Reinheitsgebot

„Nach der Regel der Distanzierung vom physiologisch Ursprünglichen (bzw. der ‚Reinheitsregel‘) gilt, daß mit wachsendem Druck der sozialen Situation auf die an ihr beteiligten Personen das soziale Konformitätsverlangen dahin tendiert, sich durch die Forderung nach strikter Kontrolle der körperlichen Funktionen auszudrücken. Die Körperfunktionen werden um so strikter ignoriert und aus dem Bereich des in der Situation Ansprechbaren ausgeschlossen, je wichtiger dieses letztere wird. Einem sozialen Vorgang kann auf natürliche Weise eine besondere Würde gegeben werden, wenn man alle körperlich-organischen Vorgänge strikt aus ihm ausschließt. Soziale Distanz drückt sich also als Distanzierung vom physiologisch Ursprünglichen aus und umgekehrt.“ (Mary Douglas: „Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main 1974, S. 3 – eines der interessantesten und klügsten Bücher, das ich besitze.)

Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser mögen selbst darüber nachdenken, wie Prüderie und gesellschaftliche Reaktion zusammenhängen, ob die Loveparade, in der calvinistischen Schweiz erfunden, etwas mit Sex zu tun hat oder vielmehr das Gegenteil rituell darstellt, und ob Kurzhaarfrisuren und moderne WC-Center politische Aussagen sind.




CPQO

Ostia

Ja, das ist mein Avatar, der da zu sehen ist. CPQO soll vermutlich heißen: Concilium Populusque Ostiarum.

Die virtuelle Stadt heisst Ostia, sollte also so dekliniert werden wie Roma, aber ist concilium o-Deklination und ein regelmäßiges Neutrum? Mein großes Latinum liegt doch schon 45 Jahre zurück und ist etwas verblasst… (Tag „Science“ natürlich wegen der sprachwissenschaftlichen Frage..).




Wissenschaft im Kapitalismus

Die Berliner Zeitung zitiert aus den Geheimverträgen zwischen der Deutschen Bank und der Humboldt-Universität: (via Fefe)

„‚Alle Forschungsergebnisse der Universitäten oder ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die im Rahmen der zwischen den Vertragspartnern abgestimmten Forschungsprojekte entstehen, sind der Deutschen Bank […] zur Freigabe vorzulegen.‘ (…) Bankmitarbeiter sollen ‚Lehraufträge erhalten und zu Prüfungen herangezogen werden können‘ – ’soweit die Interessen der Deutschen Bank nicht beeinträchtigt werden‘.“

Sehr schön und pädagogisch wertvoll. Die Katholische Kirche könnte es nicht besser machen.

Liebe Kinder: So funktioniert der Kapitalismus! Alles, aber auch alles muss sich dem Profit unterordnen. Eine Freiheit der Forschung und Lehre gibt es nur pro forma, denn etwas, was nicht profitabel ist, ist unnütz, unwertes Leben, Ballast, kann dem sozialverträglichen Ableben zugeführt werden.




Atomkraft ist sicher!

Bild: „Deutschland soll wieder auf Atomkraft setzen!“ Junge Liberale Pforzheim (FDP): „Kernkraft – ja bitte!“ Katharina Reiche (CD): „Die Kernkraft ist sicher“. Focus: „Experten rechnen vor: Wenn Deutschland den Atomausstieg verschiebt, sparen Verbraucher viel Geld.“ (vgl. dazu aber Bildblog) Tagesschau: „Strenge Vorschriften sollen Japans AKW schützen“. Vattenfall: „Kernkraft ist sicher und wirtschaftlich“.




Was man über Hundebisse wissen muss

Incantation for Dog Bite, natürlich auf Babylonisch.




Paul – the soothsaying cephalopod

Wer etwas über britischen Humor lernen will, sollte den Artikel David Spiegelhalters (University of Cambridge) lesen: „It’s definitely time to retire. I and all my profession are being humiliated by the apparent ability of Paul the psychic octopus to predict the results of Germany’s World Cup matches. (…) No interviews with Paul are currently available and so we don’t know his thought processes when his Delphic tentacle reaches out and picks the winning team, but he is probably not analysing the data on past performance which forms the basis for most football prediction systems. (…) That octopus is destroying my life’s work. (…)“

Hier ist noch etwas Mathematisches dazu: „Paul die Orakelkrake – mathematisch betrachtet“ (via Astrodicticum Simplex).




