verstand niemand etwas davon. Eine einfache Schleuder, die das Hebelgesetz ausnutzt, kann nach ein wenig Ausprobieren vermutlich jedes Kind. Schwieriger wird es schon mit der Länge des Schleuderarms: Die Achse ist nicht in der Mitte, sondern verschoben. Der Teil mit den Gegengewichten ist kürzer. Versteht man das Prinzip „Kraft mal Kraftarm ist gleich Last mal Lastarm“ bei bloßem Hinschauen?

Bei der Blide Leonardos kommen noch zwei weitere Prinzipien dazu: Der zu schleudernde Arm mit der Last wird „künstlich verlängert“ dergestalt, dass die Seile, an der das, was weggeworfen werden soll, noch zusätzlich schwingen, was die Strecke des bewegten Objekts vergrößert. Nein, das ist den Römern nicht eingefallen – deren Belagerungsmaschinen waren viel einfacher und nutzen meistens nur die Spannung gedrehter bzw. gestraffter Seile aus. Das Thema also: Woher kriegt man die Energie, um eine Masse zu beschleunigen? Wie ersetzt man Menschenkraft durch Schwerkraft und/oder Energie aus irgendeiner Quelle? Wie kombiniert man mehrere physikalische Gesetze, um eine „Maschine“ zu bauen?

Es ist keinesfall so, dass das Wissen der Menschheit immer nur aufgestapelt wird und die nachgeborenen Generationen sich dessen bedienen könnten. Schon bei Büchern weiß man, das dem nicht so ist. Wissen kann seiner Zeit voraus sein und von niemandem verstanden werden (wie beim Hubschrauber) oder verloren gehen oder daran scheitern, dass es an den Materialien fehlt, um etwas zu bauen oder so unsäglich aufwändig, dass man es lässt – oder die Ökologie lässt es in bestimmten Regionen nicht zu (wie beim schweren Pflug).

Ochsenpflug Kuba
Granma, Kuba. Auch in Kuba ist das Pflügen mit Pferden offenbar nicht rentabel. Ochsen ziehen hier mit einem Joch, aber keinem Kummet. Das ist ungefähr der technische Stand der Spätantike.

Die Produktionsverhältnisse scheinen eine Schranke aufzustellen, bestimmte Prinzipien zu erkennen oder nicht. (Nein, es wird jetzt nicht philosophisch.) Es kann kein Zufall sein, dass im Frühfeudalismus eine Revolution in der Landwirtschaft stattfand, die wiederum nach sich zog, dass in der Renaissance zahlreiche Dinge erfunden oder auch nur theoretisch antizipiert wurden, an der die Antike gescheitert war.

Es dauert aber unendlich lange, bis Prinzipien, die heute einfach erscheinen, im Bewusstsein der Menschheit allgemein verfügbar waren. Warum? Das beste Beispiel ist die Kurbel, die auch bei der Blide zum Einsatz kommt. Eine Kurbel setzt eine Drehbewegung in eine Hin- und Her-Bewegung um. Der Heimwerker denkt an Bohren, Sägen und Drehbänke. Kurbeln gibt es schon sehr lange, aber dass man mit ihr eine ganz andere Bewegung umsetzen kann als das Drehen, ist nicht selbstverständlich. Die Griechen und Römer haben, soweit bekannt, Kurbeln nicht bildlich dargestellt, nur wenige sind überliefert worden. Das ist doch merkwürdig? Warum? (Die Nemi-Schiffe besaßen vermutlich auch Kurbeln, sogar mit Schwunggewichten. Leider sind sie zerstört worden.)

Das Prinzip kommt bei Handmühlen zum Einsatz. Lynn White schreibt: „Durch viele Generationen ist nicht beachtet worden, dass das Zermahlen des Korns in einer Handmühle weniger durch den Druck des Obersteins als durch seine Scherwirkung erfolgt ist und dass das Mehl sich nach außen drängte, bei einem muldenförmigen Unterstein genau wie bei einem ebenen. Infolgedessen sind die ältesten Handmühlen recht schwer gewesen, und der Handgriff oder die Handgriffe waren waagrecht seitlich in den Oberstein eingesetzt. An solchen Handmühlen müssen die Mahlenden den Oberstein in ständigem Wechsel der Drehrichtung bewegt haben.“

Da schauen also unzählige Leute hunderte von Jahren auf Mühlsteine, und niemand kapiert das Prinzip, dass man es ganz einfach viel besser machen und haben könnte. Das muss doch erklärt werden?!

Sogar in der Renaissance schien es den schlauesten Köpfen schwer zu fallen, das Prinzip der Kurbel, Bewegungsenergie umwandeln zu können, zu begreifen.

Kurbel
Mariano di Jacopo, genannt Taccola, um 1450. Das Prinzip der doppelt gekröpften Kurbelwelle hat er noch nicht verstanden.

White hat dazu eine interessante These: „Ein Mensch des 20. Jahrhunderts, der vor einer Handmühle mit einem einzigen senkrechten Handgriff säße, würde sie sich ständig gleichsinnig im Kreise drehen. Es ist keineswegs ebenso sicher, dass der Mensch der Verfallszeit des Römischen Reiches das gleiche getan hätte. Das Kurbeldrehen hat eine Umstellung des Bewegungssinnes dargestellt, die schwieriger war, als wir uns heute ohne weiteres vorstellen können. (…) Zu Beginn des 14. Jahrhunderts, also mindestens zwölf Jahrhunderte nach ihrem ersten Auftreten in China und sechs Jahrhunderte nach ihrem ersten Erscheinen in Europa, ist die Kurbel noch immer ein schlafender Keim der technischen Entwicklung gewesen. Sowie das Gebiet des Islam und Byzanz in Betracht kommen, finde ich keinen sicheren Beleg für die einfachste Anwendung vor 1206.“

Die Bohrleier (Handbohrmaschine) und die Pleuelstange kommen erst im 15. Jahrhundert in Gebrauch, obwohl aus der Antike einzelne Beispiele bekannt sind, wie etwa die Sägemühle von Hierapolis.

Vielleicht habe das damit zu tun, so mutmaßt Lynn White, dass ständige Drehbewegungen nur in der anorganischen Welt möglich sind, während bei den Lebewesen das Hin und Her die einzige Form der Bewegung ist. Die Kurbel verbindet beide Grundarten sich oder etwas zu bewegen. „Der große Physiker und Philosoph Ernst Mach hat auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die Kinder beim Erlernen der Kurbelbewegung zu überwinden haben.“

Man könnte vermuten, dass sich Technik unter anderem erst dann entwickelt, wenn eine große Anzahl von Menschen durch ihre Arbeit dazu gezwungen werden, sich Gedanken zu machen, wie man das effektiver anstellen könnte. Die Sklavenhaltergesellschaft war nicht der richtige Nährboden dafür. Aber das vermute ich nur. Wir haben immerhin ein paar gute Fragen gestellt. Dann kommen irgendwann auch Antworten.
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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)

Siam-Nico, Buzzwords und der chinesische Imperialismus

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Bei manchen Buzzwords (früher sagte man frankophil Slogan) schlägt mein Bullshit-Detektor sofort an, bei einigen Themen auch. Ich bedauere, die des Politischen kundigen Lesern und die an Medienkompetenz interessierten Leserinnen mit einer kleinen und vorläufigen Etüde in Recherche behelligen zu müssen.

Klassenkampf. Chinesischer Imperialismus. Mahnwache. Kommt alle. Fehlen nur noch die Fackeln Lichterketten, aber die sind mittlerweile sowas von out. Wer steckt dahinter? Aufmerksamkeitshuren, Marketing-Agenturen, etwas getarnt Politisches oder alles?

Setzen wir das Puzzle zusammen. Man sollte vermuten, dass bei a) Klassenkampf irgendwas „Linkes“ mitmacht, in Kombination mit b) chinesischer Imperialismus ergibt das aber zunächst wenig Sinn. „Die Linke“ lässt sich zwar von der pro-uigurischen Propaganda einlullen, aber sie würde nicht so weit gehen, eine „Volksrepublik“ als imperialistisch zu benennen. Die Grünen wiederum kriegen beim Begriff Klassenkampf sofort die Krätze. Beides – so unserer Arbeitshypothese nach 30 Sekunden – scheidet aus. Im Sinn haben wir den Namen „Nico Buchmüller“, der als Organisator der Mahnwache genannt ist.

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Die „Süddeutsche“ (Paywall) zitiert die (virtuelle) Gruppe German Solidarity with Myanmar Democracy. Man könnte irrig vermuten, dass die „Süddeutsche“ recherchiert hat, ob es diese Gruppe gibt. Dass sie das nicht getan hat, beweist die Zeichenkette „setzt sich nach eigenen Worten [bitte selbst ausfüllen] für ein freies Myanmar ein.“ Ohne drei unabhängige Quellen zu haben, durfte man früher, in den goldenen Zeiten des Journalismus, noch nicht mal furzen gehen. Heute reicht eine abhängige.

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Wait a minute. Warum sollte sich überhaupt jemand hierzulande ausgerechnet für Myanmar einsetzen, und was ist „frei“? Kapitalismus unter der Schirmherrschaft der NATO und faschistischer Banden wie in der Ukraine? Warum nicht Freiheit für Äquatorialguinea? Robbenbabys Negerkinder auf Fotos werden doch von jeder Werbeagentur mit Kusshand angenommen, weil sie immer in die Kamera lachen, außer wenn sie kurz vor dem Hungertod stehen (Amnesty, Brot für die Welt usw.). Kann man also für praktisch alles vermarkten.

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Doch halt, wie haben ein Motiv, sagt jetzt der Kommissar (wir sind erst bei Minute fünf der Recherche). Hier spricht Nico Buchmüller, man sieht ihn die Hände ringen und tränenkullernd schluchzen: Brutalität! Gewalt! Die ist nicht geil, sondern pöhse. Wir werden alle störben. Da muss man doch was tun!

Merke: Der Herr schreibt schlechtes Deutsch, und auch die Kommata fehlen oder stehen an der falschen Stelle. (Er hat also kein Abitur. Leider kann man heutzutage bei der Recherche aus diesem Tatbestand nichts folgern, weil das Kriterium sogar für die meisten Journalisten zutrifft.)

Wir merken uns in Rechercheminute fünf: Kein Profi, vermutlich keine der vorhandenen Parteien im Hintergrund (Arbeitshypothese, es fehlen die vorgestanzten Textbausteine), die Volksmassen jubeln noch nicht (was bei Myanmar auch extrem unwahrscheinlich ist, da vermutlich 90 Prozent der Bevölkerung das Land nicht auf einer Karte lokalisieren könnten). Appell an Gefühle, wie schon beim Kampf gegen „Hass“. Gefühle entpolitisieren sofort jedes Thema, lassen sich aber natürlich bei den intellektuell Schmalbrüstigen geistig Armen gezielt mobilisieren. Wer „gegen Gewalt“ ist, redet zur Mittelschicht. Man appelliert, sich zu benehmen: Man möchte bei denen da oben nicht unangenehm auffallen und sich gleichzeitig von denen da unten absetzen. „Klassenkampf“ und „gegen Gewalt“ – das passt nicht und spricht bei mir sofort für einen geistig verwirrten Einzeltäter oder Drogenmissbrauch.

