Warum ging die Weimarer Republik unter?

schönbach

Woran ist die Weimarer Republik untergegangen? Es gibt eine Antwort, die allgegenwärtig ist. Die jeweilige Bundesregierung, Wikipedia, die Bundeszentrale der politischen Bildung, die Mehrheit der deutschen Historiker, alle Medien (mit wenigen, aber irrelevanten Ausnahmen), die Macher der Schulbücher und Materialien für Schüler – alle sind mehr oder weniger der gleichen Meinung, oder sie geben so viele Ursachen an, dass gar kein Standpunkt mehr zu erkennen ist.

Das ist doch merkwürdig, oder? Was wäre, wenn alle irrten oder die historische Wahrheit keine Chance hätte, den öffentlichen Diskurs zu beeinflussen?

Ich empfehle Karsten Heinz Schönbach – für alle, die die Fakten zum Thema wissen wollen und auch die, die sich mit der Geschichte der Weimarer Republik beschäftigen.

Warnung: Das Buch ist Wissenschaft vom Feinsten, also gespickt mit Quellen und Aktenauszügen, 658 Seiten lang. [Inhaltsverzeichnis] Ich habe mehrere Wochen gebraucht, um es komplett durchzulesen. Es war die Mühe wert.

Dass sich kein großer Verlag finden ließ und sich die Medien mit Rezensionen sehr zurückhalten, kann bestenfalls im ersten Moment überraschen. Je mehr man sich in Karsten Heinz Schönbachs Untersuchung »Die deutschen Konzerne und der Nationalsozialismus 1926–1943« vertieft, desto weniger vermag einen das jedoch noch zu überraschen. (Heinz W. Pahlke)

Schönbach ist der erste Historiker, der Firmenakten auswerten konnte, die beweisen, dass ohne die finanzielle Hilfe der deutschen Konzerne die NSDAP nicht an die Macht gelangt wäre. (Ja, vorher hat das niemand gemacht!) Die Mehrheit des deutschen Kapitals wollte das oder nahm es billigend in Kauf, weil es ihren Interessen diente.

Äußerst interessant fand ich auch die Passagen, die anhand zahlreicher Firmenakten, Augenzeugenberichten, Briefen und Protokollen belegen, dass Hitler und die NSDAP-Führung bewusst „sozialistische“ Parolen übernahmen, um Wähler zu bekommen, das aber gegenüber den Vertretern des Kapitals zurücknahmen und relativierten. Alle Kapitalisten, die Geld gaben, wussten, dass es den Nazis damit nicht ernst war. Die NSDAP wir sogar schon pleite und hätte ohne die großzügigen Spenden des Kapitals keinen Wahlkampf mehr machen können.

Die „offizielle“ Theorie wird sich aber nicht ändern lassen, weil sie nicht auf Fakten beruht, sondern auf Ideologie. Geschichte, das beweist Schönbachs Buch, ist immer die Geschichte, wie sie die jeweils Herrschenden sehen wollen. Alles andere wird unter den Teppich gekehrt, auch wenn die Tatsachen etwas anderes sagen. Das ist heute genau so wie damals.

Eliten im Beitrittsgebiet

Ich wusste garnicht, dass es ostdeutsche Eliten gibt.

Proletarischer Journalismus oder: Ehre, wem Ehre gebührt

Ehrenmal Kommunalfriedhof WeetfeldEhrenmal Kommunalfriedhof WeetfeldEhrenmal Kommunalfriedhof WeetfeldEhrenmal Kommunalfriedhof Weetfeld

Mal so ganz unter uns, liebe an Geschichte interessierten Leserinnen und historisch gebildeten Leser: Was wäre, wenn die Website Ruhr 1920 offline ginge? Ich habe nichts gefunden, was korrekt über den Austand des Proletariats im Ruhrgebiet 1920 berichtete – und was davon an Denkmälern übriggeblieben ist. Ja, ein Rapper-Video von den Grenzgängern kann man jungen Leuten empfehlen (Einfach grandios! Ich wüsste gern, woher das Filmmaterial ist. Ideen oder Tipps?) Wenn ich es nicht schon wüsste, hätte ich wieder etwas über die Arbeiterverräterpartei SPD gelernt.

