Fakten zum variablen Kapital

variables Kapital

Naked capitalism zitiert Wolf Richter: „The Stunning Differences In European Costs Of Labor – Or Why “Competitiveness” Is A Beggar-Thy-Neighbor Strategy“:

„Alas, the rejuvenated ’sick man of Europe,‘ Germany, isn’t surviving just by cutting its cost of labor. At €31 per hour, it was 32% higher than the EU average, though 11% lower than in France. In manufacturing, it was even more striking: Germany’s cost of labor of €35.20 per hour was 47% higher than the EU average, but still 3% lower than in France.“

Variables Kapital bezeichnet in der Marxschen Theorie die Lohnkosten der in der Produktion beschäftigten Arbeiter. Der Lohn ist der Preis der Ware Arbeitskraft, die die Kapitalisten von den Arbeitern kaufen. Dieser Wert der Arbeitskraft bestimmt sich dabei durch die zu ihrer Produktion durchschnittlich notwendigen Arbeitszeit, also die Lebens- und Erhaltungskosten des Lohnarbeiters.

Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eignes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer oder kleiner sein kann. Aus einer konstanten Größe verwandelt sich dieser Teil des Kapitals fortwährend in eine variable. Ich nenne ihn daher variablen Kapitalteil, oder kürzer: variables Kapital. Dieselben Kapitalbestandteile, die sich vom Standpunkt des Arbeitsprozesses als objektive und subjektive Faktoren, als Produktionsmittel und Arbeitskraft unterscheiden, unterscheiden sich vom Standpunkt des Verwertungsprozesses als konstantes Kapital und variables Kapital.

Marx-Engels Werke als PDF zum Download

Marx-Engels Werke als PDF zum Download (Berliner Institut für kritische Theorie, Website mit Frames).
Vorbemerkungen, Fußnoten, Anmerkungen und Informationen im Anhang über in den einzelnen Schriften vorkommende Personen und geschichtliche Ereignisse sind nur mit Vorbehalt zu empfehlen. Neben wichtigen Hintergrundinformationen und Fakten sind auch inhaltliche Färbungen, ja auch Verfälschungen des Ideengehalts der Schriften von Marx und Engels in diesem „Apparat“ enthalten.

Verdiente Ökonomen

„Und das bedeutet: Es gibt nur einen Ökonomen, der es verdient, diesen Titel zu tragen. Karl Marx.“ (Börsenlegende Seth Glickenhaus laut sueddeutsche.de)

„‚Die Regierung hat entschlossen gehandelt‘, lobt Glickenhaus. ‚Mit der Teilverstaatlichung unserer Banken hat sie das Richtige getan.'“

Marx revisited oder das höhere Reflexionsniveau

das kapital

Denis Mäder: Seminar „Das Marxsche Entwicklungsdenken“, FB Philosophie, Freie Universität:
Obwohl Karl Marx bekanntlich in einem etwas schwer eingrenzbaren philosophischen und sozialwissenschaftlichen Kontext steht, hat er im 20. Jahrhundert stark auf das Nachdenken über Politik, Moral, Kultur und Gesellschaft gewirkt. Seit einigen Jahren ist zudem eine Erneuerung der Auseinandersetzung mit Marx zu beobachten – eine ’neue Marxlektüre‘ (Rohbeck 2006, 12) -, die nicht zuletzt das für sein Denken allgemein als charakteristisch geltende Verhältnis von menschlicher Praxis und gesellschaftlicher Entwicklung neu zu überdenken versucht. Das Seminar möchte dieser Auseinandersetzung Rechnung tragen.

Vgl. auch Wikipedia über die neue Marx-Lektüre:
Hier wird insbesondere darauf insistiert, dass die mikroökonomischen Ansätze der neoklassischen Wirtschaftstheorie die Konstitution, den Erhalt und die Dynamik des ökonomischen Wertverhältnisses nicht erklären können, und für makroökonomische Konstrukte wie das Bruttosozialprodukt nur unzureichende theoretische Mittel vorweisen können. Demgegenüber wird darauf verwiesen, dass sich bei Marx zwar nicht Antworten auf diese Fragen finden, er aber ein höheres Reflexionsniveau und Problembewusstsein aufbringt, das es kritisch für die zeitgenössische Diskussion zu gewinnen gilt.

Unter Zockern

zocker

„Auswischen wird Allah den Wucher. und vermehren wird er die Almosen, (…) O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allah und lasset den Rest des Wuchers fahren, so ihr Gläubige seid.“ (Der Koran, Sure 2, Vers 276ff.)

Wir zäumen den Gaul immer noch von hinten auf: Obwohl wir das Geld noch gar nicht eingeführt haben (vgl. den Tag „Marx revisited“), sind wir heute schon bei der London Interbank Offered Rate, also known as LIBOR („rate“ ist ein Femininum – so wie URL ein Maskulinum ist).

Wir bewegen uns also in den luftigen Gefilden des Geldmarktes, der keine Werte schafft. Wenn Geld ein stoffliches Mittel ist, um den Tauschwert zu realisieren, sollte klar sein, dass es sich hier um ein Ding handelt, das an sich wertlos ist, sondern nur dazu dient, ein Verhältnis gesellschaftlicher Arbeit auszudrücken, also das abstrakte Gemeinsame mehrere produzierter Dinge. Wenn Geld aus Gold gemacht wird, besitzt es natürlich auch einen Gebrauchwert, aber der hat nichts mit dem Tauschwert des Geldes zu tun.

Eine Staatsbank, die das Recht hat, Geld in Umlauf zu bringen, kann anderen Banken Geld leihen und die können es weiterverleihen. Auch wenn die Aktion tausend Mal stattfindet – das Geld wird nicht mehr. Der Zins ist ja nur ein spekulativer Aufschlag, der die Banken am Leben hält, weil sie hoffen, dass irgendjemand Geld investiert, um Gebrauchswerte zu schaffen. Nur die vermehren den Wert, der durch Geld repräsentiert wird.

Einen mehr oder minder entwickelten Finanzmarkt hat es gegeben, seitdem Geld verliehen wurde. Alle monotheistishen Religionen sahen aber den Zins zunächst als etwas Böses an. Aber wer wird schon der Wirtschaft auf Dauer widersprechen wollen, vor allem, wen man selbst davon profitiert!?

Man könnte natürlich auf folgende Idee kommen: Jeden Morgen nach dem Frühstücksmüsli berechnen wir den durchschnittlichen Zinssatz, den eine Menge X einiger ausgewählter Banken festlegt, um Geld zu verleihen. Damit hätten wir einen Referenzzinssatz. Wir legten diesen Zins zum Beispiel auf drei Monate fest. Da jede Bank tun kann was sie will, vermuten wir nun, dass dieser Referenzzinssatz drei Monate „hält“. Das muss aber nicht so sein.

Wenn wir nun ganz abgezocket wären und uns Roulett zu langweilig wäre, könnten wir zusätzlich auf die Idee kommen darauf zu wetten, wie hoch der reale durchschnittliche Zinssatz der Menge X der von uns ausgewählten Banken in den nächsten Monaten sein wird. Wir würden anderen Mitspielern sogar Wettscheine verkaufen. Ein Artikel der deutschen Ausgabe des Wall Street Journal über „das Milliardenspiel der Deutschen Bank mit dem Libor“ erklärt, wie das gemacht wird.

Die Dokumente zeigen, wie Händler in London und New York erfolgreich darauf gewettet haben, dass die Kosten der Geldaufnahme von Euro, US-Dollar und Britischem Pfund wegen der zunehmenden Spannung im globalen Finanzsystem über drei oder sechs Monate schneller steigen als die Einmonatszinssätze.

Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser werden jetzt zweifelnd nachfragen: Was aber, wenn die beteiligten Banken die Zinssätze, zu denen sie Geld verleihen und aus dessen Durchschnitt der Referenzzinssatz besteht, das, um was es geht, einfach frei Schnauze festlegen, wenn diese Banken also auf etwas wetten, was sie selbst festlegen? Das wäre ja so, als wettete Burks mit seinen LeserInnen, wieviele Blogbeiträge er in der nächsten Woche schreiben wird. Sind es genau so viele, wie Burks meint, dass es sein werden, haben diejenigen Leser, die etwas anderes wetten, verloren. Alle werden jetzt entsetzt aufschreien und rufen: Aber wir sind doch nicht bescheuert?