Wikipedia, protestantische Prüderie und Katie Fey

Katie Fey

„Porno-Streit in Wikipedia“ ist natürlich eine hübsche Schlagzeile. Ich muss also als Experte etwas dazu sagen. (Jedenfalls bin ich nicht mehr oder weniger Experte als andere).

„Löschung von Bildern mit sexuellen Darstellungen (…) Gegenstand des Anstoßes waren offenbar historische Erotika-Fotografien sowie Lolicon-Zeichnungen, die Kinder-Charaktere in erotischen Posen zeigen. Die Schlagzeile bei Fox lautete dementsprechend: „Wikipedia Distributing Child Porn, Co-Founder Tells FBI“. Da ist alles drin – so hätte es auch ein deutscher Jugendschutzwart formulieren können. Möglichst diffamieren – etwas bleibt immer hängen, wie auch bei der berüchtigten Falschmeldung vom Politmagazin „Report Mainz“ über Second Life.

Es geht also nicht um Inhalte, sondern um das „Bild“ in den Medien. „In einer Email begründet Wales die Aktion damit, er habe unmittelbaren Image-Schaden vom Projekt abwenden müssen: „Wir waren kurz davor in sämtlichen Medien beschuldigt zu werden, harte Pornografie zu verbreiten und nichts dagegen zu tun.'“

Das klingt nach einer Eierfrage. Es könnte doch jemandem, der weiß, was er tut und lässt und warum, völlig schnutzpiepegal sein, was „die Medien“ fabulieren. Aber so ist es leider nicht, wenn nackte Haut und protestantische Moralthologie und Prüderie ins Spiel kommen. Und diese sind vor allem in den Stammländern der Bigotterie und der verkniffenen Lippen – Deutschland und die USA – der unangesprochene Mainstream.

Aktuelles Beispiel ist das ukrainische Model Evgenia Diordiychuk, auch bekannt als Katie Fey oder als „Jenya D.“ (vgl. Screenshot ganz unten von Met Art). Der Artikel im englischen Wikipedia über sie wurde gelöscht, der spanische nicht. Man kann darauf wetten, dass es nicht um Relevanz geht – die appetitliche Dame, die übrigens keine Pornos dreht, hat zahllose Fans und ist weltweit bekannt.

Katie Fey

Das Pornografie-Verdikt schwebt immer über allen, auch wenn niemand genau weiß, was das ist und ob es irgendjemandem schadet, nackte Menschen zu sehen. Erotik ist ohnehin immer kulturell definiert. In einem Vortrag heisst es:

„Einige Ältere von Ihnen werden sich noch an den Skandal um die nur sekundenwährende Nacktheit der ‚Sünderin‚ Hildegard Knef in einem Film von Willy Forst erinnern. In der Adenauer­Zeit wurde das als öbszön und gefährlich empfunden. Zwanzig Jahre später erschienen dann, von geachteten Pädagogen empfohlen, Sexualaufklärungsbücher mit Fotos nackter Männer, Frauen und Kinder bei allerlei sexuellen Handlungen oder Erkundungsversuchen. Gerade die Fotos von kindlichen ‚Doktorspielen‘ wurden als Ausdruck gesunder Sexualität empfunden, die den Familien bei der Erziehung zu einem nicht­repressiven Leben helfen würden. Heute wiederum werden sie als ‚Kinderpornographie‘ bezeichnet, und selbst ihr einfacher Besitz ist strafbar.“

Der heutige Hype um „Kinderpornografie“ ist also nichts anders als der mediale Ausdruck eines gesellschaftlichen Rückschritts und der politischen Restauration. „Dodgsons [der Autor von ‚Alice im Wunderland‘] Fotos von nackten kleinen Mädchen galten vor hundert Jahren als rein und rührend sentimental, und die ‚erwachsenen‘ Pornofotos wurden mit wütendem Eifer unterdrückt. Heute dagegen gelten umgekehrt diese letzteren als harmlos, während die Kinderfotos als hochbrisant und sittlich verderblich bei vielen Betrachtern Angst und Entrüstung auslösen.“

Schon vor vierzig Jahren plädierten Wissenschaftler für die völlige Freihabe von Pornografie. Dem stand – genau so wie heute – das gesunde Volksempfinden dagegen. Dieses „Volksempfinden“ wird von der so genannten „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ medial orchestriert: Die unsäglich bräsigen und feigne deutschen Medien würde es nie wagen, die Existenz dieser fragwürdigen Institution an sich in Frage zu stellen. Gleichschaltung ganz freiwillig – wir haben schließlich nicht nur den Obrigkeitsstaat, sondern auch den Untertanen perfektioniert. Journalisten sind keine Ausnahme.