Natürlich haben wir dann noch Rote Ruhrarme 1920 von Heiner Herde. Dort wird angekündigt, dass einer der Augenzeugen „aus der Distanz des bürgerlichen Journalisten“ zu Wort käme. Har har. Wer würde das noch heute sich zu sagen trauen? (Ja, ihr dürft mich gern einen proletarischen Journalisten nennen!)

[By the way: habe gerade gelernt, wie man Youtube-Videos per Terminal downloaden kann.]

Ich habe den Kommunalfriedhof Hamm-Wiescherhöfen bzw. Weetfeld, Weetfelder Straße besucht und das dortige Ehrenmal. Hier wurden gefallene Kämpfer der Roten Ruhr-Armee begraben. Der Stein ist erhalten, weil ein Bauer ihn nach der Machtübernahme der Nazis versteckte. Die Namen der Ermordeten sollen hier noch einmal genannt werden: Franz Casper, Otto Abt, Otto Probst, Theo Vehring, Albert Fusselberg, Anton Ehlert, Franz Sobeck, Wenzel Bontkowski, Johann Balake und ein unbekannter Toter.

„1920, wen juckt das schon? Die Revolution!“

Nicht weit davon ist ein weiteres „Ehrenmal“, sozusagen inhaltlich das Gegenteil (Foto unten). Für mich sind die dort „Geehrten“ keine „Helden“. Es könnte sein, dass eben diese Soldaten auch die waren, die die Arbeiter niedergemetzelt haben. Der Stein lädt auch nicht ein, zu „gedenken“. Ich habe mir die Namen gar nicht erst angesehen.

Wir Gendern

Spektrum der Wissenschaft: „Wie wissenschaftlich ist die Gender-Forschung?“ Interessant zu lesen, aber leider ohne klare Antwort.

Heute ein Stück Wurst und morgen ein Kotelett und dann abends einen Hering

Morgenpost

Deutsche Kulturbilder der Berliner Morgenpost – diese „Postkarte“ ist eine Quittung der Berliner Morgenpost „über 60 Pfennig für die 12. Woche vom 22.3. bis 28.03.1931“.

„Vergleich eines Muskels (oben) mit einem Auto=Motor (unten)“

Der Naturforscher kann nicht ohne Schmerz zu den Menschen des Alltags vom Muskel reden. Da ißt jung und alt sozusagen täglich Fleisch. Heute ein Stück Wurst und morgen ein Kotelett und übermorgen Schabefleisch und dann abends einen Hering – sie zerschneiden und schlagen, salzen und wässern, kochen und zersäbeln das Fleisch und dann zerfasern sie es mit ihren Gabeln und stecken es in den Mund und kauen es und schlucken es herunter – und wer von ihnen allen denkt einmal darüber nach, was wohl das Fleisch sei?

Wann ist ein Staat ein Staat?

Interessanter Artikel in Katapult – Magazin für Kartografik und Sozialwissenschaft: „Wann ist ein Staat ein Staat?“ – „Für das Vorhandensein eines Staatsgebiets braucht es keine allgemein oder von den Nachbarstaaten anerkannten Grenzziehungen.“

The Codex Arundel

The Codex Arundel

British Library: Contents: Notebook of Leonardo da Vinci (‚The Codex Arundel‚). A collection of papers written in Italian by Leonardo da Vinci (b. 1452, d. 1519), in his characteristic left-handed mirror-writing (reading from right to left), including diagrams, drawings and brief texts, covering a broad range of topics in science and art, as well as personal notes. The core of the notebook is a collection of materials that Leonardo describes as ‚a collection without order, drawn from many papers, which I have copied here, hoping to arrange them later each in its place according to the subjects of which they treat‘ (f. 1r), a collection he began in the house of Piero di Braccio Martelli in Florence, in 1508. To this notebook has subsequently been added a number of other loose papers containing writing and diagrams produced by Leonardo throughout his career. Decoration: Numerous diagrams.

Das ist im Sinne des Wortes einfach genial.