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In Minute zehn der Recherche müssen wir nur noch die falschen Nico Buchmüllers aussortieren. Der richtige ist Klima-Nico von der Klimaliste Baden-Württemberg. Einw der Abspaltungen von der Befreiungsfront Judäas den Grünen, die sich auf nur ein Thema focussieren und den Kapitalismus reformieren wollen, aber selbstredend weiterhin zum GlottisschlagStimmritzenverschlusslaut-Milieu gehören. Ergo: Schon wieder nur Winkelreformer der buntscheckigsten Art.

Unser Klima- und Siam-Nico drückt mit Karacho auf alle Tränendrüsen: Er sammelt Spenden für Waisenkinder in Mayanmar. Das volle Programm also. Ich frage immer noch: Warum ausgerechnet Birma? (Ich hatte ein Kinderbuch über die KatzenTigerjagd in Siam – so hieß das früher.) Er hat dort eine Zeit verbracht. Das muss uns reichen. Man muss nicht alles runtermachen, auch wenn man „Entwicklungshilfe“ als eine Art Embryo des Imperialismus ansieht und „helfen“ durchweg als ein niedriges Motiv, um sich selbst besser zu fühlen.

Man kann natürlich noch weitermachen und den beruflichen Werdegang recherchieren, Bildersuche und -vergleich eingeschlossen). Wir haben Nico unrasiert, auf Linkedin rasiert. Bei krauth technology im Schwarzwald wurde er offenbar ausgebildet (7. von links). Bei highQ war er auch oder ist er noch.

Der „Klassenkampf“ war also nur ein Versehen und wird in die Rubrik attention whore eingetütet. Wenn man unseren Siam-Nico fragte, was Imperialismus sei, würde er garantiert ins Stottern kommen oder „die Uiguren, die Uiguren“ murmeln.

Übrigens: Die so genannte Opposition in Myanmar würde ich auch nur mit der Kneifzange anfassen.

Trierer Apokalypse und der blassrosa Satan

Trierer Apokalypse
Trierer Apokalypse – erste Darstellung eines Kummets

In godes minna ind in thes christânes folches ind unsêr bêdhero gehaltnissî, fon thesemo dage frammordes, sô fram sô mir got geuuizci indi mahd furgibit, sô haldih thesan mînan bruodher, sôso man mit rehtu sînan bruodher scal, in thiu thaz er mig sô sama duo, indi mit Ludheren in nohheiniu thing ne gegango, the mînan uuillon imo ce scadhen uuerdhên. (Altfränkisch bzw. Althochdeutsch, Straßburger Eide, 14. Februar 842, also ein oder zwei Jahrzehnte nach der Trierer Apokalypse)

Ich muss noch etwas zwischenschieben – „Agrarisch und revolutionär (II)“ folgt alsbald.

Das kam so: Ich wollte Mitterauers „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ weiterlesen, stockte aber, weil mir unangenehm auffiel, dass ich das Standardwerk Lynn WhitesMedieval Technology and Social Change“ über die Entwicklung der Produktivkräfte gar nicht kannte. [Triggerwarnung: Der folgende Satz hat sehr viele Wörter!] Seine zentrale These gilt zwar als widerlegt, aber seine Quellensammlung zur Geschichte der Technik sind immer noch die Basis, um die Frage zu beantworten, was eigentlich zwischen dem Untergang des Römischen Reiches und dem Hochfeudalismus geschah, ob man überhaupt von einem „Untergang“ reden sollte, und ob der Feudalismus – also das, was wir hinreichend definieren und einschätzen wollen, wie und warum ein revolutionärer (?!) Fortschritt war und ob die mitteleuropäische Geschichte, die am schnellsten zur Industriellen Revolution und zum Kapitalismus führte, eben, wie Mitterauer fragt, ein „Sonderfall“, also eine Ausnahme ist, oder ob es weltweit ähnlich abläuft, nur mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Ich hatte schon leise vor mich hinmurmelnd vermutet, dass, da es in China immerhin bis zum Staatskapitalismus und einer sich „kommunistisch“ nennenden Partei langte, in Europa nichts dergleichen zu beobachten ist, die asiatische Produktionsweise der asiatische Weg eher derjenige sein könnte, der der in die ferne Zukunft weisende kommunistischen Utopie immerhin näher kommt als alles andere.

Bei der Lektüre von Medieval Technology and Social Change (in deutsch) musste ich dann aus purer Neugier einige der extrem exotischen Quellen nachprüfen. Daher jetzt also die karolingische Trierer Apokalypse aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts, die überraschenderweise einige Fragen zur Kontinuität zwischen der Antike und dem frühen Feudalismus ein wenig beantwortet.

Trierer Apokalypse
Trierer Apokalypse – Darstellung fränkischer Krieger mit den typischen Wadenbinden

Auch der Stil der Bilder des Kodex weist in die Zeit [nach 804]. Die Zeichnung der jugendlich runden, unbärtigen Gesichter, die noch relativ differenzierte Gewanddrapierung, das Bemühen um getreue Wiedergabe kontrapostischer Stellungen und Bewegungen, die Andeutung von Schmerz und Leid im Gesichtsausdruck, all dies kommt der mutmaßlichen spätantiken Vorlage so unvermittelt nahe, wie es vor allem in der frühkarolingischen Buchmalerei anzutreffen ist. (Kommentar von Peter K. Klein in der Faksimile-Ausgabe)

Die Trierer Apokalypse ist neben der Valenciennes Apokalypse der älteste Zyklus zum Thema überhaupt. Sie fußt auf einer wesentlich älteren Vorlage. Die Wissenschaft kann anhand vieler Details aber feststellen, was das Original imitiert und was von den karolingischen Mönchen zugefügt wurde und was definitiv nicht spätantik ist. (Ich finde das spannend, aber im Buch nimmt das mehrere Seiten in Anspruch.) Zum Beispiel halten die Personen (Schrift)Rollen in den Händen und keine Bücher. Die Heiligen sind bartlos. Gott auf dem Thron sitzt auf einem Globus ohne Clipeus, war seit dem 4. Jahrhundert in der Kunst bekannt ist. Die Pferde sind ohne Steigbügel, obwohl die zur Zeit Karl des Großen allmählich bekannt und übernommen wurden. Die Frisuren der Frauen sind noch antik.

So weisen der Satan und böse Dämonen eine blaßrosa oder blaugraue Färbung auf, so wie man sie sich in der Spätantike vorstellte. Der Drache (…) erscheint als antike Flügelschlange, besitzt also noch nicht die Reptiliengestalt der früh- und hochmittelalterlichen Darstellungen. (SCNR)

Der Hetoimasia, der Thron Christi, stammt aus dem „heidnisch-antiken Hofzeremoniell“ und wurde seit dem Ende des 4. Jahrhunderts durch apokalyptische Motive (vier Wesen, Siegel-rolle, Lamm) eschatologisch umgedeutet.

Merke: Man nimmt etwas, was ursprünglich etwas ganz anderes bedeutet, und interpretiert das einfach um. Robert Ranke-Graves argumentiert in „Die Weiße Göttin“, dass das Christentum nur ein Abklatsch oder eine umgestaltete Version des römischen Mithras-Kultes gewesen sei.

Wir wissen jetzt so viel, dass wir wissen, dass wir gar nichts wissen. Natürlich ist das Pferdegeschirr am interessantesten. Wieder die Frage: Warum ist das den Römern nicht eingefallen? Lynn White schreibt, es stehe fest, dass das „Altertum die Pferde in einzigartig ungeschickter Form angeschirrt hat.“ Man nahm das Jochgeschirr der Ochsen und legte dem Pferd zwei Stränge um Brust und Hals. „Sobald das Pferd anzog, drückten die Stränge auf Schlagader und Luftröhre, so daß die Atmung und die Blutzufuhr zum Kopfe gedrosselt wurde.“

Das in der Trierer Apokalypse abgebildete Kummet beweist an diesem Beispiel, dass der Frühfeudalismus gegenüber den antiken Techniken revolutionär war: Die Arbeitsleistung eines Pferdes ist, trotz gleicher Zugkraft wie die des Ochsen, um 50 Prozent größer. Vom englischen König Alfred dem Großen, der dem Publikum vermutlich aus dem Ragnar-Lothbrok-Zyklus bekannt ist, wird berichtet, er sei erstaunt gewesen, dass (Ende des 9. Jahrhunderts) in Norwegen Pferde zum Pflügen benutzt wurden.

Wenn an also vom „Untergang“ des römischen Reiches spricht, bezieht man sich auf die politisch und ökonomische Sphäre. Ob das so negativ war, ist strittig. Der Feudalismus war so fortschrittlich, dass er nach der Jahrtausendwende eine Bevölkerungsexplosion nach sich zog, aber nördlich der Alpen. Der Süden wurde abgehängt, würde man heute in den Medien sagen.

Trierer Apokalypse
Trierer Apokalypse: In der ersten Zeile eine lateinische Geheimschrift – die Vokale werden durch die ihnen im Alphabet folgenden Konsonanten ersetzt. Danach ein Zusatz aus dem 15. Jahrhundert „apocaylsis cum pictoris“. Darunter 19 Zeilen Minuskel aus dem frühen 12. Jahrhundert – (Erläuterung Richard Laufners in der Faksimile-Ausgabe)

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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)

Der Imam ist es nie oder: Die Klassenfrage im „Tatort“

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Beim Abendessen habe ich mir jeweils einen „Tatort“ per Laptop zu Gemüte geführt. Meine wenigen Vorlieben beschränken sich – inklusive Polizeiruf 110 – auf Dortmund (wegen Jörg Hartmann alias Peter Faber), Rostock (wegen Charly Hübner alias Alexander Bukow), Köln und Münster (eigene Kategorie).

Wenn man die Websites der Anstalten öffnet, schwappen einem, neben unsäglichem Quatsch in großer Anzahl, jede Menge Krimis entgegen. Man soll nachzählen, wieviele Tote es fiktiv täglich gibt – mehr als in der Realität auf jeden Fall. Offenbar will das Publikum so etwas.

Kriminalfilme sind pure Pädagogik, also gut gemeint. Das Böse darf nicht siegen. Zum Klassenkampf darf auch nicht aufgerufen werden, zu allem anderen schon. Der Krimi stellt auch nicht die Systemfrage, zumindest nicht im deutschen Fernsehen, weil man sich dann Gedanken machen müsste, was nach dem Kapitalismus kommen könnte. Der Rahmen des Plots ist also eng und vorgegeben.