„Bereits im Gründungsjahr der Bundesrepublik 1949 regte F. J. Strauß ein ‚Bundesgesetz gegen Schmutz und Schund‘ an, aus dem 1953 das ‚Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften‘ (GjS) hervorging. 1954 wurde dann die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften (BPJS) gegründet.“ [Quelle] „Schmutz“ und „Schund“ – darum geht es also damals wie heute.

Man sollte sich aber keinerlei Illusionen hingeben: Ein rationaler Diskurs über Pornografie ist nicht möglich, weder bei den Grünen oder der Linken noch bei der Piratenpartei. Oder hat schon jemand auf deutschen Polit-Blogs nackte Haut gesehen? Wo kämen wir denn da hin. Die Emma lässt grüßen. Das Thema ist igitt. Was sollen denn die Leute und die Medien von uns denken? Nur darauf kommt es an. Das gesunde Volksempfinden ist immer der Maßstab.

Katie Fey




Intelligente Lebewesen

Ich muss hier das Posting eines Lesers im Heise-Forum verewigen, das ansonsten im allgemeinen Rauschen unterginge. Vor 75 Jahren ging das Fernsehen auf Sendung. Es wurde gefragt, welche Signale Ausserirdische zuerst vom Homo sapiens wahrnähmen.

„Dazu gab es mal einen Test bei Quarks und Co. Dort wurden mehreren Wissenschaftlern Signale vorgespielt, welche auch von Radioteleskopen haetten empfaengen worden sein koennen, es waren aber natuerlich alles irdische Signale. Die Aufgabe der Experten bestand nun darin, anhand der Signalformen zu folgern ob diese von einem intelligenten Lebewesen stammen.

Das Ergebnis war, die Signale welche am meisten auf ein intelligentes Lebewesen deuteten waren die, die von einer kochenden Tomatensuppe aufgenommen worden waren :-)“




Moralapostel

Das Wort zum Sonntag kommt von sueddeutsche.de: „In einer vom Fachmagazin Psychological Science (Online-Ausgabe) veröffentlichten Studie zeigen Nina Mazar und Chen-Bo Zhong von der Universität Toronto, dass Probanden, die zuvor Bio-Produkte gekauft hatten, Mitmenschen anschließend schlechter behandelten, als es die Kunden konventioneller Lebensmittel taten. Die kanadischen Forscher erklären in der Studie ein generelles Muster menschlichen Verhaltens. Wer moralisch handelt und sich zum Wohle anderer verhält, leitet daraus häufig das Recht ab, gegen Normen zu verstoßen.“

Warum Süddeutsche Offline zwar „Online Ausgabe“ schreibt, aber keinen Link setzt, kann man nur aus der internetausdruckenden Mentalität der Offliner in der Redaktion erklären. Liebe Kollegen, wenn man vor der verschlossenen Tür einer „Online-Ausgabe“ steht wie in diesem Fall, heisst das nicht, dass es die gesuchte Studie dann nicht gibt!

Zwar gibt es auch in Kanada Internet-Ausdrucker in die Medien wie Ottawa Citizen („Green shoppers more likely to cheat“) oder canada.com oder The Star ( mit einem Foto der beiden Wissenschaftler), in Blogs jedoch wie Fiat Lux: „The Ethics of Environmentalists“ (University Stanford) findet man alle nötigen Links. Man sollte also nur die Überschriften und die Teaser der Holzmedien zur Kenntnis nehmen, der Rest steht dann in Blogs.

Das Ergebnis der Studie ist nicht weiter überraschend für Zyniker. Es erklärt Charity-Veranstaltungen, Spendenaufrufe, die gewöhnliche Heuchelei der Verehrer höherer Wesen, ja, das Helfen, wenn es öffentlich ist, insgesamt..

Der Mensch an sich handelt ausschließlich für den eigenen Vorteil. Moralisch wird er, wenn er langfristig an den eigenen Vorteil denkt. Das Motiv bleibt gleich. Man hüte sich also vor Moralaposteln – die haben oft niedrige Motive.