Die Revolution entlässt ihre Kinder und Enkel

Die Revolution entlässt ihre Kinder

Das Buch von Wolfgang Leonhard: Die Revolution entlässt ihre Kinder hätte ich schon in den 70-er Jahren lesen sollen. Aber damals hätte ich es eben aus genau den Gründen nicht getan, die Leonhard beschreibt.

Die schlechte Nachricht zuerst: Schlecht geschrieben, zu viele Details, zu lang, kaum theoretischer Tiefgang, für die nachgeborene Generation zu langweilig, zu viele Namen, die niemand mehr kennt. Ohne marxistische Grundkenntnisse nicht verständlich.

Die gute Nachricht: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ ist immer noch genau so aktuell wie der unsterbliche Sketch über die Volksfront von Judäa. Ich habe es mit äußerster Spannung gelesen, was aber nicht repräsentativ ist, da nur die ältere Generation, die in den 70-er Jahren Marx et al ausführlich studiert hat, mit den Ereignissen etwas anfangen kann.

Warum gibt es eigentlich immer noch keine theoretische Diskussion in der Linken darüber, wie „Stalinismus“ eigentlich entstanden ist und warum? Leonhard beweist anhand seines eigenen Lebens, dass der Moment, in dem Stalin an die Macht kam, eine Konterrevolution war. Alle Kader der ersten Bolschewiki wurden umgebracht. Nur Stalin und die Krupskaja überlebten. Noch schlimmer: Warum hat sich niemand gewehrt?

Wenn man die Leute detailliert beschrieben bekommt, die – aus dem Moskauer Exil kommend – einen Sozialismus in der DDR aufbauen sollten, dann weiß man sofort: Das konnte nur schief gehen. Schlechter konnten die Voraussetzungen nicht sein.

ich wusste gar nicht, dass Leonhard später im Westen eine kommunistische Partei gegründet hat, die sich an Jugoslawien orientierte. „Hier versammelten sich die erfahrenen, aber geschlagenen Kämpfer aus der zweiten Reihe der Arbeiterbewegung, die sich eine ehrliche, politisch-moralisch intakte und kämpferische Klassenpartei wünschten.“ Ist mir sofort sympathisch. Das würde heute aber genauso scheitern wie damals.

Aber urteilt selbst.

1.250 Free Online Courses from Top Universities

Openculture.com: „1.250 Free Online Courses from Top Universities“.

Was sehe ich denn da?
Marx’s Kapital: Volumes 1 and 2 – Free Online Course – David Harvey, CUNY
Marxian Economics – Free Online Video – Stephen Resnick, UMass – Amherst<7i>

Turboslavism

In Polen schreiben einige jetzt die Geschichte um. „The level of craziness here might be sometimes very high; bear with me.“

Aren’t Happy About The Results

Da wir heute schon einmal beim Thema „Ahnenforschung“ waren: IFLScience erklärt, warum Rassisten und Nazis mit den Resultaten nicht glücklich sind.

Preussische, geheime und haptische Folianten

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Hat jemand schon einmal Dokumente aus dem 18. Jahrhundert betastet? Mit den Fingern? Ich fand es wahnsinnig aufregend. Da bestellt man etwas aus ‚Die Plankammer der Regierung Bromberg. Spezialinventar 1772-1912 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz und kriegt Schriftrollen knisterne Karten, die nur sehr vorsichtig angefasst werden dürfen und ein komisches Geräusch machen, wenn man sie auseinanderrollt. Entweder war das ziemlich dickes Papier oder ein Material, das ich nicht kenne.

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Wozu das alles? Nach der 1. Teilung Polens 1772 fiel das Gebiet südöstlich von Bromberg an Preußen. Daher stammen meine Vorfahren (patriarchale Linie). Einige der Namen sind – laut den Kirchenbüchern – schon seit 1760 dort präsent. Ich wollte aber Details wissen – und das auch beweisen können. Der preußische König hatte damals angeordnet, das gesamte Gebiet kartographisch und als Kataster zu erfassen. Diese Karten sind erhalten – fein säuberlich per Hand gemalt und beschriftet.