Ich war bei den beiden obigen „Tatorten“ jedoch überrascht, dass die Klassenfrage, wenn auch nur indirekt, unübersehbar durchschimmerte. Bei Borowski und das Glück der Anderen geht es um einen Mord „von unten nach oben“. Die Mittelschicht bringt sich also, was die Regel ist, nicht gegenseitig um, sondern jemand, der „die da unten“ verachtet und das auch ausspricht, kriegt seine gerechte Strafe muss daran glauben. Ein Rezensent macht daraus „Vorstadtfrust“. Ich sehe da mehr. Was, wenn alle plötzlich meinten, sie müssten jetzt ein Stück vom Kuchen abkriegen und ganz richtig merken, dass das mit Fleiß und Arbeit nicht zu schaffen ist in diesem System?

Der Dortmunder „Tatort“ Heile Welt ist noch besser, allerdings kommt am Schluss die von den Anstalten gewünschte Weltsicht und Moral mit dem Holzhammer. Nicht der Plot ist außergewöhnlich, sondern die Rolle der Kommissarin Anna Schudt alias Martina Bönisch, die plötzlich und unfreiwillig zwischen allen Fronten steht. Die Bilder erinnerten mich an eine hier schon erwähnte Seminararbeit während meines Studiums:

revolution

Was ist, wenn Riots und Randale ausbrechen und man mittendrin ist? Kann man etwas Vernünftiges tun? Werden diejenigen obsiegen, die auch das Richtige denken? Nein, werden sie nicht. Die Revolutionäre werden am Ende von denjenigen weggefegt, die im Hintergrund gewartet haben, wer gewinnt und sich dann auf die richtige Seite geschlagen haben. Die Revolution frisst immer ihre Kinder.

Ich kann mich erinnern, dass „meine“ K-Gruppe sich immer minutiös, strategisch, taktisch, inhaltlich auf studentische Vollversammlungen (wir sagten: VauVaus) vorbereitete, und immer stand dann jemand auf, meistens eine charismatische Frau, die vorgab, zu keiner Gruppe zu gehören, und die dann unter dem Jubel der Massen eine meistens von uns unerwünschte Richtung vorgab.

Ich glaube, der alte Friedrich Engels hat komplett recht. Wogt die Masse erst hin und her, kann man das kaum steuern.

Man müsste sich trauen, ein anarchisches Drehbuch zu verfassen. Im deutschen Fernsehen sind die Rollen mehr oder minder vorgeben, wenn auch nur im Entferntesten Einwanderer oder der Islam im Hintergrund lauern. Ein Imam darf reaktionär, streng, bekloppt sein, aber nie der Täter. Wenn das doch so wäre, gäbe es Randale. Und ich ginge dann solange, je nach Jahreszeit, paddeln oder Käsekuchen backen, und guckte mir viel später und vergnügt das Ergebnis an.

tatort

Ein echter Junge spielt mit Metall

spielzeug

1963, in meinem Kinderzimmer. Ich sehe da einen Panzer, ein Feuerwehrauto und ein Schiff, gebaut aus einem Märklin Metallbaukasten. (Bitte meine unvorteilhafte Frisur ignorieren.) „Alle echten Jungen spielen mit dem Metallbaukasten und werden so spielerisch zu Ingenieuren – das war lange Jahre die landläufige Meinung über das Konstruktionsspielzeug aus dem Hause Märklin.“ Har har. Das denke ich heute auch noch, obwohl das politisch inkorrekt ist. Im Hintergrund des Fotos spielt meine kleine Schwester mit Puppe und Puppenwagen, ein echtes Mädchen eben.

Kubistische Nackte und die Künstlerlinke [Update]

Georgy Kurasov

Großartige Bilder von Georgy Kurasov! Die würde ich alle bei mir aufhängen. Aber wieso muss ich erst Tor bemühen, um auf die österreichische Seite klassikmagazine.com zu gelangen? Haben die deutschen Jugendschützer die wieder zensiert bzw. bei Google angeschwärzt, weil die Jugend beim Anblick kubistischer Titten sittlich gefährdet wird?

Nun zu einem immer wieder beliebten Thema.

– Der Humanistische Pressedienst schreibt über „Allah und die Linke“. – „Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam – aus Furcht, damit Rechten Zündstoff zu liefern, schweigt sie. Galt nicht Religionskritik spätestens mit Voltaire einmal als Selbstverständlichkeit?“

Nein, die aufklärerische Vernunft ist dem Rückzug. Dummerweise sind die, die der Text betrifft, völlig beratungsresistent.

[Update] Ein Kopftuchverbot ist zulässig.

– Die Taz lässt den Philosophen Robert Pfaller über „Pseudolinke“ zu Wort kommen:
„Statt Kinderbetreuungseinrichtungen bekamen wir das Binnen-I, statt Chancengleichheit bot man uns »diversity«, und anstelle von progressiver Unternehmensbesteuerung erhielten wir erweiterte Antidiskriminierungsrichtlinien. Das entspricht dem Grundprinzip neoliberaler Propaganda: Alle Ungleichheit beruht demnach lediglich auf Diskriminierung. (…) Denn die sogenannte Kulturlinke ist ja der Profiteur dieser neoliberalen Ideologie.“

Auch das wird niemanden interessieren, und die taz wird von ihrer Sternchen- und Doppelpunktsprache nicht lassen. Das Zentralorgan der Pseudolinken wird sich nicht ändern – es spiegelt die Ideologie der Kundschaft und der Rezipienten wieder. Es geht um Esoterik, hört ihr? Mit Esoteriker_:*Innen kann man weder diskutieren noch argumentieren.

– „Wenn der Faschismus wiederkehrt, wird er nicht sagen: ‚Ich bin der Faschismus‘. Nein, er wird sagen: ‚Ich bin der Antifaschismus'“. (Ignacio Silone, antistalinistischer Kommunist, 1900-1978)

Agrarisch und revolutionär (I)

Holzwickede roggen
Getreidefeld (IMHO Roggen) in Holzwickede

Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen? (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 1920)

Da spricht der bürgerliche Historiker per ecellence. „Kultur“ gehört zur luftigen Sphäre des Überbaus. Wir fragen nach der materiellen Basis. Und ob das, was der Okzident hervorgebracht hat, „universell“ gültig sei, lassen wir als ungelöste strittige Frage weg.

Die Ausgangsfragen hier waren: Warum entstand der Kapitalismus in Europa zuerst, was genau ist der Feudalismus, der ihm vorausging? Bedarf das einer Sklavenhalterwirtschaft – oder ist letztere ein historische Sonderfall, also ein Zufall? Entwickelt sich jede Gesellschaft weltweit (!) nach immer ähnlichen Schemata, bei denen der Feudalismus offenbar nie fehlt, wohl aber oft eine Ökonomie, auf der das römische Weltreich fußte – wie etwa in Japan oder China?

Die gute Nachricht ist: Mir ist ein Buch in die Hände gefallen, das einige dieser Fragen stellt und auch höchst interessant beantwortet, so dass den historisch interessierten Lesern und geschichtskundigen Leserinnen eine weitschweifige Analyse der Sekundärliteratur zur Asiatischen Produktionsweise, welchselbige wir noch nicht richtig eingetütet haben, erspart bleibt – nein, nicht ganz, aber sie wird verkürzt werden.

mitterauerUnstrittig bei allen Historikern ist die Agrarrevolution im so genannten Frühmittelalter. Lynn White hat das schon 1962 in“ Medieval Technology and Social Change“ analysiert. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, da das nicht in Italien geschah, also im Kernland des römischen Reiches und der Sklavenwirtschaft, sondern im Nordwesten Europas. Revolutionär waren Roggen und Dinkel, der schwere Pflug (der von Tieren gezogene Räderpflug mit Kumt), der Einsatz von Pferden im Ackerbau und die Dreifelderwirtschaft.

Der Roggen breitete sich ab dem 5. Jahrhundert bis nach dem fränkischen Gallien aus – Mitterauer spricht von „Vergetreidung“. Roggen ist erheblich widerstandsfähiger als Weizen, erschöpft auch den Boden weniger, und reift in kühlen Gegenden schneller. Nördlich der Alpen wurden auch die Mühlen weiterentwickelt (u.a. weil es dort auch mehr Wasser gab). Resultat: das „weiße“ Brot des Mittelmeerraums wird durch das „schwarze“ Brot des Nordens langfristig ergänzt („allgemeine Durchsetzung der Brotnahrung“).

Jetzt aber zwei Fragen: 1) Die Arab Agricultural Revolution zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert und die Green Revolution zur Zeit der Song-Dynastie in China fanden fast zur selben Zeit statt, aber natürlich unabhängig voneinander. Kann man das vergleichen? Und worauf wirkt sich das aus? 2) Technische Erfindungen fallen nicht vom Himmel. Warum gab es im antiken Rom keine Dreifelderwirtschaft, warum pflügte man mit Ochsen und nicht mit Pferden? Beides wäre doch viel effektiver gewesen? Warum ist das den Römern nicht eingefallen?

dreifelderwirtschaft

Roggen und Weizen sind spezifische Kulturpflanzen der kühl-gemäßigten Klimazonen Europas. Ihre Expansion im Zuge der mittelalterlichen Agrarrevolution hat die Landwirtschaft des Mittelmeerraums kaum beeinflusst. (…) Insgesamt standen die klimatischen Verhältnisse dem Anbau von Sommergetreide entgegen, und damit dem Übergang von der Zwei- zur Dreifelderwirtschaft.

Um die Jahrtausendwende hatte – als Folge der Agrarrevolution – sich der Getreideertrag vervielfacht; die Bevölkerungszahl in Mitteleuropa vervierfachte sich zwischen dem Ende des römischen Reiches und dem 12. Jahrhundert. Trotz Betons, Fußbodenheizung, öffentlichen Bädern, riesigen Bibliotheken und einer Militärmaschinerie, die ihresgleichen suchte, war das römische Weltreich dem illiteraten Frühfeudalismus haushoch unterlegen, was die Landwirtschaft angeht? Wie das?

Die Wassermühle als zentrale Einrichtung lokaler ländlicher Regionen verweist auf eine soziale Rahmenbedingung der frühmittelalterlichen Agrarrevolution, nämlich die Villikation, die in Herrenland und Bauernland zweigeteilte Grundherrschaft. Die Verbreitung der Wassermühle ım Frankenreich erfolgte primär durch weltliche und geistliche Grundherren – vor allem den König und seine Amtsträger auf den einzelnen Königshofen sowie die Klöster in den Mittelpunkten ihrer Grundherrschaften. Auch andere zentrale Einrichtungen zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte waren vielfach in herrschaftlicher Hand. Das gilt etwa für den Backofen, der sich mit der Durchsetzung der Brotnahrung zunehmend verbreitete, die Weinkelter oder die für das Bierbrauen erforderlichen Anlagen. Die zweiteilige Grundherrschaft war für solche Prozesse der Arbeitsteilung ein günstiger, wenn auch kein notwendiger Rahmen. Absolut erforderlich war sie hingegen für die Durchsetzung der Dreifelderwirtschaft, die wohl zunächst nur auf dem Herrenland und erst sekundär dann auch auf dem Bauernland erfolgte. Ohne herrschaftliche Eingriffe wäre diese grundlegende Neuordnung wohl kaum durchführbar gewesen.