Hm, ja, nun, niemand hat die Macht, dem Markt des Geldes vernünftige Regeln aufzuzwingen. Wie sollte das funktionieren? Markt ist Markt und der soll freiheitlich-demokratisch frei sein, rufen die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft Freier Markt(TM) im Chor.

Die Deutsche Bank selbst gibt sich gelassen: Die Handelsstrategie unterliege den Risikobeschränkungen des Hauses und sei zudem in der Branche weit verbreitet.

Quod erat demonstrandum. Dann kann ja nichts mehr schief gehen. Alle machen es so. So isser eben, der freie Finanzmarkt im Kapitalismus. Übereinstimmungen mit verbotenem Glücksspiel und organisierter Kriminalität sein purer Zufall.

Ha-Joon Chang, das schwarze Loch im Kopf deutscher Journalisten und die Glaubensgemeinschaft Freier Markt

SpOn über Ha-Joon Chang und sein Buch „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“:

„In seinen Büchern geht Chang kritisch mit einem der wichtigsten Dogmen der Marktwirtschaft ins Gericht: Der Freihandelstheorie, die vor rund 200 Jahren vom britischen Ökonomen David Ricardo geprägt wurde.“

Ach?! Das tat Karl Marx auch schon, Ricardo taucht im „Kapital“ gefühlt 890 Mal auf. Marx darf aber nicht erwahnt werden in deutschen Medien.

Er hat Jehova Karl Marx oder Freie Marktwirtschaft Kapitalismus gesagt! Steinigt ihn!

Investorenfreundliche Höschen aus Kambodscha und die Charaktermasken

adidas

Gestern habe ich mir zwei Sporthosen gekauft, kurz und lang. Ich hatte einen Gutschein für sportscheck.com bekommen. SportScheck gehört der Otto Group.

Löblich, dass in der SportScheck-Filiale in Berlin-Steglitz Verkäufer herumlaufen, die einen beraten, die nicht nur auf Zuruf herbeigeeilt kommen, sondern die den ziellos umherirrenden Kunden (Turnhosen? Wo gibt es Turnhosen?) sogar fragen, ob sie dienstbar sein können.

Ich ahnte allerdings schon, dass mein Kauf nicht reibungslos ablaufen würde. Ich hatte einen Gutschein. Was aber, wenn die Summe der gekauften Artikel kleiner war als die Summe, die ich geschenkt bekommen hatte? Und siehe, als ich den Gutschein abgab, begann die Verkäuferin eilig einen neuen auszufüllen.

Meine zeitliche Hemmschwelle, Ärger anzufangen oder – wie man im Englischen sagt „to stir the soup up“ – beträgt ungefähr eine Millisekunde (merkwürdigerweise gilt das auch für meinen Avatar in virtuellen Welten). Ich verkündete, dass ich den Differenzbetrag ausgezahlt haben wolle. Das ginge nicht, war die Antwort, die ich auch erwartet hatte. Ich fing an, laut und deutlich zu reden und sagte, entweder es ginge doch oder ich würde auf den Kauf ganz verzichten und den Schenkenden den Gutschein zurückbringen. Ob es einen Geschäftsführer gebe? Der kam auch und sagte, man dürfe mir das Geld auszahlen. Geht doch.

Beide Höschen sind von Reebok bzw. Adidas, was Rebook gekauft hat. Adidas ist bei der Kampagne für saubere Kleidung bestens bekannt.
Adidas verfügt über einen Verhaltenskodex, der auf der Homepage des Unternehmens einsehbar ist. Auch werden hier die weltweiten Zuliefererbetriebe sowie der Lizenznehmer veröffentlicht. Adidas ist seit 1999 Mitglied der Multi-Steakholder- Initiative Fair Labor Association (FLA). Immer wieder berichten NäherInnen von Arbeitsrechtsverletzungen in Fabriken, die für adidas fertigen.

Auf der Liste der Zuliefererbetriebe kann man nachlesen, welche Firmen in China und Kambodscha für Adidas produzieren. Guckst du hier:
Die Bekleidungsindustrie gehört in Kambodscha zu den Schlüsselindustrien für Exporteinnahmen und beschäftigt durchschnittlich 350.000 bis 400.000 Personen. Die große Abhängigkeit von diesem Exportstandbein führt dazu, dass Kambodscha aus Wettbewerbsgründen ein Interesse hat, die nationalen Mindestlöhne tief und somit investorenfreundlich zu halten. Mit den steigenden Lohnkosten in China wurde Kambodscha umso mehr zu einem begehrten Produktionsland, um billig Massenware zu produzieren. (…) In Kambodscha beträgt der gesetzliche Mindestlohn 61 US-Dollar (ca. 47 Euro) pro Monat. Dazu kommen 10 US-Dollar Anwesenheitsbonus und 7 US-Dollar als Beitrag für Transport- und Mietkosten. Der gesetzliche Mindestlohn wurde nach einem sektorweiten Streik im Jahr 2010 von 56 US-Dollar auf 61 US-Dollar angehoben.

Nur damit das klar ist: Ich kümmere mich nicht darum, wer das produziert hat, was ich am Leib trage. Die Trägerorganisationen der „Kampagne für saubere Kleidung“ bestehen mehrheitlich aus deutschen Gewerkschaftlern sowie Verehrern höherer Wesen und anderen Lichterkettenträgern aus der Abteilung „faier Lohn und Preis“. Letztere haben vom Kapitalismus so viel Ahnung wie ein „Volks“wirtschaftler vom Krabbenfischen. Man kritisiert aus moralischen Gründen, nicht aus Prinzip, fällt also intellektuell noch hinter die Befreiungstheologie zurück. Löblich ist es jedoch, dass die öffentlich machen, wie das Proletariat arbeiten muss, damit Firmen die Adidas billige Kleidung anbieten können.

Ich finde es interessant, dass man heute in Deutschland Hosen kaufen kann, die zum Beispiel in Kambodscha hergestellt werden. Vor fünfzig Jahren wäre das undenkbar gewesen. Man könnte diese Hosen als pädagogisch wertvolles Beispiel im Unterricht nutzen, um zu demonstrieren, wie der Fall der Profitrate funktioniert und warum Firmen die Produktion in Billiglohnländer verlagern und warum man das nicht verhindern kann. Man kann diesen Trend eben nicht einfach umkehren.

Die Kapitalisten machen das ja nicht aus Böswilligkeit, sondern weil sie als Charaktermasken agieren, es also tun müssen, weil die Gesetze des Marktes im Kapitalismus sie dazu zwingen. Kann man hier weiterlesen:
Charaktermaske bedeutet, dass im Kapitalismus die Menschen, weil sie über Warentausch miteinander in Beziehung treten, nicht einfach ausgehend von ihren individuellen, unmittelbaren und spontanen Bedürfnissen und Interessen handeln, sondern sich immer schon in vorgegebenen Rollen befinden, die ein bestimmtes Handeln als besonders rational belohnen. (…) Die gesellschaftlichen Prozesse sind nicht das Ergebnis von individuellen Willensentscheidungen. Aber sie sind auch nicht nur passive Opfer. (…) …die Individuen werden in und durch die Verhältnisse, unter denen sie leben, zu bestimmten Personen gemacht. Auf diese Weise werden sie zu Träger von Verhältnissen, aber nicht von irgendwelchen Verhältnissen, sondern von Klassenverhältnissen. Die Personen tragen aktiv die Verhältnisse und reproduzieren sie durch ihr Handeln.

Nur mal so unter uns Tarifpartnern: Die Höhe der Löhne sind nicht objektiv, sondern eine Machtfrage. Was würde geschehen, wenn das Proletariat weltweit ein Lohnniveau erkämpft hätte, das dem in den industrialisierten Staaten aka „Erste Welt“ ähnelt? Wo würde Adidas dann seine Hosen herstellen lassen? Ist das nicht eine ausgezeichnete Frage, um die von uns hier schon öfter erwähnte Glaubensgemeinschaft Freier Markt(TM) noch bescheuerter aussehen zulassen als sie eh schon ist?