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Ich habe unter anderem herausgefunden, dass es einen Bauernhof der Schröders in Otteraue/Langenau schon 1780 gegeben hat, in unmittelbarer Nähe des Weichselufers. Heute ist das ein Vorort von Bydgoszcz. Die Wiesen von Otorowo (Otteraue) sind fast noch genauso wie damals.

I keep you informed.

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Gouvernantenpolitik oder: Schwundstufe linker Ideologien

Interessantes Interview in der Schweizer Wochenzeitung: „Wenn das Glück der anderen nur noch eine Bedrohung ist: Der Kulturtheoretiker Robert Pfaller sieht in unserer Verbotskultur ein Symptom für die realen Versäumnisse der Politik.“
Geht es dabei denn wirklich um Moral, also darum, die Menschen zu einem besseren Lebenswandel zu erziehen?
Letztlich ist es eine rechte Einschüchterungspolitik. Das Vertrackte daran ist, dass alles, was die Gesellschaft in letzter Zeit repressiver gemacht hat, nicht mit rechten, sondern mit scheinbar linken Argumenten gerechtfertigt wurde. Die neoliberalen Beraubungsmassnahmen an der Gesellschaft konnten nur mit einem bestimmten Überbau durchgesetzt werden, der signalisiert hat, dass man schon dafür sorge, dass es den Schwachen gut gehe. Genau diesen Überbau muss man aus einer linken Perspektive angreifen. Das ist eine groteske Verzerrung linker Anliegen. Erstens kämpfen wir nicht dafür, dass es den Schwachen gut geht, sondern dass niemand schwach ist. Zweitens haben diese Massnahmen fast immer nur ihren Repräsentanten genutzt. Das ist eine Schwundstufe linker Ideologien, die im Namen irgendwelcher Schwachen, die übrigens meist fiktiv sind, jeden kritischen Diskurs und jedes Aufbegehren ersticken.“

Zentraler Satz: „Die Moralisierung ist ja ein anderes Symptom dieser Entpolitisierung mit scheinbar linken Argumenten“.

Da ich schon dabei bin: Ulli Kulke sagt, die Bienen stürben nicht aus.

Schlachta oder: Polonia confusione regitur [Update]

bücher über polen

Ich wusste nicht viel über Polen. Es hat mich nie groß interessiert. Da bber meine Hälfte meiner Vorfahren aus dem Gebiet kommt, das heute zu Polen gehört, war ich jüngst gezwungen, mich mehr mit der deutsch-polnischen Geschichte zu beschäftigen, auch, um ein paar Rätsel und offenen Fragen aus meiner Familiengeschichte zu lösen bzw. zu beantworten. Fazit: Ich kam und komme aus dem Staunen nicht heraus.

Nach rund zweimonatigem Forschen in der wissenschaftlichen Literatur weiß ich alles, was relevant ist. Die Sache ist richtig spannend. Es war zu Beginn wie beim Thema Spartacus: Es kann doch nicht sein, dass es zu diesem doch nicht unwichtigen Thema keine guten und vernünftige Bücher gibt? Woran liegt das?

Typisch ist der Satz in Christian Jansen und Arno Weisbecker: Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/40 (1992), die bisher unveröffentlichte Justizakten auswerteten: „Dieser Materialfülle stand bisher mangelndes Interesse von seiten der Historiker gegenüber.“

Bei Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939 (1998) lesen wir: „In der deutschen Geschichtsschreibung ist die Problematik der deutschen Minderheit in Polen [in der Vorkriegszeit] kaum aufgegriffen worden.“ Polnische Quellen waren erst seit 1989 zugänglich. Und, so kann man aus den Anmerkungen einiger neuerer deutscher Autoren schließen: Die polnische Sicht der Geschichte war durchweg undifferenziert, wenn nicht gar irrational.

Ich empfehle vier Bücher. Das beste ist zweifellos Martin Broszat: 200 Jahre deutsche Polenpolitik (1963). Wenn man die ersten fünfzig Seiten gelesen hat, murmelt man ständig „Aha! Das wusste ich nicht!“ und stellt gleich noch mehr Fragen.