Obwohl Mitterauer ein bürgerlicher Historiker ist, argumentiert er hier „marxistisch“: Die Produktionsverhältnisse (er nennt das konkret die „zweigeteilte Grundherrschaft“ – also die Idealform des Feudalismus) sind die wahre Ursache der Agrarrevolution. Umgekehrt wäre also auch die These korrekt, dass die Produktionsverhältnisse in der Sklavenhaltergesellschaft eine Fessel waren, die nicht gelöst werden konnte, ohne das System in die Luft zu sprengen.

Wir müssen hier ein berühmtes Zitat aus dem Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx abklopfen, ob es mit der Realität übereinstimmt:
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“
„Soziale Revolution“ meint offenbar nicht das Klischee, dass Männer in langen Wintermäntel und mit Gewehren Paläste stürmen, sondern dass die Eigentums- und Produktionsformen radikal umgewälzt werden. Insofern ist die „Spätantike“ durchaus eine solche Epoche. Sehr interessant ist, dass die aktuelle bürgerliche Forschung das ähnlich sieht und von einer Transformation spricht.
Joseph Tainter scheint der Marxschen These sogar sehr nahe zu kommen. Sein Hauptwerk Collapse of Complex Societies definiert diese „soziale Revolution“ als „Kollaps“: a rapid, significant loss of an established level of sociopolitical complexity, also genau das, war mit dem Römischen Weltreich geschah.

By the way: Wir reden in dürren Worten über eine Epoche von mindestens 700 Jahren, also von der Teilung des römischen Reiches und dem Untergang der Sklavenhalterwirtschaft in Westeuropa bis zur Eroberung des byzantinischen Reiches im 15. Jahrhundert. In Byzanz entwickelte sich aber der klassische Feudalismus nicht, sondern eben nur und zuerst in Nordwesteuropa.

Hilfreich ist, kurz zu klären, um was es exakt geht: Am Ende des Prozesses sind freie Bauern in der Minderheit; überall hat sich eine Klasse von Warlords (Feudelherrn) gebildet, von denen die Bauern abhängig sind, zuerst durch Naturalabgaben und Dienstverpflichtung, später immer öfter auch in Form von Abgaben in Geldform.

Was ist aber der Unterschied zwischen dem Kolonat der spätrömischen Antike und der frühfeudalen Villikation“ (letzteres ist ein Fachausdruck für die von Mitterauer erwähnte „zweigeteilte Grundherrschaft“)? Der Kolone war ein bäuerlicher Pächter auf den römischen Latifundien, also den großen Gütern, und besaß kein eigenes Land mehr. Die rechtliche und ökonomische Stellung der Kolonen verschlechterte sich immer mehr, bis diese faktisch von den späteren abhängigen Bauern im Feudalismus nicht mehr zu unterscheiden waren.

Über die Villikation schreibt Wikipedia ganz richtig: „Nicht das geliehene Gut lag der Abhängigkeit des Bauern von seinem Herrn zugrunde, sondern seine persönliche Zugehörigkeit zum Herrschaftsverband. Der Bauer war also nicht einfach Pächter eines landwirtschaftlichen Gutes gegen Grundzins, sondern seinem Herrn hörig, was zusätzlich bedeutet, dass der Herr ihn zu Arbeitsleistungen verpflichten konnte und er der Gerichtshoheits eines Herren unterstand.“

Das ist also offenbar das „Endstadium“ – der „typische“ Bauer im Feudalismus besitzt genausowenig etwas wie die „idealtypische“ Proletarier, keine Produktionsmittel, mit denen er über die Runden käme; im Gegensatz zum Arbeiter im Kapitalismus ist er aber zusätzlich noch persönlich unfrei.

Teil II folgt in Kürze.
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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)

Trutz Blanke Hans

büsum strandpromenade

Mit fiel gerade wieder angenehm auf, dass ich hier jeden Unsinn schreiben und niemand etwas dagegen tun kann. Draußen im Lande können Kriege und Revolutionen toben oder die Insassen der Medienblase sich gegenseitig ellenlange Artikel um die Ohren hauen, die keinen Menschen interessieren – solange ich meine Strom- und Internetrechnung bezahlen kann, bleibe ich entspannt.

Langweilen kann ich auch -mit Strandfotos, die mehr als 60 Jahre alt sind und vermutlich von ähnlich vielen Surfen angesehen werden wie der NZZ-Artikel über eine Person, deren Namen mit jetzt schon wieder entfallen ist, gelesen wird. (Wenn die Leser das anders sehen. nur zu! Aber was an dem Thema – wie hieß er noch gleich? Daniele Ganser oder so? – ist spannend?)

An der Nordsee gibt es bekanntlich Ebbe und Flut. Der Mond, die Gezeiten, Nautik. Gut, so etwas Kindern zu erklären. Und wenn es dann live ist und selbst der beherzteste Wille, sich dem Ungestüm des heranschwellenden Wassers entgegen zu stemmen, nichts nützt, aber immerhin das heroische Gefühl bleibt, etwas versucht zu haben gegen den „Blanken Hans“, während andere sich schon auf den höchsten Punkt der Sandburg geflüchtet hatten, dann ist das pädagogisch wertvoll. (Fotos: Meine Cousine und ich, 1957 im Nordseebad Büsum.)

watt

Safer Internet Day

Heute ist der Safer Internet Day. Aus diesem Anlass weise ich noch einmal auf die Tutorials des Vereins German Privacy Fund hin sowie auf meine einschlägigen Seminarangebote.

…Die Zielsetzung dieses Tages ist, eine langfristige Sensibilisierung und Medienkompetenz für die Gefahren im Internet für Lehrer, Eltern und Kinder.. bla bla bla

Besser: Das Ziel ist, Lehrer, Eltern und Kinder für die Gefahren im Internet zu sensibilisieren und dieses Medium sachkundig zu nutzen.

Guanxi und Corona, die 573ste

covid-19

Wer gegen COVID-19 geimpft worden ist, kann sich wieder anstecken, der Verlauf der Krankheit ist aber dann leicht oder asymptomatisch. Das Sterberisiko ist übrigens drei Mal höher als bei einer Grippe, wenn man nicht geimpft worden ist.

Man sollte vielleicht ein paar unübliche Fragen stellen. Warum sollte sich ein Ausschuss, der die Geschäfte der herrschenden Klasse führt, überhaupt um eine Pandemie kümmern?
Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Sagte Kaiser Wilhelm I..

Der tragende Grundsatz des Gesundheitssystems in Deutschland ist, dass die Herrschenden sich darum kümmern, dass die arbeitenden Klassen, die ihnen ihren Profit sichern, nicht durch Krankheiten allzu sehr dezimiert werden. Oder nicht? Faselt jemand etwa von „sittlichen Fundamenten“? Seriously?

Man könnte das natürlich auch anders sehen. Der Staat mischt sich gar nicht oder nur kaum ein. Alles bleibt den Märkten privaten Initiativen überlassen. Warum eigentlich nicht? Warum keine große Freiheit, für sein individuelles Schicksal ganz allein verantwortlich zu sein?

Hat das etwas mit dem Gesellschaftssystem zu tun? Angeblich steht es in Japan der der Gesundheit am besten – und Japan ist bekanntlich ein kapitalistischer Staat. In solchen Statistiken taucht Kuba meistens nicht auf. Es könnte die Bevölkerung verunsichern, wenn bekannt würde, dass das dortige System, gemessen an den Mitteln, die man hat, vermutlich das beste weltweit ist. Nur herrscht dort dieser „Sozialismus“, ganz gleich, was man davon hält, wie die Idee umgesetzt wird. Auch Kerala wird kaum jemand kennen – das beste Gesundheitssystem Indiens, weil kommunistisch regiert.

These: Je mehr sich die jeweils Herrschenden gegenüber der Bevölkerung legitimieren wollen und müssen, um so besser ist die Gesundheitsfürsorge. Gesellschaftliche Werte sind wichtig, weil sie sich langsamer ändern als die Ökonomie, aber letztlich relativ. Das Sein bestimmt auch hier das Bewusstsein.

Copacabana und Waschen

copacabana

Waschtag in Copacabana am Titicacasee, Bolivien, fotografiert Anfang April 1984. Aus meinem Reisetagebuch:

… Bis Yunguyo ist dann die Straße das Letzte. Obwohl der camion [der grün-gelbe rechts] total voll ist, werden wir durchgeschüttelt. Nett ist noch der Opa mit drei dicken Schafen, der von Llave [auf der Ladefläche des LKW] mitfährt und der den mitreisenden Indio-Frauen ganz richtig erklärt, warum die Alemanes nicht so früh mit dem Kinderkriegen anfangen. Von Yunguyo aus fährt ein Bus nach Copacabana (…)

Wir kriegen [an der Grenze zwischen Peru und Bolivien] nur [ein Visum für] 30 Tage, wohl, weil sie nicht über den nächsten Putsch hinaus etwas erlauben wollen. Wir könnten aber ohne Probleme verlängern…

Die Einreise nach Bolivien ist dieses Mal [ich war am 24.01.1980 schon einmal an diesem Grenzübergang] überhaupt nicht aufregend, obwohl ich gern zu Fuß über die Grenze gegangen wäre – ein großer Steinbogen bildet dieselbe.

In Copacabana hat sich vieles verändern: es gibt Strom, jedes zweite Haus ist ein alojamiento. der Markt ist ziemlich leer und es gibt fast nichts. Ich erinnere mich wieder an Api, ein dunkellila Maisgetränk. Wir finden ein superbilliges Hotel, direkt an die Kathedrale angebaut. [Es könnte das heutige Hostal Cali gewesen sein, direkt an der Mauer der Kathedrale.]

Die wichtigste Beschäftigung ist Waschen, was B. gerade macht. Ich sitze in der Sonne an einem runden Steintisch. Zu Essen gibt es nur trucha und asado de cordero, was wie Huhn schmeckt, aber irgendein Rippenstück ist.

Abends in der Kneipe sprechen wir noch ein wenig mit einem Franzosen, der unbedingt nach Polynesien auswandern will. (…) Die zwei Deutschen, die sich am Nebentisch laut mit einem bolivianischen Zollmacker unterhalten, sind rechtsradikal und zum Kotzen. Zum Glück bestreitet B. die Unterhaltung mit ihnen. Der Bolivianer hält mich zunächst für einen Landsmann (wohl für einen, der eine Gringa aufgegabelt hat), was mir natürlich schmeichelt…

Einfach mal die Presse halten und Góiennaches

presse

In den sozialen Medien hatte ich angemerkt, dass es in der Berliner Verwaltung jetzt doch nicht mehr eines Arier- oder Migrantennachweises bedarf. Das rief allerlei Sektierer der buntscheckigsten Art und Geschlechter auf den Plan. Aus anthropologischer Sicht ist das langweilig, da diese Mischpoke mit einer intellektuellen Software ausgestattet ist, die höchstens einen Einzeller zum Laufen bringen könnte, und auch nur mit Mühe.