Nachtrag: Die Studie erklärt auch die Motive einiger Pädagogen. Jetzt muss ich zur Erholung und um den Ekel loszuwerden erst einmal das hier hören. „We Dont Need No Education“ bekommt einen ganz neuen aktuellen Sinn. Schützt die Kinder vor den „Erziehern“!




Die Angst vor dem Schwarzen Loch

Warum eine Klägerin nicht hineichend begründet hat, dass der Weltuntergang stattfindet, erläutert das Bundesverfassungsgericht. Ich wette, dass die Richter kräftig geschmunzelt haben…




Why did the chicken cross the road?

Kindergarden teacher: „To get to the other side.“
Plato: „For the greater good.“
Aristotle: „It is the nature of chickens to cross roads.“
Martin Luther King: „I envision a world where all chickens will be free to cross roads without having their motives called into question.“
Isaac Newton: „Chickens at rest tend to stay at rest, chickens in motion tend to cross roads.“
Albert Einstein: „Whether the chicken crossed the road or the road moved beneath the chicken depends on your frame of reference.“
Captain James T. Kirk: „To boldly go where no chicken has gone before.“
Werner Heisenberg: „We are not sure which side of the road the chicken was on, but it was moving very fast.“
Wolfgang Pauli: „There already was a chicken on this side of the road.“

Einfach, aber ganz nett…. Physikerwitze eben.




Wie lang sind 19 Terabyte?

Bei Heise lese ich: „Derzeit lagern einem Sprecher zufolge allein bei der Telekom noch 19 Terabyte Vorratsdaten, was ausgedruckt 4,85 Millionen DIN-A4-Seiten entspreche.“

Das ruft nach Mathematik. Eine Din A 4-Seite ist rund 29,5 Zentimeter lang. 29,5 Zentimeter sind 0,295 Meter. 4,8 Millionen multipliziert mit 0,295 – das sind 1416000 Meter, also rund 1400 Kilometer. Das ist die Entfernung Berlin-Paris.




Keine Intelligenz, nirgends

Avatar Gor

„Vor einem halben Jahrhundert haben Wissenschaftler die Suche nach außerirdischen Zivilisationen gestartet (wie gewohnt: keine Links auf Spiegel Offline). Doch trotz rasanter technischer Fortschritte gibt es bisher keinen Hinweis auf Intelligenzlinge im All“, heisst es. Stimmt. Weder auf der Erde noch auf der Gegenerde (SCNR) wurde man bisher fündig.




Riemenfisch revisited

Der Schockwellenreiter macht sich über unsere „Qualitätsjournalisten“ lustig: „Lieber Tagesanzeiger, lieber Stern und lieber Spargel Offline…im Gegensatz zu Euch Qualitätsjournalisten können die Menschen da draußen nämlich Google bedienen“. Ja. Ich stimme meinem Vorredner zu. Ich begreife es trotzdem nicht. Ist das irgendwie ein geschlossenes System bei Spiegel Offline, so eine Art Faradayscher ideologischer Käfig, in dem sich alle Insassen möglichst dämlich anstellen, wenn es um das Internet geht?




Çatalhöyük

CatalhoyukCatalhoyukCatalhoyuk

Gestern war ich in Çatalhöyük. Natürlich nicht real, sondern nur virtuell. Der Besuch dauerte eine halbe Stunde, war gratis und interessant, und ich habe etwas gelernt. Was will man mehr. Wer das Wort noch nie gehört hat: „Çatalhöyük ist eine in der heutigen Türkei ausgegrabene Siedlung aus der Jungsteinzeit. Sie liegt knapp 40 km südöstlich der Stadt Konya auf der Hochebene Anatoliens und hatte mehrere tausend Einwohner.“ Die Wissenschaftler bieten eine 3D-Version der steinzeitlichen Stadt in Second Life an, inklusive eines „Lehrpfades“ über den Brand eines Hauses und den damit verbundenen Skelett-Funden.

Natürlich haben wissenschaftliche Blogs, Websites wie die der Stanford University und staatliche Institutionen in den USA ausführlich berichtet – im Sommer 2009. Thema: „Second Life as an Archaeological Tool“. Wenn man Aufwand und nicht nur den pädagogischen Nutzen gegeneinander aufrechnet, ist Second Life unschlagbar.