Von grôzer arebeit und ihrer fantastischen Gestalt

nibelungenlied

Wahrscheinlich bin ich der einzige Mensch auf der Welt, dem bei „Nibelungenlied“ und „Das Kapital“ von Karl Marx gleichzeitig etwas einfällt. Da die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser dieses kleinen und gesellschaftlich irrlevanten Blogs vermutlich zu einer bildungsbürgerlichen Elite gehören, die die Hexameter Homers und das Geschwurbel Hegels auswendig zitieren können und gleichzeitig bei „Python“ nicht nur Schlangen assoziieren, die das Hildebrandslied beim Duschen summen und die wissen, was das Zahlkörpersieb mit asymmetrischer Kryptografie zu tun hat, kann ich heute die intellektuelle Schraube noch weiter anziehen. Nein, die allgemeine Relativitätstheorie kommt nicht vor. (Noch jemand hier?)

Ich habe in den letzten Tagen den ersten Band des Marxschen „Kapital“ durchgeblättert, was ich seit den 70-er Jahren so ausführlich nicht mehr getan hatte. Man fragt sich natürlich, warum man sich das antun sollte und warum Marx mehr als hundert Seiten braucht, um den Begriff „Ware“ zu analysieren, anstatt das auf Wikipedia-Niveau mit ein paar Sätzen abzuhandeln. Nur damit das klar ist: Wenn man mit der Marxschen Theorie nicht hinreichend und einleuchtend erklären könnte, was es mit der so genannten „Krise“ in Griechenland auf sich hat, oder wenn man den tendenziellen Fall der Profitrate nur gebrauchen könnte, um bei einer Party von „Volks“wirtschaftlern die Gäste zu erschrecken, dann könnten wir uns das auch ersparen und Marx im Ordner „Alles, was die Welt dringend nicht braucht“ abheften, gleich neben Adalbert Stifter, dem Vordenker des Lebensgefühls der Grünen, Anaximander und dem Vaterunser auf Prägermanisch.

Das Publikum stritt hier herum, was „Arbeit“ und „gesellschaftlich“ bedeute. Im Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, 12. Jh.) zum Beispiel ist von „grôzer arebeit“ die Rede: Das Wort hat aber mitnichten mit dem etwas zu tun, was wir darunter verstehen. Im Althochdeutschen, das ungefähr zur Zeit Karl des Großen gesprochen wurde, bedeutet „Arbeit“ nur „Mühsal“ oder „Beschwernis“. „Arbeit“ als ein Tun, das Werte schafft, ist bis zum hohen Mittelalter in der gesamten Literatur unbekannt. Im Neblungenlied steht es als Synonym für „Kampf“.

Marx arbeitet (sic!) sich ja deswegen am Wort „Arbeit“ ab, weil diese in der Zeit vor dem entwickeltem Kapitalismus anders organisisiert war. Ein abstrakter Begriff „Arbeit“ im Sinne von „Wertschöpfung“ war im Sinne des Wortes undenkbar, genausowenig wie die Himmelsmechanik Isaac Newtons im antiken Griechenland hätte erdacht werden können – die alten Griechen hatten zwar von Mechanik Ahnung, aber für eine wissenschaftliche Theorie der Astronomie waren zu ihrer Zeit die Produktivkräfte und die Technik noch nicht genug entwickelt. Denken und abstrakte Begriffe fallen eben nicht einfach vom Himmel. Ökonomie ist eine Wissenschaft, und für die gilt das auch. Marx schreibt:

Versetzen wir uns nun (…)in das finstre europäische Mittelalter. Statt des unabhängigen Mannes finden wir hier jedermann abhängig – Leibeigne und Grundherrn, Vasallen und Lehnsgeber, Laien und Pfaffen. Persönliche Abhängigkeit charakterisiert ebensosehr die gesellschaftlichen Verhältnisse der materiellen Produktion als die auf ihr aufgebauten Lebenssphären. Aber eben weil persönliche Abhängigkeitsverhältnisse die gegebne gesellschaftliche Grundlage bilden, brauchen Arbeiten und Produkte nicht eine von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt anzunehmen. Sie gehn als Naturaldienste und Naturalleistungen in das gesellschaftliche Getriebe ein. Die Naturalform der Arbeit, ihre Besonderheit, und nicht, wie auf Grundlage der Warenproduktion, ihre Allgemeinheit, ist hier ihre unmittelbar gesellschaftliche Form. Die Fronarbeit ist ebensogut durch die Zeit gemessen wie die Waren produzierende Arbeit, aber jeder Leibeigne weiß, daß es ein bestimmtes Quantum seiner persönlichen Arbeitskraft ist, die er im Dienst seines Herrn verausgabt. Der dem Pfaffen zu leistende Zehnten ist klarer als der Segen des Pfaffen. Wie man daher immer die Charaktermasken beurteilen mag, worin sich die Menschen hier gegenübertreten, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten erscheinen jedenfalls als ihre eignen persönlichen Verhältnisse und sind nicht verkleidet in gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen, der Arbeitsprodukte.

Wir sind also immer noch beim „Warenfetisch“. Lauschen wir Stefan Niemann und der „Tagesschau“ vom 29.12.2012, der als aktuelles pädagogisch wertvolles Beispiel dienen kann:
Spätestens dann müssen auch die republikanischen Abgeordneten öffentlich bekennen, was ihnen am Ende wichtiger ist: ihre Parteilinie oder die Ängste des amerikanischen Volkes oder die Nervösität der Märkte.

Die Nervösität der Märkte?! Im Marxschen „Kapital“ heisst es dazu: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“

Das Geld, die Waren, das Kapital, der „Markt“ erscheinen als beseelte Dinge, die eigenständig agieren – also wie ein Fetisch, dem Eigenschaften zugesprochen werden, die das Ding in Wahrheit nicht hat. Friedrich Engels nannte das „ein Naturgesetz, das auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht.“ Marx: „Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.“

(Wer sich das im Detail antun will, lese die Anmerkung 32, in der Marx die Mängel und Beschränktheit der damaligen Theorie der Ökonomie referiert. Die heutige „Volks“wirtschaftslehre verzichtet ganz auf die Anaylse und „argumentiert“ nur noch auf auf dem Niveau des gesunden Volskempfindens – mit dementsprechenden Ergebnissen.)

Jetzt wird es aber Zeit, dass wir endlich zu(m) Geld kommen. In Kürze mehr in diesem Theater.

Moneta, Aes Signatum und die Ware an sich

aes signatum

Eine der ersten römischen Münzen, genannt aes signatum, ca. 15 cm lang und 1,75 Kilo schwer, 3. Jh. v. Chr., British Museum

Warum in meinem letzten Posting über Gebrauchswert und Tauschwert Schweine vorkamen, hatte ich noch nicht erwähnt. Argumente, die gegen die Marxsche Theorie der Ware vorgebracht werden könnten, habe ich auch noch nicht gehört, zumal damit auch Aristoteles und bürgerliche Ökonomen wie Adam Smith unrecht gehabt hätten. [By the way: bloße Beschimpfungen meiner Person, wütende Hasstiraden (die ich nicht freigeschaltet habe) und die „überzeugende“ These, Marx sei tot, kann ich nicht wirklich als Gegenbeweis akzeptieren; es zeigt nur, dass die Anhänger der Glaubensgemeinschaft Freier Markt(TM) intellektuell aber auch rein gar nichts anzubieten haben.]

Die Sache mit der Ware und ihrem „Doppelcharakter“ hört sich einfach an, ist es aber nicht. Wenn man die These konsequent weiter denkt, wird es schnell kompliziert. Die Ware ist, wie Marx es ausdrückt, ein „vertracktes Ding“ und „voll theologischer Mucken“.