Ich warne aber dafür, sich durch eine Diskussion mit SektenmitgliederI:_&%innen etwas zu erhoffen. Es handelt sich um Menschen, die glücklich sind. Die anderen, die ihrer Erleuchtung noch nicht teilhaben und nicht mit dem esoterischen Wissen ausgestattet sind, werden nur mitleidig betrachtet. Sektierer bedauern Nicht-Sektierer. Alles, was man sagt und zu ihren Ungunsten vorbringt, bestätigt sie. Man kann denen nicht helfen. Das müssen sie selbst tun. Ich weiß, wovon ich rede… Also einfach die Presse halten.

mug

Ich spiele immer noch mit Alexa herum. Ja, ich überprüfe auch den Datenschutz: Man kann dem Teilchen auch fasst alles, was problematisch ist, verbieten, zum Beispiele das Mikrofon ausstellen oder alle Aufzeichnungen löschen. Das ist genauso „mühsam“, als erzeugte man einen neuen PGP-Schlüssel. Man muss es nur tun, wenn Bedarf dafür ist. Und vorher das fucking manual lesen.

Es war gar nicht so einfach, die Geräte, die über Smart Home der Fritzbox angeschlossen sind, kompatibel mit Alexa zu machen. Die Anleitung des PC-Magazins ist die einzige, die funktioniert und auch alle Eventualitäten erwähnt. Man muss ein bisschen fummeln, weil das Feature nicht offiziell ist.

Um mich herum dröhnt der Warp-Kern. Sehr beruhigendes Geräusch! Ich kann auch die Warp-Geschwindigkeit erhöhen. Jetzt muss ich noch herausfinden, ob Alexa auch die Stimme von Olga Kurylenko annehmen kann.

küche

Nein, mein heutiges Chili con carne ist mit Schweinefleisch. Deswegen sage ich trotzdem L’Chaim. Ich gebe dann eben den Shabbes-Goi.

küche

Schade, dass Alexa und die anderen Geräte, mit denen ich mich selbst überwache, nur auf Befehl handeln und nicht selbständig. Wie das Publikum unschwer erkennen kann, hängt da eine große Küchenuhr. Die ist neu. Warum? Das kam so: Man stelle sich jemanden vor, der in jeder Hand einen Topf mit frisch zubereiteten Speisen balanciert, sich langsam vom Ofen weg bewegt, links unten, fast in Nähe des Fußbodens, eine flatternde Bewegung erspäht, die sich in Richtung der halbhoch gekachelten Wand unterhalb der Küchenuhr orientiert, und siehe: Es war eine Küchenmotte, ein Insekt aus der Familie der Zünsler (Pyralidae), dessen Existenz in meinen Gemächern genausowenig erlaubt ist wie ein Gendersternchen und as soon as possible zu vernichten wäre dergestalt, da die Hände temporär anderweitige Aufgabe erfüllten, dass der rechte Fuß gezielt und erfolgreich nach ihr trat mit dem Ergebnis, dass das Flattertier platt wie eine Briefmarke an die Kacheln befördert wurde und in die ewigen Jagdgründe, nur mit der überraschenden Konsequenz, dass die alte Küchenuhr, die über dem Geschehen die Zeit überwachen sollte, sich ohne Vorwarnung vom Schraubhaken löste und, getreu den Gesetzen der Gravitation, nach unten krachte und in tausend Scherben. Sonst fiel nichts runter, obwohl ich das erwartete.

torte

Meine Mandarinen-Sahnetorte schmeckt hervorragend. Nur an dem Äußeren muss ich noch arbeiten. Beim zweiten Mal wird sie gediegener aussehen.

Nicht smart

smart home

Ich bin sozusagen ein Digital-Native-Neanderthalensis und noch zu einer Zeit sozialisiert worden, als Betriebssysteme keine Leerzeichen in Dateinamen mochten. Ich habe mir angewöhnt, statt eines Leerzeichens immer einen Unterstrich zu machen und Sonderzeichen in Dateien zu vermeiden. Daher fragte mich Alexa gestern: „Soll ich die Lampe workunterstrichdesk anmachen?“ Das nervt. Ich musste also alles umbenennen und auf den IQ eines Computers downgraden.

Keine Sorge, bei mir dürfen „smarte“ Geräte nur das, was ich ihnen erlaube. Ich habe einige Lampen über die Fritzbox laufen, weil ich es leid bin, immer halb hinter Bücherregale kriechen zu müssen, um an Lichtschalter zu kommen und weil die Option, mein Schlafzimmer plötzlich mit Rotlicht erleuchten zu können, auch lustig ist.

Ich nutze für einige Steckdosen Produkte des Marktführers und muss noch ein wenig herumfummeln, zumal die volksrepublikchinesischen Teile nicht so recht mit dem Router harmonieren, da ich auch zwei Repeater laufen habe. Als zeitweilige Lösung habe ich allen Geräten, denen ich nicht über den Weg traue – und das sind eigentlich fast alle -, per Kindersicherung das Internet verboten (dafür ist die eigentlich nicht gedacht, es ist aber ein eleganter „Hack“, ich will auch nicht löten müssen).

Für die Wetteransage, als Wecker und zum Abspielen von Musik per Voice-Befehl ist Alexa ganz gut… Ob das Teil sich zu mehr eignet, muss ich noch herausfinden.

" vor die Glocke

newsletter die linke

Schön, dass bei der Partei „Die Linke“ alles transparent ist, auch die Newsletter. Der Nachteil der Transparenz: Leute wie ich meckern dann herum, und ich finde immer etwas zum Herummeckern.

Die Cyberlinken erstellen ihren Frontalunterricht Cybernewsletter per Typo3 („X-Mailer: TYPO3“) Das ist immerhin um Klassen besser als mit Outlook. Man könnte ihnen jetzt etwas über den Zeichensatz in HTML sagen oder über Querköpfe Leute wie mich, die sich ihre E-Mails nicht in HTML anzeigen lassen – nach dem Motto: Erste Wörter rasch gelöschter E-Mails: „Sollte diese E-Mail nicht richtig angezeigt werden, klicken Sie…“. Aber das lassen wir mal. Lieber auf den Inhalten herumtrampeln.

Die wohlwollenden Oberstudienräte für Deutsch im Publikum und die geneigten sprachkundigen Leserinnen wissen vermutlich schon, was kommt: Ung, ung, ung. Sie können es einfach nicht lassen. Bei „Vergesellschaftung“, so gut, schön und geeignet diese auch sei, können wir nachsichtig sein, aber dennoch sollte man immer Rössin und Reiterin nennen und ganz leninistisch fragen: Wer wen? Die deutsche Sprache kennt, und das mag die „Linke“ überraschen, Verben, auch bekannt als Tuwörter. Die sollte man um der Dynamik und Eleganz des Ausgesagten willen so benutzen wie in der Glocke:

Hört ihr’s wimmern hoch vom Thurm!
Das ist Sturm!
Roth wie Blut
Ist der Himmel.
Das ist nicht des Tages Glut!
Welch Getümmel
Straßen auf!
Dampf wallt auf!
Flackernd steigt die Feuersäule,
Durch der Straße lange Zeile
Wächst es fort mit Windeseile,
Kochend wie aus Ofens Rachen
Glühn die Lüfte, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
Thiere wimmern
Unter Trümmern,
Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet…

Kommt da ein Wort vor, das mit -ung -oder -keit endet? Mitnichten. Warum nicht? Weil Schiller keins eingefallen ist? Auch nicht: Der wollte, dass sein Gedicht die Leser aus dem Sessel reißt, dass ihnen der Schweiß ausbricht und die Münder offenstehen, und vor allem, dass es sich so anhört wie das, was dort beschrieben wird.

„Die Corona-Pandemie ist global und ihre Eindämmung muss auch global erfolgen. Dafür müssen die Impfstoffe aber auch global schneller zur Verfügung stehen.“

Das ist garantiert nicht von Schiller, weil ich gähnen musste. Ginge es besser? Natürlich, aber muss man sich anstrengen und denken. Zwei mal Lautsprecherduktus mit „muss“ hintereinander. Nein, das hört sich an wie: Die Revolution muss kommen, und alle müssen mitmachen. Überzeugte mich nicht. Satzlänge: Mehr als neun Wörter sollten die Stirne runzeln lassen und das Herz vor schlechtem Gewissen wummern. Wie dumm und begriffsstutzig oder auch arrogant muss man sein, um trotzig alle Regeln zu missachten, wie Texte verständlich sind oder auch nicht? Kann die mal jemand ohrfeigen, dass sie wachwerden (das ist jetzt eine unzulässige verbale „Mikroaggression“)? Oder heißen Kaffee über die Holzköpfe schütten?

Die COVID-19-Pandemie ist global. Global müssen wir sie auch eindämmen.

„Muss erfolgen“ steht auf der schwarzen Liste derjenigen abgedroschenen und sinnfreien Textbausteine, die niemand verwenden darf, bei Strafe des Indenseegeworfenwerdensmitgewichten. Das gilt auch für „zur Verfügung stehen“.

Wir müssen weltweit über ausreichend Impfstoffe verfügen. Ja, tatsächlich! Zu „Verfügung“ gibt es ein Tuwort!

„Wir wollen uns eben nicht damit zufriedengeben“: „Eben“ ist überflüssiges Füllwort, wie ein Furz an falschen Stelle. Zudem muss ich jetzt rätseln: „Wir wollen nicht zufrieden sein mit“? Ist das gemeint? Ach so: Das Wichtige, was die Leser aufrütteln soll, wird im hinteren Teil des Satzes versteckt: „dass ein großer Teil der Menschen im globalen Süden erst irgendwann ab 2022 mit einer Impfung rechnen kann.“ Spätestens beim Süden sind alle weggezappt. Der Satz ist schon wieder zu lang: Zerschlagen wir ihn!

Viele Menschen im globalen Süden [weiß der Henker, was das ist] in der Dritten Welt können erst 2022 geimpft werden. Das akzeptieren wir nicht!

„Dafür halten wie [sic!] auch eine Vergesellschaftung der Produktion, [Kommafehler] der zu einem großen Teil mit öffentlichen Mitteln entwickelten Impfstoffe für notwendig.“

Alles falsch. „Für notwendig halten“ In den See mit euch, mit ganz vielen schweren blauen Bänden an den Füßen! Ein Satz mit zwanzig Wörtern, und das angedeutete Tuwort gaaaaanz hinten gut verborgen, dass auch niemand auf Anhieb kapiert, was wer will. (Man kann auch Newsletter Korrektur lesen und alles richtig schreiben! Oder fehlt euch die Manpower Womenpower dazu?)