Ein Beispiel: Deutsche und Polen haben sich über Jahrhunderte gegenseitig massakriert, aber es gab auch Phasen, in denen beide Völker (was auch immer das genau ist) friedlich nebeneinander lebten. Der Nationalismus diente immer den herrschenden Klassen, um das Volk gegeneinander aufzuhetzen. Das gilt bekanntlich bis heute. insbesondere für Polen. Doch warum sind die nationalen Mythen Polens so undemokratisch, völkisch, erzreaktionär – vom Katholizismus ganz zu schweigen?

Broszat stellt eine sehr interessante Theorie auf, die ich einleuchtend finde: Der Feudalstaat entwickelte sich in Polen ganz anders zum Kapitalismus, mit weit reichenden Folgen. Die polnische Adelsrepublik Rzeczpospolita (bitte verlangt nicht, dass ich das ausspreche), also die Union von Polen und Litauen, war „fortschrittlicher“ organisiert als die Herrschenden in Westeuropa. Fast ein Zehntel der polnischen Bevölkerung gehörte zum bäuerlichen Kleinadel, der Schlachta (auch: Szlachta); der Kleinadel organisierte sich durch Wahlen und durch Delegierte. Die Dominanz der Schlachta aber verhinderte auch, dass sich, anders als in Deutschland, die Städte im Gegensatz zur Feudalherrschaft organisierten. In Polen gab es weniger Klassenkämpfe zwischen Bauern und Feudaladel als in Deutschland. aber: „Die Identifizierung von Schlachta und Staat bewirkte allerdings schon im 16. Jahrhundert eine dem städtischen Bürgertum und seinen Rechten abträgliche Tendenz.“ Die Bourgeoisie hatte kaum eine Chance – der Adel war immer schon da. Ohne Bourgeoisie aber kein Kapitalismus und die ihm angemessene Herrschaftsform. Ganz im Gegenteil: Da die Produktivkräfte sich natürlich weiterentwickelten, war die herrschende Klasse Polens bald ein anarchischer Haufen, der sich gegenseitig bekämpfte – ohne die Tendenz zur absoluten Monarchie, die in Westeuropa den Adel sozial herabdrückte, ihn aber „domestizierte“.

In absolutistischen Preußen hingegen nahm der Anteil des Staates an der Verwaltung immer mehr zu: Die Könige erlaubten Siedlern, sich niederzulassen und das Land urbar zu machen, sie gründeten Manufakturen, ließen Kanäle und Verkehrswege anlegen, modernisierten die Landwirtschaft (natürlich im Sinn der herrschenden Klasse und der imperialistischen Politik). Die späteren polnischen Teilungen zugunsten Preußens und Russlands resultierten aber nicht aus der „Schwäche“ Polens, sondern waren eiskalte Machtpolitik. (Dennoch bewundere ich den „Alten Fritz“ wegen seines gnadenlosen Zynismus und seiner Toleranz.) Die „fortschrittliche“ Rzeczpospolita wurde aber im Kapitalismus reaktionär – ein schlagendes Beispiel für einen Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften.

Christian Jansen und Arno Weisbecker: Der „Volksdeutsche Selbstschutz“ in Polen 1939/40 sind für die interessant, die sich mit der Geschichte Westpreußens nach dem Ende des 1. Weltkriegs bis 1945 beschäftigen. Ein interessantes Buch trotzdem: Themen sind die organisierten Morde von Deutschen an Polen schon vor der Besetzung Polens 1939 – und wie diese in den Nachkriegsjahren juristisch aufgearbeitet wurden – oder eben nicht.

Albert S. Kotowski: Polens Politik gegenüber seiner deutschen Minderheit 1919-1939 ist ebenso wie Broszat ein Standardwerk, weil er als einer der ersten Historiker Zugriff auf alle Akten bekam, auch in Polen. Er referiert „Argumente“ der gesamten Forschungsgeschichte, und für die geht das nicht gut aus. In Polen wird man die Ergebnisse sicher anders sehen, weil nationale Mythen immer wirkungsvoller sind als Fakten. Ich hatte mir das Buch zugelegt, weil ich wissen wollte, was genau dort abgelaufen ist, wo der Hof meiner Urgroßeltern und derer Vorfahren war.