These: Nur gesellschaftliche Arbeit schafft Werte. Das deutsche Wort „Wert“ drückt leider – und missverständlich – beides aus: sowohl den Gebrauchswert als auch das abstrakte Dritte, das Verhältnis, mit dem ein Produkt mit einem ganz anderen verglichen wird (aus dem später das Geld entsteht). Übrigens ist auch für Adam Smith, den Gründervater der bürgerlichen Wirtschaftslehre, die Arbeit die einzige Quelle gesellschaftlichen Reichtums.

Wer das also akzeptiert, muss bei der Redewendung „das Geld arbeiten lassen“ die Augen rollen. Geld arbeitet nicht und schafft auch keine Werte, auch wenn es jahrelang in einem Banktresor liegt. Jetzt haben wir ein Problem: Wo kommen denn die Zinsen her?

Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. (Das Kapital, Bd. 1: Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis)

Das ist – zugegeben – ein bisschen verschwurbelt formuliert. Der von Marx so genannte „Fetischcharakter der Ware“ ist nichts weniger als eine erkenntnistheoretische These, die die Wahrnehmungspsychologie müsste verifizieren können. Marx behauptet, die bloße Existenz der Ware zwänge die Akteure zu einer falschen Sicht der Realität.

„Falsch“ in dem Sinne, wie Ludwig Feuerbach Gott und die Religion beschreibt: „Denn nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, wie es in der Bibel steht, sondern der Mensch schuf (…) Gott nach seinem Bilde.“ (Vorlesungen über das Wesen der Religion, Leipzig 1851, XX. Vorlesung) Das heisst: Gott existiert nicht, sondern ist eine Projektion.

Und genau das behauptet Marx über die Eigenschaften der Ware, die ihr zugeschrieben werden: Der Tauschwert, also der „gesellschaftliche“ Teil des Wertes, erscheint als Eigenschaft der Ware selbst und nicht mehr als das, was er ist – nur eine abstrakte Kategorie, um zwei Dinge miteinander vergleichen zu können.

Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.

Juno

Die römische Göttin Juno (vgl. die Münze oben: Julia Soaemias Denarius, 22o v. Chr.) hatte den Beinamen Moneta. Bei ihrem Tempel wurde die ersten Münzen geschlagen, die oft ein Schwein oder ein Rind zeigten. Man merkt gleich, für welche Produkte das Geld zuerst benötigt wurde. (Wer mehr darüber lesen will, dem empfehle ich Horst Kurnitzky: Triebstruktur des Geldes: Ein Beitrag zur Theorie der Weiblichkeit. Wagenbach, Berlin, 1974.)

Nackte Frauen, Schweine und die Ware an sich

Baubo

Die sicherste Methode, die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser von diesem gesellschaftlich irrelevanten Blog alsbald zu vertreiben, ist, ein Posting mit Zitaten von Aristoteles und Thomas von Aquin zu beginnen. Auf vielfachen Wunsch des harten Kerns tu ich das doch – und jetzt erst recht.

Ich zweifle übrigens an den edlen Motiven der Leserschaft: Wer würde heute noch 1500 Seiten dröge Lektüre in Kauf nehmen, um zu verstehen, wie Wirtschaft funktioniert? Und wer liest länger als fünf Minuten ein Blog – außer es geht um nackte Weiber (oder Männer – aber ich glaube nicht, dass ich Leserinnen habe)? Wollt Ihr das also wirklich? Wer jetzt schon bereut, kann sich ja stattdessen Fleisch ohne Text reinziehen.

Also von hinten nach vorn: Was käme dabei heraus, wenn man sich die Marxsche Werttheorie antäte? Zum Beispiel die Erkenntnis, dass manche Philosophen im alten Griechenland wesentlich tiefschürfender dachten als heutige „Volks“wirtschaftler“ und andere Dummschwätzer und dass – daraus folgend – die Menschheit nicht klüger wird, sondern das Dümmerwerden durchaus eine ernst zu nehmende Option der Evolution zu sein scheint.

Ich warne also: Wer mir nicht sofort widerspricht, wenn sie oder er das Folgende rezipiert hat, darf das in Zukunft auch nicht mehr. Wer akzeptiert, dass zwei mal zwei vier ist, darf nicht meckern, wenn ich später behaupte, vier mal vier seien sechzehn. Ja, man ahnt es schon: erstens geht es heute um den Wert an sich („Geld“ und „Kapital“ kommen erst später), und zweitens sagt Karl Marx nichts anderes als Aristoteles dazu; ersterer drückt es nur klarer aus und nimmt aktuellere Beispiele. Wer aber die Werttheorie Marxens nicht mit guten Argumenten falsifiziert, darf auch nicht herumnörgeln, wenn wir später das Ausbeutungsverhältnis der Lohnarbeit, den tendeziellen Fall der Profitrate und den Kapitalismus an sich kriegen.

Nehmen wir den christlichen Philosophen Thomas von Aquin (†1274):
Der Wert der Dinge aber, die zum Nutzen des Menschen in Umlauf kommen, wird nach dem bezahlten Preis bemessen. (…) Teurer verkaufen oder billiger einkaufen, als eine Sache wert ist, ist also an sich ungerecht und unerlaubt.

Ist das richtig? Im 13. Jahrhundert dachte man offenbar nicht anders als die heutige Glaubensgemeinschaft des „fairen“ Preises und Handels und des „gerechten“ Lohns. Es geht hier aber nicht um Moral und Theologie, sondern darum, die Ökonomie wissenschaftlich zu beschreiben. Wer sagt, ein bestimmter Preis sei ungerecht, muss auch sagen, dass die Zahl Pi unfair ist, weil man sie so schwer berechnen kann und weil man, wenn man sie betrachtet, unweigerlich beim Buffonschen Nadelproblem landet, was einem den ganzen Tag versauen kann.

Erster Einwand: Geht das überhaupt, die Wirtschaft wissenschaftlich zu analysieren? Sind da nicht zu viele Variablen im Spiel? Gute Frage! Wenn es einem aber gelänge, vom Konkreten zu abstrahieren, also etwas streng Logisches zu finden, das Gesetzen folgt. wären wir schon einen Schritt weiter in Richtung Induktion. Und das wäre kein Kaffeesatzlesen oder Astrologie wie der Wirtschaftsteil deutscher Medien und dem Gefasel der Gläubigen des niederen Wesens „freier Markt“, sondern richtige Wissenschaft, deren Schlüsse andere nachvollziehen können.

Hier also Marx im Originalton über die Methode (Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, aus dem Nachlass, 1903 zum ersten Mal veröffentlicht):

Es scheint das Richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch. (…) Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen. Der erste Weg ist der, den die Ökonomie in ihrer Entstehung geschichtlich genommen hat. Die Ökonomen des 17. Jahrhunderts z.B. fangen immer mit dem lebendigen Ganzen, der Bevölkerung, der Nation, Staat, mehreren Staaten etc. an; sie enden aber immer damit, daß sie durch Analyse einige bestimmende abstrakte, allgemeine Beziehungen, wie Teilung der Arbeit, Geld, Wert etc. herausfinden. Sobald diese einzelnen Momente mehr oder weniger fixiert und abstrahiert waren, begannen die ökonomischen Systeme, die von dem einfachen, wie Arbeit, Teilung der Arbeit, Bedürfnis, Tauschwert, aufsteigen bis zum Staat, Austausch der Nationen und Weltmarkt. Das letztre ist offenbar die wissenschaftlich richtige Methode.

Baubo

Was also ist eine Ware – also was haben Waren im Neolithikum, im alten Sparta und im heutigen Havanna und Chicago gemeinsam?

Eine Ware hat einen Gebrauchswert und einen Tauschwert. Beide sind selbstredend nicht identisch. „Geld“ oder gar die Kategorie „Preis“ sind hier noch gar nicht im Spiel – man kann sich auch Gesellschaften vorstellen, die kein Geld haben, sondern Naturalien tauschen.

Weder der Gebrauchswert noch der Tauschwert sind „natürliche“ Eigenschaften der Dinge. Im Tauschwert steckt jedoch etwas Anderes. „Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ‚Erscheinungsform‘ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein,“ schreibt Marx in Das Kapital.