Deutsche Medien? Fehlanzeige – oder ein halbes Jahr später wie Spiegel Offline; dort hat man noch nicht einmal die Website des Projekts verlinkt. Quod erat demonstrandum. Das ist nur noch peinlich. Second Life? Da war doch etwas mit Kinderpornografie? Also Kopf ab zum Gebet und anschließend in den Sand damit. Igitt. Das ist ja Zukunft und SciFi. Damit wollen wir als deutsche Medien nichts zu tun haben. (Für die Blogs gilt das übrigens auch. Der Blogger-Apfel fällt nicht weit vom Holzmedien-Stamm.)

Leider wird die 3D-Präsentation auf der Website des Projekts nicht erwähnt (ich habe nichts dazu gefunden). Die SL-interne Suchmaschine wird bei „catalhoyuk“ nicht fündig, sondern nur, wenn man den Namen der Firma kennt, die Çatalhöyük 2.0 realisiert hat oder wenn man sich mühsam über „turkey“ die Ergebnisse entlanghangelt (vgl. vorletzter Screenshot: das Ergebnis der SL-internen Suchmaschine im Second-Life-Client). Das ist schlicht lieblose Schlamperei der Firma, die den Auftrag ergatterte. Höflich wäre es auch gewesen gewesen, das türkische Wort Türkiye als Tag aufzunehmen.

By the way: Ich will endlich Troia in Second Life sehen!

CatalhoyukCatalhoyukCatalhoyukCatalhoyukCatalhoyuk




Wikimediarelevanz

Wikimedia

Ich habe den Kommentaren zu der gestrigen Wikimedia-Veranstaltung nichts hinzuzufügen. Lest Jürgen Kosche („Burkhard Schröder sprach vom ‚gesunden Nerdempfinden‘, das sich im Endeffekt im Artikelinhalt durchsetzt“), textberater.com, schneeschmelze (Jürgen Fenn), Felix Leitner (per Ferndiagnose, aber am ausführlichsten sowie sein Update), Gulli, Markus Kompa (der sinnvolle Vorschläge macht), den Freitag, Heise Newsticker, Telepolis sowie Aufmerksamkeitsökonomie.




LSD ist harmloser als Tabak [Update]

Spiegel Offline (gewohnt linkfrei): Der britische Drogenbeauftragte David Nutt sei entlassen worden.

„Er erklärte LSD und Cannabis für weniger gefährlich als Alkohol und Tabak (…) Die Einnahme von Ecstasy sei mit jährlich 30 Todesfällen nicht gefährlicher als Reiten, wobei jedes Jahr hundert Menschen ums Leben kämen. Cannabis erzeuge ’nur das vergleichsweise geringe Risiko‘ einer psychischen Erkrankung, hatte Nutt gesagt. Er ist Professor für Pharmakologie an der Universität Bristol. (…) An seiner Uni hatte Nutt in der umstrittenen Vorlesung auch eine Klassifizierung aller legalen und illegalen Drogen in einer Schadensskala gefordert. (…) Alkohol kommt in Nutts Skala an fünfter Stelle – nach Kokain, Heroin, Schlafmitteln und Opium. Tabak steht an neunter Stelle und damit weit vor Cannabis, dem Halluzinogen LSD und Ecstasy.“

Natürlich hat Professor Nutt mit jedem Wort Recht. In Deutschland würde man ihn jedoch auch entlassen. Wer die Wahrheit ausspricht, wird gefeuert. Reines Heroin ist weniger gesundheitsschädlich als Nikotin. Glaubt keiner, ist aber so. Wer es sagt, hat verloren.

Bei der Dogenpolitik sind calvinistische Heuchelei, moraltheologischer Populismus und Ignoranz gesetzt – und zwar von allen Parteien (ausser bei den Piraten). Das britische Beispiel ist sehr lehrreich, weil es beweist: Rationale Argumente sind weder erwünscht noch bewirken sie etwas.

Update: Guardian: „Why Professor David Nutt was shown the door“




Schleichwerbung erwünscht: Medienskandal Regividerm

Screenshot WDR

Der Film der ARD: „Heilung unerwünscht (WDR): Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern“ ist kein Pharma-Skandal, sondern ein Medienskandal. Hier Auszüge aus einem Offenem Brief an Klaus Martens und Frank Plasberg:

(…) „In der letzten Woche haben Sie – wissentlich oder unwissentlich – diese Öffentlichkeit in die Irre geführt, indem Sie vielen Kranken und ihren Angehörigen eine zumindest im behaupteten Ausmaß unberechtigte Hoffnung auf Heilung gemacht haben. Sie haben so einseitig positiv und so überzeugt ein Mittel als „Medikament“, als „Heilmittel“ vorgestellt, dass Ihnen viele Menschen geglaubt haben. Dieses Mittel heißt Regividerm und es ist überaus zweifelhaft, dass es nur einen Bruchteil der Erwartungen hält, die Sie geweckt haben. (…) Viele Fakten liegen mittlerweile offen, die die Vermutung stützen, dass es sich bei der Angelegenheit, zu der Sie beigetragen haben, um eine PR-Kampagne für ein schlichtes Medizinprodukt handelt, das ohne Ihre Fürsprache und ohne Ihre Bekanntheit – zu Recht – nicht diesen Bekanntheitsgrad und Grad der Nachfrage erreicht hätte.“ (…)

Dazu FAZ.net: „Schleichwerbung – Der öffentlich-rechtliche Zuschauerverrat“, ÖKO-Test Online-Forum (Thread), Principien: „Die Supersalbe Regividerm“, Forum TG-1 (Thread 1), Forum TG-1 (Thread 2), EsoWatch.com „Regividerm“, Stationäre Aufnahme: „Wahrheit unerwünscht: WDR löscht kritische Kommentare zu Regividerm“, Ärzte Zeitung: „Selbsthilfe-Vereinigungen protestieren gegen ARD-Film zu neuer Hautsalbe“ sowie eine Stellungnahme des Autos Klaus Mertens. Die Süddeutsche berichtete zunächst völlig unkritisch und werbend für den Film („Eine ARD-Dokumentation über Profitgier und ihre Folgen“). Das änderte sich erst zwei Tage später: „Zweifel an der Wundercreme“.

Ein Zitat aus einem Kommentar in der Journalisten-Mailingliste JoNet: „…als einer der Rechercheure in dieser Sache habe ich mich sehr gewundert, wie einer der dreistesten Medien-Skandale der letzten Zeit so unbehelligt über die Bühne gehen kann: volle 6 Stunden Sendezeit im Fernsehen mit knallharter PR für eine ‚Wundersalbe‘.
ARD, 19.20.2009: 3/4 Stunde Reklamefilm
ARD, 23.20.2009: 3/4 Stunde Reklamefilm
Phoenix, 23.10.09: 1 Stunde Reklamefilm
Phoenix, 24.10.09: 1 Stunde Reklamefilm
1Extra, 24.10.2009: 1 Stunde Reklamefilm
1Extra, 04.11.2009: 1 Stunde Reklamefilm
Dazu kommt noch die 1. Sendung „hart aber fair“, in der eine Riege von Prominenten als Hilfsträger mißbraucht wird: gut 20 Minuten. Wenn das keine Schleichwerbung ist, was dann!?“




Das Wort zum Sonntag über Hypathia

Spiegel Online über die Bibliotkek von Alexandria: „Diese Arche hellenistischer Gelehrsamkeit ging keineswegs von einem auf den anderen Tag unter, es war vielmehr ein langsamer Verfall. Ein Faktor, der den Prozess beschleunigte, war das Christentum. Überfälle christlicher Fanatiker auf die Bibliothek gelten heute unter Forschern als gesichert, nur um die genaue Datierung der Anschläge streiten Ägyptologen noch. Als bekanntes Datum in der Geschichte des Kampfes der Christen gegen spätantike Intellektuelle gilt das Jahr 415, in dem Mönche die Mathematikerin und Philosophin Hypatia gefangen nahmen und zu Tode folterten. Das Schicksal der Denkerin steht symbolisch für das der Bibliothek: Beide gehörten zur Antike und ihrer Götterwelt und passten daher nicht in das Weltbild der neuen Religion.“




Lest mal!

„Was ich so von tag zu Tag mit mir anfange? ich schreibe, wenn ich kann, und ich schreibe nicht, wenn ich nicht kann. (…) Ich bekomme dauernd Aufsätze zu Gesicht, in denen Schriftsteller sich darüber auslassen, dass sie grundsätzlich nie auf Inspiration wareten; sie setzen sich einfach jeden Morgen um acht an ihren kleinen Schreibtisch, ob’s regnet oder ob die Sonne scheint, ob sie einen Kater haben oder einen gebrochenen Arm oder was weiß ich sonst, und knallen ihr bisschen Pensum hin. Wie leer ihr Kopf auch sein mag und wie öde alles, was ihnen durch die Gedanken trudelt, mit solchen Quatsch wie Inspiration haben sie nichts im sinn. Ich entbiete ihnen meine Bewunderung und gehe ihren Büchern sorgfältig aus dem Weg.