By the way: Von Kotowski habe ich mir gleich ein weiteres Buch gekauft: Die „moralische Diktatur“ in Polen 1926 bis 1939: Faschismus oder autoritäres Militärregime?. Muss man nicht haben: es ist eine Seminararbeit, die zum Thema hat, ob und ab wann Polen nach 1918 eine – im soziologischen Sinn – „faschistische“ Diktatur war. Die Antwort ist – nach dem Tod Pilsudskis: Ja. Damit wird er sich im heutigen Polen keine Freunde machen.

bücher über polen

Von den Handbüchern zur Geschichte Ost- und Westpreußens, die ich teuer und antiquarisch kaufte, kann ich nur abraten. Er werden zwar vermutlich alle Quellen zum Thema genannt, aber die Bücher selbst sind keine wissenschaftlichen werke.

[Update] Zum Ausgleich lese man Karl Marx (politisch völlig unkorrekt über Juden) in der Rheinischen Zeitung vom 29. April 1849:
„Wir wenden uns in dieser lehrreichen Untersuchung für heute nach dem polnischen Teil unseres engeren Vaterlandes. Bereits im vorigen Sommer, bei Gelegenheit der glorreichen Pazifizierung und Reorganisation Polens mit Schrapnells und Höllenstein, haben wir die deutsch-jüdischen Lügen von „überwiegend deutscher Bevölkerung“ in den Städten, „großem deutschen Grundbesitz“ auf dem Lande und königlich-preußischem Verdienst um das Wachsen des allgemeinen Wohlstandes geprüft. (…) Im Jahre 1793 teilten die drei gekrönten Diebe die polnische Beute nach demselben Recht unter sich, nach welchem drei Straßenräuber den Beutel eines wehrlosen Wanderers unter sich teilen. (…) Eine Menge Strauchritter, Günstlinge königlicher Maitressen, Kreaturen der Minister, Helfershelfer, denen man den Mund stopfen wollte, wurden mit den größten und reichsten Gütern des geraubten Landes beschenkt und hiermit den Polen „deutsche Interessen“ und „überwiegend deutscher Grundbesitz“ eingepfropft.“

Wer schmunzeln will und beißende Ironie mag, lese auch Friedrich Engels: „Die Polendebatte in Frankfurt“:
„Und worin liegt die unerbittliche, die eherne Notwendigkeit, daß Polen sich wieder befreit? Darin, daß die Herrschaft der Aristokratie in Polen, die seit 1815 wenigstens in Posen und Galizien, und selbst teilweise in Russisch-Polen nicht aufgehört hat, heute ebenso überlebt und untergraben ist wie 1772 die Demokratie des kleinen Adels; darin, daß die Herstellung der agrarischen Demokratie für Polen nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Lebensfrage geworden ist; darin, daß die Existenzquelle des polnischen Volks, der Ackerbau, zugrunde geht, wenn der leibeigene oder robotpflichtige Bauer nicht freier Grundbesitzer wird; darin, daß die agrarische Revolution unmöglich ist ohne die gleichzeitige Eroberung der nationalen Existenz, des Besitzes der Ostseeküste und der Mündungen der polnischen Flüsse.“

Hamburger Aufstand

Mehr zum Hamburger Aufstand… Audiatur et altera pars: Hamburger Aufstand. By the way und nicht vergessen: Ernst Thälmann redet und schreibt Bullshit zum Thema.

Kleinbürger und Bullen

apokalypse

„Doch nur vor Einem ist mir bang: Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang.“ (Mephistopheles in Johann Wolfgang von Goethes „Faust“: Der Tragoedie erster Teil)

Interessante Lektüre: „Kleinbürger und Bullen in die Hölle von Hamburg“ – Vom Verschwörungsglauben der #NoG20-Linksextremisten (Michael Blume, SciLogs). Der Inhalt ist nicht so polemisch „gegen links“, sondern eher zynisch und klug aus der Sicht eines Ethnologen bzw. Soziologen.

Wenn sich die – oft berechtigte – Unzufriedenheit mit den Zuständen dieser Welt nicht überzeitlich-religiös auflösen lässt, wenn sich alle utopischen Hoffnungen in dieser säkularen Zeit erfüllen (oder scheitern) müssen – dann liegt der Traum von entfesselter Gewalt nahe, schein-legitimiert durch eine mythologische Hoffnung auf ein apokalyptisches Paradies nach der großen Zerstörung.