Man kann das auch anders sehen. Wer aber subjektive Gefühle ins Spiel bringt wie manche „Volks“wirtschafts-Groupies, der sollte erst gar nicht von einem wissenschaftlichen Anspruch reden – das ist nichts anderes als primitive Populärpsychologie.

Aristoteles schreibt das in seiner Nikomachischen Ethik so:
Daß aber das Bedürfnis als eine verbindende Einheit die Menschen zusammenhält, erhellt daraus, daß wenn kein Teil des anderen bedarf, oder auch nur der eine des anderen nicht, sie in keinen Verkehr des Austausches treten, wie sie es tun, wenn der eine Teil dessen benötigt, was der andere hat,…

Der Tauschwert verkörpert „irgendwie“ die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für ein Produkt, das als Ware auftaucht. Wenn alle Produzenten einer autarkten Gemeinschaft plötzlich weniger Zeit und Aufwand brauchten, um ein bestimmtes Ding herzustellen, weil sie zum Beispiel bessere Werkzeuge haben, dann sinkt der Tauschwert. Oder: Die Wertgröße wechselt mit der Produktivkraft.

Übrigens gibt es einen Streit unter „Marxisten“, den die Apparatschiks leider sowohl in der ehemaligen Sowjetunion als natürlich auch in der DDR unter den Tisch kehrten. Dort wurde Marx bekanntlich als eine Art Religionsstifter angesehen, dessen Werke man nicht als bloßes Werkzeug ansah, sondern als heilige Schriften, die die absolute Wahrheit verkündeten – oder das, was die jeweiligen Parteifunktionäre meinten daraus machen zu müssen. In diesem Streit geht es um die erkenntnistheoretische Frage, ob die Fähigkeit, überhaupt abstrakt zu denken, also sich ein „Drittes“ vorzustellen, das zwei völlig unterschiedliche Dinge erst vergleichbar macht, nicht ein Produkt des Tausches ist. Der marxistische britische Altphilologe George Thomson gehört zu dieser Denkschule, insbesondere aber Alfred Sohn-Rethel oder auch der von ihm beeinflusste Rudolf Müller mit seinem Hauptwerk „Geld und Geist„. Ich sehe das übrigens nicht so; die Idee ist aber sehr interessant.

Demnächst mehr in diese Theater.

Untermitteloberschicht aka Klassengesellschaft

Ein lehrreicher Artikel über die Tendenzen des Kapitalismus findet sich bei Zeit online sueddeutsche.de, obwohl der Begriff „Kapitalismus“ dort wegen der Schere im Kopf der Journaille nicht genannt wird. Lehrreich auch deswegen, weil man dort die suggestiven und unwissenschaftlichen Termini „Unterschicht“, „Mittelschicht“ und „Oberschicht“ benutzt, die Realität aber dennoch nicht leugnen kann.

Nur damit das klar ist: „Schicht“ ein ein säkularreligiöses Wort der Glaubensgemeinschaft Freier MarktTM.

„Die Annahme, dass Gesellschaften (grundsätzlich oder in ihren heutigen typischen Ausformungen) stufenförmig (hierarchisch) aufgebaut sind, geht davon aus, dass sich auf diesen Stufen (in den ’sozialen Schichten‘) jeweils viele als gleichartig analysierbare soziale Akteure befinden, und dass die Schichten selbst sich nach bestimmten Kriterien deutlich einteilen lassen,“ heisst es bei Wikipedia. Die angebliche soziale Schicht wurde von denjenigen Pfaffen und Propagandisten des Kapitals erfunden, die wussten, dass sie Ökonomie nicht wirklich erklären konnten. Deshalb schufen sie die „Betriebswirtschaftslehre“, weil die „Volks“wirtschaftslehre sich, seitdem die Marxsche Theorie des kapitalistichen Systems in deutschen Universitäten systematisch totgeschwiegen wird, permanent unsäglich blamiert und noch noch auf dem Niveau der Astrologie vor sich hin dümpelt.

Quod erat demonstrandum. Diese „viele als gleichartig analysierbare soziale Akteure“ gibt es natürlich nicht, weil es darauf ankommt, in welcher Position die so genannten „Akteure“ zu den Produktionsmitteln stehen. Wer keine hat, kann auch nicht „gleichartig“ agieren. Das Schicht-Modell ist eine propagandistische Kampfansage gegen wissenschaftliche Theorien der Gesellschaft, die sich mit Themen wie „Ausbeutung“ befassen. Wer etwa die Sklaven im alten Rom als Unterschicht bezeichnet, hat ja wohl nicht alle Tassen im Schrank.

„Vom wachsenden Wohlstand profitiert nur eine Elite. Forscher des Berliner DIW und der Universität Bremen widerlegen die These von der Stabilität der Mittelschicht“, schreibt Zeit online sueddeutsche.de. Welcher Dödel hat eigentlich behauptet, die so genannte Mittelschicht sei „stabil“ – mal abgesehen von der FDP oder Ludwig Erhard? Doch wohl nur die Pappnasen, die behaupten, der so genannte frei Markt garantiere Freiheit, Wohlstand und Glück für alle.

Die Bertelsmann-Studie suggeriert das auch, weil die Autoren sich wundern. “ Sozialer Aufstieg gelingt immer seltener“. Ach. Und wann gelang er zuletzt?

Demgegenüber ist der Anteil unterer und unterster Einkommen (weniger als 70 Prozent des Medians) seit 1997 um fünf Prozent bzw. knapp vier Millionen Personen gestiegen. Am oberen Ende der Einkommensschichtung zeigt sich ein heterogenes Bild: Dort ist die Zahl der Spitzenverdiener (mehr als 200 Prozent des Medians) leicht angestiegen, während sich die Einkommensoberschicht kaum verändert hat.

Das steht bekanntlich auch schon bei Marx so. Das darf aber in deutschen Medien wegen der freiwilligen Selbstzensur nicht gesagt werden.

Nur ein kleiner Hinweis: Nicht die so genannte Unterschicht hat in der Weimarer Republik mehrheitlich Hitler gewählt, sondern die „Mittelschicht“. Das kann man nachlesen:
Die auffälligen und dramatischen Veränderungen bei den Wahlergebnissen schienen darauf hinzudeuten, daß sich die Wähler innerhalb der jeweiligen politischen Lager neu orientierten, daß also auf der Linken allmählich immer mehr Wähler von der SPD zur KPD wechselten und daß die NSDAP ihren Zuwachs dem Wählerreservoir der bürgerlich-protestantischen Parteien verdankte.

Kommt also alles irgendwie bekannt vor.

Der Markt: Glaube, Liebe, Hoffnung

Ein schönes Beispiel für die religiöse Konsistenz der Theorien, wie der Kapitalismus an sich funktioniere, bietet uns Andrew Gowers, Ex-Chefredakteur der Financial Times, der im ehemaligen Nachrichtenmagazin zum Ende der FTD sagt:

…ich wäre ein schlechter Wirtschaftsjournalist, wenn ich nicht an die Kräfte des Marktes glauben würde.

Bruahahaha. Seit wann ist ein journalist zum Glauben an irgendetwas verpflichtet, gar an Kapitalismus-affines merkbefreites Gefasel?

Ich sollte doch den Tag „Glaubensgemeinschaft Freier MarktTM“ einführen. An die Kräfte des Marktes glauben – das erhebt den Markt an sich unter seinen Gläubigen in den Rang eines niederen, wenn nicht gar höheren Wesens.

Man sieht: Bürgerliche „Volkswirtschafts“lehre glaubt, liebt und hofft. Die Kraft der Sterne sei mit euch.

Unter Finanzführern und Kommissaren

Kommissar

Ich habe aufgehört zu hoffen, dass ich von den Mainstream-Medien über die so genannte „Finanzkrise“ ausreichend oder tiefschürfend informiert werde. Was man liest, ist affirmatives marktsradikales Neusprech oder schlicht Propaganda des Kapitals. Also muss ich versuchen, mich selbst zu informieren.