Die Produktion von Impfstoffen wurde zu einem großen Teil mit Steuergeldern finanziert. Sie sollte vergesellschaftet werden.

Wie soll das denn umgesetzt werden? Meint die „Linke“ Staatskapitalismus? Die Firma BioNTech in eine Genossenschaft umwandeln? Oder alles beschlagnahmen? Oder fordern, aber bis zum Kommunismus warten?

Leute, das ist alles heiße Luft. Niemand nimmt euch ernst, wenn ihr so herumfaselt. Es muss schon konkret und sinnlich sein. Und bevor es konkret werden kann, müsst ihr so formulieren, dass es jeder versteht. Schaut dem Volk aufs Maul!

„Mit einem anschauen“ verstehe ich nicht, trotz langen Überlegens. Kann jemand helfen?

Nachlese: Secret Drama und dein Versprechen an die Bienen

mäuse

Ich muss wieder alles, was nicht zusammengehört, in einen Beitrag pressen. Die Mäuse sind für mich eines der besten Fotos, die ich jemals gesehen habe, sogar mit philosophischem Tiefgang: Wenn man das Drama auf Erden auf Mäusegröße schrumpfte, wäre es dann noch ein Drama? Oder flame wars in „sozialen“ Medien?

Oder gar die Riots in Washington, auf einer Modelleisenbahn nachgestellt? (Ich erinnere mich daran, dass ich vor mehr als einem halben Jahrhundert auf meiner ein brennendes Finanzamt hatte, das vor allem im Dunkeln – von innen beleuchtet – sehr hübsch aussah.)

Die öffentlich-rechtlichen Anstalten Chinas CGTN meint: „The Capitol riot is a collective American failure“. Höre ich da ein wenig Schadenfreude heraus?

„Did Trump light the fuse? You bet. Did the Republicans fan that flame for their own political advancement? Of course. Did the establishment fail to see the fissures in American society and give ultra-nationalism a chance to thrive? Definitely. Did the bureaucracy become so entrenched that roads are potholed, bridges are crumbling and water become poisonous? Undeniable. Did social media wrap people in their own cocoons of comfortable opinions and become irascible to challenges? Can’t be more truthful.“ Full ack, dude.

Der Tagesspiegel gibt mir ein Rätsel auf: „Familien schickten 500 Kinder nach Berlin – sogar Babys und Säuglinge“. Wait a minute. Säuglinge?

„Die vom Landesjugendamt in diesem Jahr erfassten jungen Menschen waren vorrangig Staatsangehörige aus Afghanistan (28 Prozent),.. (…) Sogar Säuglinge und Babys ohne Eltern wurden vom Landesjugendamt in Obhut genommen: Drei Prozent der Kinder waren unter drei Jahre alt, zwei Prozent zwischen vier und fünf Jahren,…“ Wie sind die denn hierhin gekommen?

„Manche wollen unbedingt wieder zu den Eltern zurück, einige haben die ihnen auferlegte Aufgabe des Familiennachzugs erfolgreich erledigt. Manche werden angesichts von seelischen Traumata kriminell und depressiv, andere machen Abitur oder eine Ausbildung im neuen, glücklichen Leben.“

Jawohl! Definiere „glücklich“! Das ist deutscher Haltungsjournalismus vom Feinsten. Manche werden depressiv, manche nicht. Was will uns der Künstler die Autorin damit sagen? Es ist löblich, wenn man etwas bewegen will, aber bei diesem Thema was und wohin?

Und nun zu uns, Anthroposophen und Demeter! Die haben da etwas in ihrer Hauszeitschrift über eine bessere Welt. Ludger Weiss von den Salonkolumnisten schreibt:

„Aber was ist der Boden, auf dem diese Träume wachsen? Ein befremdlicher. Er besteht in der Ablehnung jeglicher moderner Technologie. Kurznachrichten sind ein „scheußlicher Weg der Kommunikation“, „Teufelszeug“. Das Internet, zumal G5 und das damit mögliche „Internet der Dinge“ gilt als Alptraumvision und erledigt sich zum Glück durch „Peak Everything„. Auch die Bekämpfungsmaßnahmen in der Corona-Pandemie werden abgelehnt.“

Ich kann den esoterischen Quatsch nicht lesen, das tue ich mir nicht an. Ich kriege davon die Krätze. „Dein Versprechen an die Bienen“, oder: „Den Willen finden und spüren.“ Das erinnert mich immer an den Titel eines Buches, das ich schreiben wollte, um schnell reich zu werden: „Frauen atmen selber“.

Nachtwache, a capella gesungen

vesper

Bless The Lord, O My Soul (S. Rachmaninoff „All-Night Vigil“ / Vespers, op. 37)
Singers (from the left): Adrian Nikiel, Katarzyna Bieniaszewska, Michał Raczkowski, Joanna Dacko, Irina Bogdanovich (solo), Adrianna Jarzębowska, Jakub Kozioł, Teresa Gręziak, Rafał Brzeziński.

Gemischte Chöre sind nicht unbedingt das, was ich oft höre. Und wenn, dann nur russische Männerchöre oder bulgarische Frauenchöre. Ich habe in den letzten Tagen meine Meinung ein wenig geändert, durch Zufall. Ich mochte auch als fanatischer Atheist orthodoxe Kirchenmusik, vor allem wegen der Bässe, weil ich selbst als Jüngling im Kirchenchor 2. Bass gesungen habe, also den ganz tiefen. Instrumente sind in der Orthodoxie verboten; deswegen hat sich die einzigartige A capella-Chor-Kultur im Osten gebildet.

Rachmaninow also, die Nachtwache. Ich habe das Stück jetzt bestimmt fünfzig Mal gehört und entdecke immer wieder neue Nuancen. Der Chor ist achtstimmig und besteht nur aus der Solosängerin und eben acht anderen. Das musikinteressierte Publikum mag gern herumsurfen und alle anderen Versionen dieses Stücks anhören. Die fünf Sängerinnen und vier Sänger hören sich an wie neunzig – und schöner. Ich habe sogar ziemlich schnell eine Version gekauft, vom Kammerchor des sowjetischen Kulturministeriums, auch die sind nicht besser.

Woran liegt das? Interessant, dass alle anderen Chöre auf die Noten schauen müssen, diese nicht. Irina Bogdanovich hat die beste Alt-Stimme, die ich jemals gehört habe. Sie scheint ein künstlerisches Allround-Talent zu sein, sie dirigiert auch und leitete offenbar mehrere Chöre. Der Tenor Jakub Kozioł und die vier Frauenstimmen klingen so, wie sich Kinder Engel vorstellen. Und dann der Kerl ganz rechts (Rafał Brzeziński) mit seinem basso profundo – einfach Wahnsinn. (4.36 – Irina wirft ihm einen sehr schönen Blick zu). Ich bin auch immer wieder fasziniert, wie die Bogdanovich mit äußerst sparsamen Bewegungen „dirigiert“, man muss schon sehr genau hinsehen, um mitzukriegen, wie sie die Einsätze gibt (3.10 etwa). Die Gruppe ist sowieso absolut professionell, die wissen natürlich, wo und wann jede einzelne Note kommen muss.

Jemand kommentierte bei Youtube: „That was one of the most beautiful compositions that I’ve ever heard.“ Da kann ich nur zustimmen. Wenn ich jemals sterben sollte, muss dieses Stück gespielt werden – leider kann ich es nicht herunterladen.

Im Namen des Volkes

House of cards
Tibetanische Esoterik im Weißen Haus – Szene aus „House of Cards“

„Die Ära [bitte selbst ausfüllen] ist damit geprägt von zwei partiell widersprüchlichen Tendenzen: dem Aufbau eines neuen charismatischen Personenkults und, parallel hierzu, der Stärkung der legal-rationalen Herrschaft.“
Welche Ära ist gemeint?
[ ] Die des römischen Kaisers Gaius Octavius, genannt Augustus?
[ ] die des weißrussischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka?
[ ] die des Generalsekretärs der KP Chinas, Xi Jinping?

Die Antwort steht in diesem interessanten theoretischen Text, den ich dem Publikum empfehle – Niko Switek (Hg.): Politik in Fernsehserien – Analysen und Fallstudien zu House of Cards, Borgen & Co.“. (Vorsicht! TL;DR)!)

Ich bin gerade dabei, die fünfte Staffel von House of Cards vor dem Einschlafen anzusehen. Mir gefällt die Serie; ich mag tiefschwarzen Zynismus. Ich hätte nie gedacht, dass Bertolt Brecht von Hollywood ernst genommen würde. Keine romantisch glotzenden Rezipienten mehr? Großartig – bin sofort dabei. Ich habe da aber noch ein paar Fragen.

Es waren vor allem die Erfahrungen mit den industriellen Dimensionen der amerikanischen Filmindustrie, die Günther Anders, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zu ihrem Urteil veranlassten, dass Filme als Produkte der Unterhaltungs- und Kulturindustrie nur den Zweck der Ablenkung und damit der Stabilisierung des bürgerlich-kapitalistischen Systems dienen.

Ach so? Dann darf ich solche Serien vielleicht gar nicht gucken? Brecht hätte es mir aber vermutlich erlaubt. Die Frage ist spannend, was eine realistische Szenerie – künstlerisch im Film umgesetzt -, wie Politik im Kapitalismus gemacht wird, bei den Zuschauern bewirkt: Werden die zynischer, also realistischer? Oder behalten die ihre Illusionen dergestalt, dass Biden besser als Trump sei?

Die Autoren des erwähnten Textes sprechen von Relevanz durch Realitätsimitation – die realistische Politikfiktion sei echter als echt. Diese Serien sind also „besser“ als die bloße Imitation des Politischen wie in Talkshows. Aber: Politik wird vor allem als politics gezeigt, als dynamischer Prozess, in dem Akteure (vor allem die Protagonisten) in Machtbeziehungen versuchen, ihre Interessen durchzusetzen und auszuhandeln „who gets what, when, how“. Die verfolgten Ziele (policies) bleiben dabei in der Regel vage und Vehikel für die dramaturgisch interessanteren politics.

House of cards

Das ist ein starkes Argument, wenn man sinniert, was die Protagonisten etwas in „House of Cards“ politisch durchsetzen wollen. Die Ziele sind ungefähr so, als hätten sich Greta und die Jungliberalen zusammengetan, um den Kapitalismus zu erklären. Ein Klischee reiht sich ans andere: Von NGOs und ihrer fragwürdigen „Entwicklungshilfe“ bis zum Dalai Lama, der positiv und plakativ auftaucht und den unpolitischen und pseudofeministischen Mittelschichts-Tussen von Pussy Riot, die natürlich von der Präsidenten-Mischpoke hofiert werden. So stellt sich Hillary Clinton den modernen Kapitalismus vor. Die Armen brauchen mehr Geld usw. – eine Robinhoodisierung der Systemfrage, wie sie hier auch die „Linke“ betreibt: den Reichen nehmen und denen da unten geben. Machiavelli für Kinder eben.