Dazu passt eine Rezension: „Die Gefahr durch Religion(en) – Not in God’s Name von Rabbiner Baron Jonathan Sacks“. (Vgl. dazu New York Times)

Ich denke bei dem Thema auch an Hans Blumenberg: „Lebenszeit und Weltzeit, 2. Kapitel: Apokalypse und Paradies“:

Aber es geht doch auch und womöglich in hintergründiger Weise um die Aufhebung des Ärgernisses, welches der Einzelne daran nimmt, daß die Welt über die Grenzen seiner Lebenszeit hinweg unberührt feststeht und sich noch andere Freuden zu erfreuen anschickt, als ihm selbst vergönnt sein mögen.

Haudegen

Schöner und interessanter Artikel von Sven Felix Kellerhoff in Welt.de: „Danny Matt kam Ende 1927 als Daniel Meth in Köln zur Welt. Seine Familie flüchtete noch rechtzeitig vor dem Holocaust ins damalige Palästina. Hier wurde er in vier Kriegen zum Helden.“ Man lernt auch etwas über Geschichte.

Exodus

exodus

„Die Juden stehen den Arabern blutsmäßig sehr nahe und zwischen den beiden Völkern gibt es keinen Konflikt der Charaktere. Grundsätzlich besteht zwischen uns absolutes Einvernehmen.“ [Faisal I., König von Syrien (1920) und König des Irak (1921–1933)]

Niemand hat mich bisher gefragt, warum ich wie und was über Israel denke. (Tenenbom machte sich jetzt über mich lustig: Die Deutschen und ihre Obsession „Israel“, ja, ja…) In meiner streng christlichen Familie redete man weder über die Shoa noch über den Nationalisozialismus; und die Juden kommen bekanntlich im Christentum nur als diejenigen vor, die Christus nicht akzeptieren, also die Bösen sind. Im Schulunterricht kamen wir nur bis zum 1. Weltkrieg….

Die Antwort ist einfach: Ich habe, als ich 13 oder 14 war, Leon Uris‘ Roman Exodus gelesen. Das Buch hat mich zutiefst beeindruckt und bis heute gefesselt. Man sollte auch es allen Arabern zwangsweise zum Lesen verordnen.

Da ist alles drin und unterhaltsam und sehr spannend anhand einzelner Schicksale verpackt: Der Aufstand im Warschauer Ghetto bis zur Rampe in Auschwitz, vom dänischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung bis zur Staatsgründung Israels, von der Balfour-Deklaration bis zu Liebesszenen, in denen Salomons Sprüche gemurmelt werden. Übrigens bezeichneten sich die Juden zu der Zeit immer noch als Palästinenser.

Das Buch gehört zum hier vom Stammpublikum vorausgesetzten Bildungskanon. Den gleichnamigen Film Exodus mit Paul Newman habe ich auch angesehen: Der wirkt heute zu oberflächlich und aufgesetzt und ist für Jugendliche, die sich noch nicht mit dem Thema befasst haben, nicht zu empfehlen.

Fazit: Unbedingter Lesebefehl!

Fake News 1.0

„Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder eines Landes oder das Ansehen der Reichsregierung oder einer Landesregierung oder der hinter diesen Regierungen stehenden Parteien oder Verbänden schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.“ (Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933)

Fashionable Nonsense oder: The conceptual Penis

Leseempfehlung (via Fefe): „The conceptual penis as a social construct” is a Sokal-style hoax on gender studies“. – „The androcentric scientific and meta-scientific evidence that the penis is the male reproductive organ is considered overwhelming and largely uncontroversial.“

„Subsequently, Sokal and the Belgian physicist Jean Bricmont noted in their 1997 book Fashionable Nonsense, that certain kinds of ideas can become so fashionable that the critical faculties required for the peer-review process are compromised, allowing outright nonsense to be published, so long as it looks or sounds a certain way, or promotes certain values.“

Ich musste auch an die „Online-Durchsuchung“ denken.

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