„Einen Bankrott Griechenlands hat der Finanzminister bereits ausgeschlossen“, schreibt Spiegel online. Ach. Das lässt immerhin erahnen, dass der deutsche Finanzminister sich anmaßt darüber entscheiden zu wollen, ob Griechenland den Staatsbankrott erklärt oder nicht. So weit ich mich erinnere, ist Griechenland ein souveräner Staat und hätte, wenn die herrschende Klasse in Hellas nicht so korrupt und erpressbar wäre, auch andere Optionen als sich freiwillig zu einer deutschen Kolonie zu erklären.

Nur zur Erinnerung – was geschah nach dem Staatsbankrott Argentiniens? „Das Wachstum in Argentinien blieb seit Mitte des Jahres 2003 stetig hoch. Dieses Wirtschaftswachstum kann vor allem durch die positiven Erfolge der Abwertung begründet werden. Die argentinische Industrie wurde durch die Exporte und Importsubstitution gestärkt.“ Wie ich schon schrieb:

Wenn Griechenland den Staatsbankrott erklärte, würde der Kurs des Euro gegenüber der wieder eingeführten Drachme extrem ansteigen – wie damals der Kurs des Dollar gegenüber dem argentinischen Peso. (…) Nach einem Austritt Griechenlands oder dem Zerfall der Union würde das deutsche Kapital weit weniger Profite machen, da die Landeswährungen abgewertet würden. Es wäre genauso wie das Verhältnis zwischen Dollar und Euro. Ein schwacher Euro ist gut für den Export. Das heißt: Die deutschen Kapitalisten müssen alles dafür tun, dass Exporte des Ausland nach Deutschland nicht billiger werden. Das, was ich hier schreibe, kommt zwar so nicht in den Mainstream-Medien vor, die Kapitalisten wissen das aber. So doof sind die nicht, dass sie nicht kapiert hätten, wie das alles endet.

Spiegel online gibt gar nicht erst vor, sachlich informieren zu wollen, sondern macht Schäuble zum „leidenschaftliche Europäer“, bevor dessen Ideen kritiklos publiziert werden. Dass soll suggerieren, es handele sich darum, eine Idee von „Europa“ zu verwirklichen, obwohl es Schäuble und Konsorten ausschließlich darum geht, die Interessen des deutschen Kapitals durchzusetezn. Man nennt Schäubles Tun interessegeleitetes Handeln: Das dient in der Politik dazu, die Macht der Herrschenden zu stablisieren.

Der Kommissar für Finanzplanung und Haushalt soll also mehr Macht bekommen? Dieser Kommissar ist eine Art Finanzminister der Europäischen Kommission. „Die Mitglieder der Kommission (umgangssprachlich als EU-Kommissare bezeichnet) werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten nominiert und vom Europäischen Parlament bestätigt. Sie sind in ihren Entscheidungen unabhängig und sollen nur die gemeinsamen Interessen der Union, nicht jedoch die ihrer jeweiligen Herkunftsstaaten vertreten.“

Warum braucht dieser Kommissar also noch mehr Macht? Im EU-Vertrag lesen wir: „Die Kommission übt ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit aus. Die Mitglieder der Kommission dürfen unbeschadet des Artikels 18 Absatz 2 Weisungen von einer Regierung, einem Organ, einer Einrichtung oder jeder anderen Stelle weder einholen noch entgegennehmen.“

Die Mitglieder dieser Kommission, also auch der Finanzkommissar, sind nicht demokratisch gewählt, obwohl sie Gesetze erlassen können. Die EU-Kommission wird immer als Beispiel für das Demokratiedefizit der Europäischen Union angeführt. Schäuble will also noch weniger Demokratie in Europa – das wäre die richtige Schlagzeile, liebe Mainstream-Medien. Zeit online schreibt genau das Gegenteil:

Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört für Schäuble die institutionelle Stärkung des Wettbewerbskommissars. „Er muss weltweit so anerkannt sein wie der Wettbewerbskommissar, der respektiert und gefürchtet wird.“ Dazu sollte er allein in den Fragen zu den Defiziten entscheiden können. (…) „Im Europa-Parlament sollen immer nur die Abgeordneten der Länder abstimmen, die von einer Entscheidung betroffen sind, zum Beispiel die Eurozone oder der Schengen-Raum.“

Interessant. Das wird dann ein Zwei-Klassen-Europa. Unwichtige Kleinstaaten wie Griechenland sollen gefälligst das Maul halten, wenn die Großen miteinander reden und über ihre Finanzen entscheiden.

Was Schäuble wirklich ändern will, kann man in einem kleinen Satz im Wikipedia-Artikel über die EU-Kommission nachlesen: „Entschlüsse werden aber grundsätzlich nach dem Kollegialprinzip gefasst, bei dem alle Mitglieder der Kommission gleichberechtigt sind.“ Das will er aufheben. Zeit online übermimmt sogar den bürokratischen Nominalstil der Apparatschiks im Original: „Stärkung der Durchgriffsrechte des Währungskommissars“.

Durchgriffsrechte – das Wort lässt das Herz eines jeden Deutschen gleich höher schlagen. Härter durchgreifen und durchführen: Diese Textbausteine quellen permanent aus der obrigkeitshörigen doitschen Seele empor und stinken nach altbekannter brauner Brühe: „Reform“ durchgeführt und Krise verboten, Herr Kommissar Finanzführer!

Übrigens: Die Handlanger des Kapitals wissen, was kommen wird und bereiten sich dementsprechend vor.

Eric Hobsbawm ist tot

Hobsbawm, schreibt Spiegel Offline, „sah das Werk von Karl Marx nicht als politisches Programm an, sondern als Werkzeugkasten für die historische Analyse. Die kommunistische Utopie war in seinen Augen nicht der geschichtliche Endzustand nach dem Umsturz des Kapitalismus, sondern ein Korrektiv zur Marktwirtschaft. (…) Den streitbaren Historiker überraschte die Krise des entfesselten Kapitalismus natürlich nicht: Marx habe dies schon vor 150 Jahren vorhergesehen.“

Ein kommunistischer Historiker? Den hätten sie in Deutschland mit Berufsverbot belegt. In beiden Deutschlands!

Administrative Bürgersozialisten und Winkelreformer der buntscheckigsten Art

Karl Marx über die Grünen: „Ein Teil der Bourgeoisie wünscht den sozialen Mißständen abzuhelfen, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Es gehören hierher: Ökonomisten, Philantrophen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art.“

Karl Marx über die heutige Partei „Die Linke“ und die Piratenpartei: „Eine zweite, weniger systematische, nur mehr praktische Form dieses Sozialismus suchte der Arbeiterklasse jede revolutionäre Bewegung zu verleiden, durch den Nachweis, wie nicht diese oder jene politische Veränderung, sondern nur eine Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse, der ökonomischen Verhältnisse ihr von Nutzen sein könne. Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von Kapital und Lohnarbeit nichts ändern, sondern im besten Fall der Bourgeoisie die Kosten ihrer Herrschaft vermindern und ihren Staatshaushalt vereinfachen.“

Entspanntes Umfeld der Konjunkturchefs

Handelsblatt Online: „‚Mittlerweile haben wir die unbegrenzte Haftung über die EZB. Das schmälert die Bedeutung der kommenden Entscheidung‘, sagte der Konjunkturchef des Münchner Ifo-Instituts, Kai Carstensen.“

Wer etwas über die kapitalsitische Ökonomie wissen will, darf nicht die ahnungslosen Politiker fragen, sondern muss darauf hören, was die Lautsprecher des Kapitals von sich geben, auch wenn die zum Teil unterschiedliche Interessen haben.

Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz, wie sich bei der Ausgleichung der allgemeinen Profitrate gezeigt hat, als praktische Brüderschaft der Kapitalistenklasse, so dass sie sich gemeinschaftlich, im Verhältnis zur Größe des von jedem eingesetzten Loses, in die gemeinschaftliche Beute teilt. Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um die Teilung des Verlustes, sucht jeder soviel wie möglich sein Quantum an demselben zu verringern und dem andern auf den Hals zu schieben. (Karl Marx: Das Kapital, Bd. III)

Das Handelsblatt sagt uns also, worauf es für Kapitalisten ankommt:

Deutschland verdient auch nach dem Beschluss der EZB für einen Kauf von Staatsanleihen der Euro-Krisenstaaten Geld beim Schuldenmachen. Die Versteigerung von Schatzanweisungen mit sechsmonatiger Laufzeit spülte 3,4 Milliarden Euro in die Staatskassen, wie die mit dem Schuldenmanagement des Bundes betraute Finanzagentur am Montag mitteilte. (…) Deutschland profitiert in der Schuldenkrise von seinem Status als sicherer Hafen. Die Kreditwürdigkeit wird von den drei großen Ratingagenturen mit der Bestnote AAA bewertete. Anleger sind deshalb bereit, auf Rendite zu verzichten oder sogar eine Prämie zu zahlen, um ihr Geld sicher parken zu können.

Noch Fragen? Ich höre immer „Krise“. Welche Krise?

Ich zitiere noch einmal mich selbst:
Die finnische Regierung möchte also auch nicht, dass die Europäischen Zentralbank (EZB) Staatsanleihen – also known as „Schuldtitel“ also known as „Wertpapiere“ – kauft. Mit guten Grund: Das ist der EZB verboten. Wir lesen gemeinsam den „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, Artikel 123:
Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten (im Folgenden als „nationale Zentralbanken“ bezeichnet) für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.

Es geht also, sehr geehrter „Konjunkturchef“ (auch bekannt als „Oberster aller Schamanen und Kaffeesatzleser“) Carstensen, gar nicht um Gesetze. Auf die hat das Kapital schon immer gepfiffen. Legal, illegal, scheißegal – nur der Profit zählt.

Es geht vermutlich eher darum, wer dafür zuständig ist, sich darüber zu beschweren, dass die Entscheidung illigeal ist, die europäische Zentralbank möge direkt Staatsanleihen kaufen und den Finanzhaushalt der am Tropf der deutschen und französischen Banken hängenden Länder mit der Notenpresse zu finanzieren. Das können nur Regierungen tun. Die aber werden den Teufel tun, sich selbst des Rechtsbruchs zu bezichtigen.

Das Bundesverfassungsgericht kann darüber gar nicht entscheiden.

Im Tal der ahnungslosen Rettungsschirmer

Spiegel Online über Quatchcomediyclub die Talk-Show Jauchs:

„Die Politik könnte mehr erklären“, formulierte es Ex-Richter Hassemer – und legte Wert auf das Wort „könnte“. Es könne aber sein, „dass sie es gar nicht kann“. (…) Selbst der überaus kompetente Banker Issing musste zugeben, dass er nicht alles versteht. Da hat er etwas mit jenen Bundestagsabgeordneten gemeinsam, die vor einem Jahr nach der Abstimmung über den ersten Rettungsschirm gefragt wurden, was sie denn genau beschlossen hätten – und durch bestürzende Ahnungslosigkeit auffielen.

Wer ist eigentlich „überaus kompetent“, wenn es um die ökononischen Gesetze im Kapitalismus geht? Die so genannte Volkswirtschaftslehre hat doch noch nie den Anspruch gehabt, irgendetwas wissenschaftlich erklären zu wollen. Wenn man irgendein Mitglied des Bundestages fragen würde, was eigentlich die Ursache der „Krise“ sei, würde man keine verwertbare Antwort bekommen. Die denken alle, Ökonomie sei so etwas die Hagel, Donner und Blitz.

Illusionäre Zustände

„Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“ (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 378, 1844)

Wertpapiere, oder: Banken im Kapitalismus, revisited

richardplatz

In meinem letzten Artikel „Unter Schnellballsystemikern und Couponschneidern“ vertrat ich die These, das Prinzip der Staatsanleihen sei ein Schnellballsystem. Das muss ich insoweit relativieren, als ich nur meinte, es funktioniere strukturell als ein solches. Das bedeutet nicht, das ein Zusammenbruch automatisch erfolgen müsste. Die Diskussionen der wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser verfolge ich natürlich aufmerksam und wäge die Argumente in meinem Herzen hin und her.

Das Handelsblatt („Pflichtblatt der Wertpapierbörsen“ liest sich immer wieder nett*) ist heute voll von Artikeln, die sich hervorragend eignen zu erklären, wie der kapitalistische Finanzmarkt funktioniert und wie der von Marx analysierte quasireligiöse Geldfetisch die Köpfe vernebelt. Zur Erinnerung: „Einem Fetisch werden Eigenschaften oder Kräfte zugeschrieben, welche dieser von Natur aus nicht besitzt.“

Geld arbeitet nicht und schafft keine Werte. So weit zu den Fakten. Und jetzt zu dem, was die Wirtschaftsredakteure der Medien daraus machen.

„Nur Bares ist Wahres“, titelt das Handelsblatt hingegen. Oder: „Die Sorge des guten Kaufmanns“ – „Konzerne ziehen Milliarden Euro Bares aus dem Euro-Raum ab und transferieren ihr Geld in sichere Dollar-Anlagen. Was soll ein Finanzchef auch sonst tun? Er muss die Liquidität sichern.“ Oder: Kauft Wertpapiere aus „Schwellenländern“. Am untersten Ende des theoretischen Tiefgang und des intellektuellen Niveaus steht Spiegel online mit Spiegel online mit Wolfgang Münchau: „Somit gibt es auf die Frage nach dem optimalen Schuldenstand nur die unbefriedigende Antwort: Es kommt darauf an.“

Gibt es bald eine Revolution oder nicht? Geht der Kapitalismus nun unter oder nicht? Es kommt darauf an.

Der Artikel „Kauf von Staatsanleihen 1975 – Als die Bundesbank ein Tabu brach“ bestätigt übrigens, dass man gar keine Ahnung haben kann und trotzdem etwas über „Wirtschaft“ veröffentlichen darf. Die Bundesbank „stemmt sie sich heute vehement dagegen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen aus Euro-Krisenländern aufkauft“, heisst es da. Die kennen noch nicht einmal Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der der EZB genau das verbietet.

Wertpapiere – o welch ein schönes Wort! Wie funktioniert das also mit den Banken, die dem Staat Geld leihen – und welche Rolle spielt die Bundesbank?

Banken arbeiten nach dem Prinzip der Teilreserve – ein Lieblingsthema für obskure Zins-Theoretiker und ihre Groupies, „eigentümlich freie“ Ökonomie-Astrologen und Verschwörungstheoretiker aller Sorten. Teilreserve ist nichts Geheimnisvolles, sondern bedeutet ganz einfach: Das offizielle Geld, das gesetzliche Zahlungsmittel, darf in Deutschland nur die Bundesbank herausgeben. Die leiht es den anderen Banken. Jenes ist das Zentralbankgeld, dieses das Buchgeld. Man kann auch sagen: Zentralbankgeld und „Geschäftsbankgeld“.

Kurze Unterbrechung, weil ich gerade zwei Stunden mit einer bezaubernden jungen Dame (live – nicht virtuell!) über dies und das plauderte, sonst wäre dieses Posting schon längst fertig.

Das Buchgeld oder Giralgeld der Banken ist also nur ein Anspruch, eine Forderung an meine Bank, falls ich Bargeld (also Zentralbankgeld) auf mein Konto eingezahlt habe. Deswegen heisst Buchgeld auch Sichtguthaben. „Das Entstehen von Buchgeld aus einer Bargeldeinzahlung kann noch nicht als eigentliche Geldschöpfung verstanden werden, weil hier keine Geldvermehrung stattfindet, sondern lediglich eine Geldform in eine andere umgewandelt wird – Bargeld in Sichtguthaben.“

Jetzt kommt die Pointe: Die Bank kann das von mir eingezahlte Geld wiederum bei der Bundesbank als Sichtguthaben einzahlen – als so genannte Mindestreserve. Meine Bank kann aber mit ihrem Buchgeld ebenso Kredite vergeben oder Vermögen kaufen, aber auch Staatsanleihen! Jetzt wird es lustig: „Auf diese Weise entsteht auf Grundlage des eingezahlten Bargelds ein Vielfaches an Buchgeld, da sich der Prozess wiederholen kann.“

Wenn plötzlich alle, die etwas angezahlt haben, die also über ein Sichtguthaben verfügen, gemeinsam zur Bank gingen und ihr Geld haben wollten, wäre die Bank bankrott, könnte sie sich von der Bundesbank nicht kurzfristig Geld leihen. Sie hatte mehr Geld „ausgegeben“ als sie „hat“.