Mich amüsiert, dass in „House of Cards“ die „Volksmassen“, in deren Namen agiert und Politik gemacht wird, nur als dumpfer Pöbel auftaucht, der sich beliebig manipulieren lässt – für jeden Zweck. Das müsste sich hier jemand trauen: Parteitage nur als Kulisse, was sie sind, darzustellen, und oben drüber groß das Motto: „Inhalte überwinden“. Das würden die öffentlich-rechtlichen Anstalten nie zulassen. Wo bliebe der volkserzieherische Auftrag?

Die US-Amerikaner sind offenbar künstlerisch weiter. Als marxistisch geschulter Zyniker werde ich natürlich jetzt erst recht neugierig. Was sagt es über den Stand der Klassenkämpfe aus, wenn die Mittelklasse, für die solche Serien gemacht sind, mit bloßem Entertainment à la Förster vom Silberwald nicht mehr zufriedengestellt werden kann? Mittelklasse deshalb, weil die gesamte Ikonografie inklusive der Kostüme passt wie das kleine Schwarze auf den Hintern eines Mädels aus der Werbebranche. Alle Frauen tragen immerzu Stöckelschuhe, alle sind, auch wenn sie fluchen, höflich. Ich hörte gefühlt eine Milliarde Mal „thank you“. Das wird nie, nie vergessen. In Wahrheit fällt niemand aus der Rolle, sogar beim Morden. Natürlich sagt in „House of Cards“ niemand nigger. Und, was unbedingt im Sinne der political correctness sein muss: Eine Weiße hat sogar Sex mit einem Schwarzen. Man vergewissert sich gegenseitig – Filmemacher und Publikum -, dass man das nicht als Skandal sieht. Donald Trump würde nicht hineinpassen: Der missachtet zwar nicht die Regeln der herrschenden Klasse, aber die Verhaltenskodices und den unausgesprochenen common sense, was vermutlich einer der Gründe der unteren Klassen ist, ihn zu wählen. Die tun das bekanntlich auch nicht.

House of cards

Polit-Serien tragen so zur Reproduktion eines liberalen und instrumentalistischen Bilds von Politik bei, wenn man die Forschung zum Einfluss popkultureller Darstellungen auf politische Einstellungen betrachtet. Damit fügen sich Polit-Serien, wie auch die Politikwissenschaft, in ein Politikverständnis, das antipolitischen Ressentiments Vorschub leisten kann.

Jetzt eine Gegenrede. Mir fehlt das Thema Charaktermaske. Das politische Geschehen ist zu sehr das Ergebnis dessen, was die „Spieler“ wollen und ihrer Interaktion. Der Illusion entsteht, dass man nur „gute“, womöglich ehrliche Politgestalten brauchte, um etwas zu ändern. In „House of Cards“ bestimmt das Bewusstein das Sein und nicht umgekehrt. Alle sind immer so, wie sie immer waren, schwere oder leichte Kindheit, je nachdem. Spannend wäre zu erfahren, ob jemand, der „von unten“ käme, sich anpasste(n) (müsste) oder nicht.

Mich lässt die Serie irgendwie kopfkratzend zurück: Müsste die Linke (nicht die Partei) so machtversessen, intrigant, zynisch und korrupt sein, um an der Macht bleiben zu können? Sollte sie das moralische Gesülze (Frieden! Keine Kriege!) einfach lassen, weil man die Herrschenden nur mit deren eigenen Mitteln schlagen kann? Man müsste Lenin fragen.

Oder wir warten, bis endlich Im Namen des Volkes mit englischen Untertiteln bei Netflix oder Amazon gestreamt wird. Ich fürchte, das wird nicht geschehen.

Heringsfürze und anderes

herrings fart

– Neu ist die Erkenntnis nicht: Heringe kommunizieren durch Fürze. Das muss irgendwie dem Geräusch ähneln, das U-Boote machen. So denken offenbar die Schweden.

– Benutzt hier jemand Telegram? „Trotz des hippen Images ist der angeblich sichere Messenger Telegram in Bezug auf Privatsphäre eine Katastrophe.“ Ach.

– Es gibt einen neuen Impfstoff gegen COVID-19. Der ist besser und billiger und wird deshalb vermutlich nicht benutzt werden.

– Aus der Rubrik: Die „freie Marktwirtschaft“ – auch bekannt als Kapitalismus – macht uns alle reich und glücklich: In Guatemala brennt das Kongressgebäude.
Der Tagesspiegel schreibt: „Das guatemaltekische Parlament, das von Giammatteis Partei und deren Verbündeten dominiert wird, hatte diese Woche das Milliardenbudget verabschiedet. Es bürdet dem Land hohe Schulden auf. Außerdem fließt das meiste Geld in von Privatunternehmen verwaltete Infrastruktur und nicht in die Bekämpfung der in Guatemala weit verbreiteten Armut. 59,3 Prozent der 17 Millionen Einwohner Guatemalas leben in Armut, rund die Hälfte der Kinder unter fünf Jahren sind mangelernährt.“

– Die Giordano-Bruno-Stiftung fordert nicht zum ersten Mal, den Blasphemie-Paragrafen abzuschaffen. Das werden die Grünen aber nicht mitmachen.

Neues aus der freien Welt

Google zensiert die Website der Trotzkisten (via Fefe). Die sind bekanntlich ultragefährlich. Marx im Original und so. Geht ja gar nicht. Denkt jemand auch an die Kinder?

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil 1]

Plötzlich ist das Thema aktuell: Wenn nicht geregelt worden ist, wie die Macht an den jeweils nachfolgenden Vertreter der herrschenden Klasse übergeben wird, ist alles möglich. prinzipat

Ich hatte eine Rezension des ganz hervorragenden Buchs von Armin Eich Die römische Kaiserzeit: Die Legionen und das Imperium hier schon angekündigt. Vorab sei den Nachgeborenen aber erklärt, warum man sich mit so einem exotischen Thema beschäftigen sollte bzw. muss.

Erstens ist das Buch ein gut lesbares Standardwerk und insofern einzigartig, weil es die ökonomischen Grundlagen der Macht im antiken Rom dokumentiert, was sonst nirgendwo so analysiert wird. Wer sich so, wie ich, für die Sklavenaufstände der Antike interessiert, muss auch wissen, wie die Ökonomie der Herrschaft funktioniert.

Zweitens: Weil bei dem Thema auch gleich viele andere Fragen folgen, als da zum Beispiel wären: Warum wählten die herrschenden Klassen Roms eine Gesellschaftsform, die dazu führte, dass eben die, die daraus Vorteile zogen, sich ununterbrochen gegenseitig massakrierten – also nicht nur während der Bürgerkriege vor dem früher so genannten Prinzipat bzw. des Augustus, sondern auch danach? Ist das nicht unpraktisch oder gar „masochistisch“? Ging es nicht anders, und warum nicht? Warum ist das im Kapitalismus anders?

Exkurs:
Wer die „Klassiker“ des Marxismus als ewige Wahrheit nutzt und nur deren heilige Bücher zitiert, ist dumm und würde von Marx ausgelacht. Marx‘ Kenntnisse der „Sklavenhaltergesellschaft“ fußten weniger auf antiken Quellen, sondern auf oft falschen Analogien, die er aus der US-amerikanischen Sklaverei in den Südstaaten zog. [Dazu gibt es ein hervorragendes Buch von Wilhelm Backhaus: Marx, Engels und die Sklaverei. Zur ökonomischen Problematik der Unfreiheit.]
Auch Friedrich Engels lag meines Erachtens falsch, wenn er in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates schrieb: „So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven…“ So einfach ist es nicht, zumal es „den antiken Staat“ rund 800 Jahre lang gab, aber keineswegs zwingend und immer eine Dominanz einer Wirtschaftsform, die auf der Arbeit von Sklaven beruhte. Man muss aber zugeben, dass sogar die ärmsten römischen Bürger sich einen oder zwei Sklaven leisten konnte. Sie hatten damit ein gemeinsames Interesse mit ihren Klassengegnern, dern großen Grundbesitzerń, die die kleinen Bauern ruinierten.
Zu Spartacus und den Sklavenaufständen hatten einige marxistische Historiker die These aufgestellt, dass der Wechsel von der Republik zur „Kaiserzeit“ von den Herrschenden unter anderem als Option gewählt wurde, weil sie Angst vor weiteren Aufständen gehabt hätten und eine Ökonomie, die massenhaft auf Sklavenarbeit beruht, nicht mehr effizient genug gewesen sei.
Ich schrieb: Man könnte die These aufstellen, dass der Wandel des „Überbaus“ von der Republik zur Diktatur des Kaiserreichs vor allem durch den Klassenkampf der Sklaven verursacht wurde. Die These halte ich bis jetzt für ziemlich wackelig und nicht verifiziert, zumal noch andere Klassen mitmischten – freie Bauern etwa und verschiedenen Fraktionen der Herrschenden, zum Beispiel die eques Romanus, die jeweils gegensätzliche Interessen hatten.

römische Legion
Römische Legion auf dem Marsch (aus „Ben Hur“)

Um 29 v.u.Z. endet die Phase der Bürgerkriege, die zwei Jahrzehnte gedauert hatte. Gaius Octavius, später: „Kaiser“ Augustus, war als Sieger aus dem Gemetzel hervorgegangen. Als Großneffe des legendären Julius Caesar hatte er Anspruch auf dessen riesiges Privatvermögen. Die Römische Republik endete nach rund 400 Jahren; jetzt begann das so genannte Prinzipat. Das ist aber nichts anderes als eine Militärdiktatur: Die Machtbasis des Imperators ruhte nicht mehr auf der Legitimation durch Senatus Populusque Romanus, sondern auf der Armee.

Frage: „Republik“ oder „Militärdiktatur“ – sind das nur zwei Formen derselben Herrschaft, wie auch die „Demokratie“ und der „Faschismus“ beide Formen der Klassenherrschaft im Kapitalismus sind?

Die Republik hatte weitgehend nach einer Art Gewohnheitsrecht funktioniert. Die herrschende Klasse der Senatoren- und Ritterfamilien definierte sich über den (Grund)Besitz und kungelte die Ämter unter sich aus, mit denen man reich werden konnte. Die Plebejer, vor allem Handwerker und Bauern, hatte in zum Teil blutigen und ebenso vier Jahrhunderte dauernden Klassenkämpfen gewisse Rechte erreicht; ihre Volkstribune waren zum Beispiel „Beamte“ des Staates. Es gab in der Republik keine Berufsarmee.

Schon während der Bürgerkriege waren aber die Soldaten auf die jeweiligen Befehlshaber eingeschworen worden. Der spätere Alleinherrscher Augustus stützte sich hierauf: Doch Gaius Octavius hatte niemals Skrupel, eben diese urwüchsige Treue der „caesarischen“ Soldaten zur Eroberung einer militärisch abgesicherten Machtposition zu nutzen. Diese Veteranen hatten zudem in ersten Linie von den Vertreibungen und Enteignungen im Italien der 50er und 30er Jahre profitiert, so dass ein Band des Komplizentums den jungen Kriegsherrn und seine bewaffneten Leute aneinanderknüpfte. Im Falle seines Sturzes hätten die Veteranen ihren Raub kaum behaupten können.