Ich hingegen, ich warte auf Inspiration, obwohl ich sie nicht unbedingt bei diesem Namen nenne. Ich glaube, dass alles Schreiben, das auch nur etwas Leben in sich hat, aus dem Slarplexus kommt. Es ist harte Arbeit insofern, als man hinterher todmüde sein kann, sogar total erschöpft. Im Sinne bewusster Bemühung freilich ist es überhaupt keine Arbeit. Wichtig ist dabei vor allem eins: der Berufsschriftsteller sollte einen bestimmten Zeitraum haben, sagen wir mindestens vier Stunden am Tag, wo er nichts anderes tut als schreiben. Er muss nicht unbedingt schreiben, und wenn ihn nicht danach ist, sollte er’s auch nicht versuchen. Er kann aus dem Fenster schauen oder einen Kopfstand machen oder sich auf dem Fußboden schlängeln, aber er soll nichts vollkommen anderes tun, soll nicht lesen, Briefe schreiben, in Zeitschriften blättern oder Schecks ausfüllen. Entweder schreiben oder gar nichts.“ (Raymond Chandler: „Die simple Kunst des Mordes„, meine völlig zerlesene Ausgabe Zürich 1975 (ich mag nur Übersetzungen von Hans Wollschläger, ohne ihn hätte ich eines der größten Werke der Weltliteratur, den Ulysses, nie verstehen können.

Ich lese gerade – immer noch mit großem Vergnügen – einen ungarischen Schriftsteller: Attila Bartis: „Die Ruhe“ (Duhrkamp), Freiburg 2005. Mein Verdikt, das Buch sei langweilig, nehme ich mit dem allergrößten Bedauern zurück. Vielleicht habe ich in zu kleinen Häppchen gelesen (ja, auf dem Klo). Das Buch hat den allerschwärzesten Humor, den man sich vorstellen kann, mit einem gehörigen Schuss Melancholie und Absurdistan frei nach Kafka. Ein Schriftsteller lebt mit seiner geisteskranken Mutter zusammen, einer exatierten Ex-Schauspielerin.
„Wowarstdumeinsohn?
Ich war nur spazieren, Mutter.
Wasch dich wenigstens, bevor du das nächste Mal heimkommst. Du stinkst nach Kölnischwasser.
Tut mir leid, Mutter.
Das ist wohl wieder so eine billige kleine Nutte. Die so ein Parfüm benutzen, sind alle Nutten.
So hat das doch alles keinen Sinn, Mutter.
Du hast mir nicht zu sagen, was Sinn hat. Wasch dir lieber den Vaginageruch ab, bevor du heimkommst, verstanden?“

Dann lese ich noch „Tod am Tocuyo – Die Suche nach den Hintergründen der Ermordung Philipps von Hutten 1541-1550″ sowie zum wasweißweißcihwievielten Male eines der besten und interessantesten Bücher, das ich jemals gelesen habe (nichts für intellektuelle Warmduscher): Giorgio de Santillana, Hertha von Dechend: Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit. Berlin 1992. ISBN 3-926763-23-X.

Aus einem Nachruf: „Um von Dechends theoretisches Konzept weitgehend zu verstehen, benötigt man unermeßliche Kenntnisse, vor allem aber unumstößliche Überzeugung davon, dass man vor zehntausend Jahren genauso wie wir heute zum Denken fähig war – ganz zu schweigen von dem Willen jede alte Sprache zu verstehen. Ohne diese Bereitschaft, und ohne ungeheuren Fleiß, kann man zwar die dechendschen Erkenntnisse auf jede Ebene beliebig reduzieren, trotzdem gerät man in Gefahr sich in der Fülle des historischen Stoffes zu verlieren. In Anflügen von Selbstironie erzählte mir von Dechend hin und wieder, sie sei überall sowohl von fachlichen Feinden als auch von Anhängern, diese jedoch meist schlichten Gemüts, umgeben“.

Mir scheint, die Kritiker Dechends haben das Buch gar nicht oder nur flüchtig gelesen oder sind schlicht beleidigt, dass ihnen fundmentale Irrtümer nachgewiesen wurden. Man sollte übrigens diese Website zur Hand haben, wenn man sich an Hamlets Mühle traut: „Studies of Occidental Constellations and Star Names to the Classical Period“.