Die Senatoren hätten die faktische Alleinherrschaft des Augustus nur um den Preis des erneuten Bürgerkriegs in Frage stellen können. Sie mussten das Spiel mitspielen, dass die Institutionen der Republik, die einstige Basis ihrer Klassenherrschaft, pro forma erhalten blieben, aber so ausgehöhlt wurden, dass man noch nicht einmal von einer „Mitbestimmung“ reden konnte. Der neue Prinzeps legitimierte sich in Zukunft durch eine Art Notstandsrecht, das die Senatoren selbst vorschlagen mussten. Er durfte gegen alles, was der Senat vorschlug, sein Veto einlegen. Armin Eich schreibt süffisant: Da nur wenige Monate zuvor die allgemeine Befriedung (..) mit großem Aufwand gefeiert worden war, war die Begründung für den Staatsnotstand, der jetzt verkündet werden sollte, eine semantisch anspruchsvolle Aufgabe. (…) Die Notstandsfiktion gab hingegen Gelegenheit, Bürger und Untertanen an das „Doppeldenken“ der neuen Zeit zu gewöhnen: Augustus war zur selben Zeit Friedensherrscher und erfolgreicher Feldherr an zahlreichen Fronten…

Augustus erhielt durch diesen „Notstand“ zahlreiche Provinzen als besonderen Kommandobereich. Dort sollte er für Frieden sorgen – „zufällig“ waren in diesen Provinzen auch die kampfkräftigsten und meisten Legionen stationiert. Und „zufällig“ wählte der neue Herrscher auch persönlich die Gouverneure aus – also die, die die Steuern dort eintrieben. „De jure“ hätte ihm der Senat die Soldauszahlungen sperren können. De facto war das jetzt irrelevant, weil Augustus die Soldaten zunächst selbst finanzieren konnte, die er brauchte, um die ehemalige herrschende Klasse in Schach zu halten. Die zeigte zwar, wie Eich das ausdrückt, eine gewissen Renitenz, blieb aber passiv: Für manche Ämter gab es gar keine Bewerber mehr, die traditionelle Oberschicht ging kaum noch Ehen ein; viele hatte keine Kinder mehr. Der Diktator verbot daher die Ehelosigkeit, und wer keine Kinder zeugte, wurde systematisch benachteiligt. Alle Bürger wurden zudem per Gesetz verpflichtet, alle zu denunzieren, die sich illoyal gegenüber dem neuen Herrscher verhielten oder sich abfällig äußerten.

Interessant wird es, wenn man die materiellen Grundlagen untersucht, die dem Wechsel von der Republik zur Alleinherrschaft einer Person zugrunde liegen. In Wahrheit herrschte der Imperator nicht „allein“; das System funktionierte nur, wenn es im Interesse aller herrschenden Klassen war. Wer aber war das jetzt?

römische Kaiser
Credits: Daniel Voshart/medium.com: Photoreal Roman Emperor Project

Der römische Historiker Cassius Dio hat das hübsch auf den Punkt gebracht:
Ich rate [dir,] der Unverschämtheit der Massen Einhalt [zu] gebieten und die Leitung der Staatsgeschäfte in deine eigenen Hände und die der Besten [zu] legen, damit die nötigen Überlegungen von den verständigsten Männern angestellt werden und die tüchtigsten Männer die Führungspositionen wahrnehmen, während der Söldnerdienst in der Armee den kräftigsten, dabei wirtschaftlich schwächsten Bürgern überlassen bleibt. Denn auf solche Weise erledigen die einzelnen Klassen eifrig die ihnen jeweils zufallenden Aufgaben. (Römische Geschichte, Buch 52)

Hunderttausende römischer Bürger waren bereit, unter Führung eines Warlords für Beute und den sozialen Aufstieg zu kämpfen. Sie waren der Rohstoff für Umstürze, der später von den Soldatenkaisern genau so instrumentalisiert wurden. Die Armee machte die bisherigen Klassenschranken durchlässiger, verpflichtete aber den jeweiligen Prinzeps, den Sold zu zahlen und für Geld und Land zu sorgen, wenn die Soldaten zu Veteranen wurden. Gelang ihm das nicht, drohte Meuterei. Indem junge Männer aus ärmeren Familien zum Militärdienst an die entlegenen Grenzen des Imperiums beordert wurden, wurden potentielle Unruhestifter (dem Kalkül zufolge) aus Italien entfernt und zudem durch militärischen Drill diszipliniert. Das innenpolitische Gewaltpotential wurde exportiert.

Woher kam das Geld? Während der Republik hatte der Staat reichlich Einnahmen, aber kaum Ausgaben, weil die Armee de facto eine Bürgermiliz gewesen war. Augustus ließ zum ersten Mal die Reichtümer des Imperiums systematisch erfassen, dazu sogar Archive bauen. Augustus erwähnt in seinem posthum publizierten Rechenschaftsbericht, dass er die zentrale Staatskasse durch Zuschüsse aus seinem Privatvermögen mehrfach vor dem Bankrott retten musste. Wenn aber der reichste Staat der Welt dauerhaft aus einer einzigen Privatkasse finanziell über Wasser gehalten wurde, dann war die Finanzlage dieses Staates offenbar nicht befriedigend.

Man ahnt schon, was jetzt folgt: Die klassische imperialistische Eroberungsstrategie und anschließend die fiskalische Erschließung der neuen Territorien. Anders hätte das gar nicht funktioniert. Der Imperator war eine „Charaktermaske“ der neuen Herrschaftsform. Sämtliche Stämme rechts des Rheins wurden attackiert und teilweise ausgerottet, sogar wenn sie Rom freundlich gesinnt waren. Auf dem heutigen Balkan wurde der pannonische Aufstand niedergeschlagen, dazu waren zeitweilig 100.000 Soldaten im Einsatz, ein Drittel der Gesamtstärke der römischen Armee. In Afrika rückten die Legionen bis in den heutigen Sudan vor. Einer der späteren Imperatoren, Trajan eroberte den Staatschatz der Daker: „Die gewaltige römische Kriegsbeute soll sich auf 50.000 Kriegsgefangene, 500.000 Pfund (165.000 kg) Gold und 1.000.000 Pfund (331.000 kg) Silber belaufen.“ Damit kann man eine Weile „wirtschaften“. (Zum Vergleich: Als die Republik 168 v.u.Z. das makedonische Reich eroberte, wurden nach antiken Quellen 700.000 (!) Menschen versklavt.)

Warum Germanien? Bauern, Jäger und Hirten waren uninteressant, die brachten keine Einnahmen. Um Zölle und Tribute an das Imperium abführen zu können, musste die Bevölkerung zunächst an die überregionalen Geldkreisläufe angeschlossen werden und dann monetäre Überschüsse erzielen, also einen Teil ihrer Ernten oder handwerklichen Produkte auf lokalen oder sogar überregionalen Märkten verkaufen. Nicht zuletzt diesem Zweck, nämlich der Bereitstellung von Marktplätzen, diente der Ausbau von städtischen Zentren… Die Römer wollten also auch ihre Produktionsordnung per Gewalt exportieren. In Germanien ging das bekanntlich schief. In Britannien erwies sich das Vorhaben als zu kostspielig, die Besetzung der Britischen Inseln war langfristig ein Zuschussgeschäft, weil zu aufwändig.

Eine der zentralen Thesen Armin Eichs: …dass die Einnahmen aus dem Imperium in der Ausdehnung der 20er Jahre v. Chr. die Kosten der neuen Berufsarmee nicht deckten und dass Augusts aus diesen Gründen eine systematische Vergrößerung des imperialen Territoriums und zugleich dessen intensivere Ausbeutung anstrebte.

roman villa
Antike Darstellung einer römischen „Villa“

Was genau meint Produktionsordnung? Niemand, der alle Sinnen beisammen hat und die wesentlichen Quellen kennt, wird bezweifeln, dass das Römische Reich eine „Sklavenhaltergesellschaft“ war. Das ist aber eine analytische ökonomische Kategorie und meint mitnichten eine bestimmte Zeitspanne, die man exakt benennen könnte. In der Kaiserzeit war rund ein Viertel der Bevölkerung versklavt. Zum Vergleich: Die Anzahl der Sklaven verhielt sich zu der Anzahl der Freien fast exakt so wie die Anzahl der klassischen Arbeiter heute zur Anzahl der anderen Erwerbstätigen.

Armin Eich erklärt die Details im Kapitel „Die soziale und politische Verfassung“. Ein Teil des imperialen Bodens gehörte dem Imperator direkt. Der wurde landwirtschaftlich genutzt oder diente dem Gewinnen von Rohstoffen. Auch die Legionen hatten Grundbesitz. Daneben existierten „Gemeindestaaten“ [wie Athen], deren Land und Forste ihnen gehörte. Der kleinste Teil des Landes war städtischer Boden. Der übergroße und die Ökonomie maßgeblich bestimmende Teil des römischen Imperiums bestand aus landwirtschaftlich genutztem Privateigentum.

Vor allem im Westen des Imperiums war die vorherrschende Nutzungseinheit die villa, ein nach italischem Vorbild gestalteter kombinierter Wohn- und Produktionsbereich, dessen agrarisch genutzte, an den Wohnbereich angrenzende Flächen sich über wenige Hektar bis zu deutlich über hundert Hektar [das sind rund 140 Fußballfelder]. Besonders verbreitet waren, jedenfalls im Nordwesten des Reiches, Größen zwischen 20 und 120 Hektar. (…) In den obersten Gesellschaftsklassen war der Besitz mehrerer verstreuter Villen üblich.

Meistens wurden diverse landwirtschaftliche Produkte angebaut, Oliven, Wein, Getreide, Obst. Manche Latifundien betrieben aber auch reine Monokultur – wie beim Weizen Siziliens und Nordafrikas oder den Oliven Spaniens. Kleine Bauern arbeiteten wegen der Konkurrenz der Großbetriebe sehr oft am Rand des Bankrotts. Waren sie überschuldet oder sahen keine Hoffnung mehr, ihren Betrieb zu halten, wurden sie, vor allem am Ende des Prinzipats, zu von einem Grundbesitzer abhängigen Pächtern, eine Vorform der späteren feudalen Leibeigenschaft.

Die Eigentümer der villae waren die dominante soziale Klasse des Imperiums. (…) Die Gesamtzahl (…) ist auf etwa 200.000 bis 250.000 Personen geschätzt worden. Diese lokale Grundbesitzeraristokratie profitierte von der Schaffung des imperialen Friedensraumes, der einen weitgehend ungestörten Handelsverkehr zwischen weit auseinanderliegenden Regionen ermöglichte.

Wird fortgesetzt.

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