Genau das läuft auch zwischen der europäischen Zentralbank und den Staaten der Europäischen Union ab. Bei Spiegel Online wurde gerade erwähnt: „Die EZB schlägt den Umweg über die griechische Notenbank ein und erlaubt ihr die Ausgabe von zusätzlichen Notkrediten an die Kreditinstitute des Landes. Diese wiederum sollen für das Geld griechische Anleihen mit kurzer Laufzeit kaufen. Vier Milliarden Euro sollen so zusammenkommen. Die griechische Notenbank akzeptiert die Wackelanleihen als Sicherheit und stattet die ebenfalls völlig maroden Geschäftsbanken des Landes mit frisch gedruckten Euro aus – die letztlich von der EZB kommen.“

Die Europäische Zentralbank (EZB) leiht also den griechischen Banken Zentralbankgeld, und die kaufen damit Staatsanleihen vom griechischen Staat, von denen sie wissen, dass sie nie und nimmer zurückgezahlt werden. Die griechischen Banken, die eh schon pleite sind, produzieren Buchgeld, damit sie noch pleiter werden. Gleichzeitig erklärt die EZB, dass sie selbst keine griechischen Staats-„Wert“papiere akzeptiert. Sehr witzig. Aber so ist er – der Kapitalismus in der Krise.

Das Beispiel Spanien ist auch sehr lehrreich, was das Verhältnis zwischen Zentralbankgeld und Buchgeld angeht. In Spanien benötigte man so gut wie gar kein Eigenkapital, um eine Immobilie zu kaufen. Die Banken produzieren also unglaubliche Summen von Buchgeld – in der Hoffnung, die Besitzer der Häuser würde ihre Raten auch zahlen können. Das ging aber schief. Die Situation ist der so genannten „Finanzkrise“ in den USA nicht unähnlich.

Kurzes Intermezzo: Wie war das mit dem Staatsbankrott Argentiniens 2002?
Am Höhepunkt der Krise (Mitte 2002) stieg die Armutsrate auf 57 %, die Arbeitslosenrate erreichte 23 %. (…) Eine Privatisierungswelle Anfang der 90er Jahre, bei der viele Staatsbetriebe zum Teil unter Wert verkauft wurden, führte dazu, dass weite Teile der argentinischen Wirtschaft vom Ausland abhängig wurden. Dies machte das Land anfällig für Spekulation und Kapitalflucht, ein Phänomen, das Ende 2001 maßgeblich zur Bankenkrise beitrug.“

Übrigens: Griechenland wird zur Zeit dazugezwungen, alle Staatsbetriebe zum Teil weit unter Wert zu privatisieren. Kommt das irgendjemandem jetzt bekannt vor?

Im Jahr 2004 wurden den Vertretungen der Gläubiger mehrmals Vorschläge unterbreitet, die einen Kapitalschnitt von 75%, später 65% vorsahen. Sie stießen zunächst besonders bei den ausländischen Gläubigern, die mehr als 55% des Schuldenvolumens reklamieren, allgemein auf Ablehnung und trübten auch Argentiniens Verhältnis mit dem IWF. Durch mehrere diplomatische Missionen gelang es jedoch Argentinien, die meisten Gläubigergruppen zu überzeugen, Widerstand gab es bis zum Ende noch von den deutschen und vor allem von den italienischen Gläubigern.

Die Währung Argentiniens wurde nach dem Staatsbankrott gegenüber dem Dollar extrem abgewertet. Aber: „Das Wachstum in Argentinien blieb seit Mitte des Jahres 2003 stetig hoch. Dieses Wirtschaftswachstum kann vor allem durch die positiven Erfolge der Abwertung begründet werden.“

Abwertung = Wirtschaftswachsum. Alles klar soweit? Puls und Atmung noch normal?

Wenn Griechenland den Staatsbankrott erklärte, würde der Kurs des Euro gegenüber der wieder eingeführten Drachme extrem ansteigen – wie damals der Kurs des Dollar gegenüber dem argentinischen Peso.

Ich darf mich noch einmal selbst zitieren: Nach einem Austritt Griechenlands oder dem Zerfall der Union würde das deutsche Kapital weit weniger Profite machen, da die Landeswährungen abgewertet würden. Es wäre genauso wie das Verhältnis zwischen Dollar und Euro. Ein schwacher Euro ist gut für den Export. Das heißt: Die deutschen Kapitalisten müssen alles dafür tun, dass Exporte des Ausland nach Deutschland nicht billiger werden.“

Das, was ich hier schreibe, kommt zwar so nicht in den Mainstream-Medien vor, die Kapitalisten wissen das aber. So doof sind die nicht, dass sie nicht kapiert hätten, wie das alles endet.

Wie denn? fragen die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser. Es ist irgendwie wie immer: Marx hatte Recht, je ein Kapitalist schlägt viele tot, je ein Zentralbankfinanzkapitalist schlägt auch viele kleine Finanzkapitalisten tot, es wird – wie in Argentinien – eine gigantische Vernichtung von Volksvermögen geben und gleichzeitig eine gigantische Umverteilung von unten nach oben. Kapitalismus, also known as „freie soziale Marktwirtschaft“ – wie wir sie alle lieben und verehren.TM

* Burks.de – Pflichtblatt für Kapitalismus-Kenner

Unter Schnellballsystemikern und Couponschneidern

Umverteilen?! Das scheint zur Zeit das Modewort zu sein bei den Ökonomie-Quacksalbern, Kapitalismus-Apologetikern und anderen Wirtschafts-Astrologen, von Spiegel online bis zur taz. Kein ernst zu nehmender Linker würde jemals auf die Idee kommen, etwas „umverteilen“ zu wollen. Karl Marx ist nicht Robin Hood und wollte es nie sein: Wer umverteilen will, kritisiert den Kapitalismus mit den kleinstmöglichen Mitteln. Die Idee der Umverteilung gebiert automatisch die Zwillinge „gerechter Lohn“ und „fairer Preis“ – Dinge, die etwa so logisch und rational sind wie ein weiblicher Papst oder vegetarisches Gulasch.

Die „Tagesschau“ verblödete die Rezipienten jüngst mit der Überschrift „Euro-Schulden-Krise.“ Der Euro kriselt aber gar nicht, und wer hat hier bei wem Schulden – und warum? Dazu müssen wir uns heute leider damit beschäftigen, wie Banken im Kapitalismus funktionieren. Das hört sich dröge an, und der Text ist auch länger als 140 Zeichen, aber die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser sollten nach der Lektüre mehr über das System wissen, das wir alle lieben und verehrenTM und das es auch noch kurz vor der Apokalpyse genau so wie heute geben wird.

Stellen wir uns ganz dumm und einen Staat vor, der einen Haufen Schulden hat. Die Gläubiger haben also diesem Staat etwas geliehen – Geld, für das der Staat Zinsen zahlen muss (sonst würde ihm ja niemand etwas leihen). Man nennt das Anleihen oder auch Obligationen – also eine Art Schuldschein, dessen Wert dem Gäubiger nach einer festgelegten Frist zurückgezahlt werden muss.

Stellen wir uns weiter vor, dieser Staat hätte mit dem geliehenen Geld nicht irgendetwas getan, damit er so viel mehr einnimmt, um seine Schulden – und die Zinsen – zurückzahlen zu können. Ganz im Gegenteil: Seine Einnahmen (etwa aus Steuern) hätten sich weiter verringert. Es ist also nichts da, um die Anleihen zurückzuzahlen, und es muss noch mehr her.

Wie löst man das Problem? Ganz einfach: Der Staat leiht sich noch mehr Geld, mit anderen Worten: Er gibt noch mehr Staatsanleihen aus. So kann man eine ganze Weile wirtschaften.

Irgendwann aber kommen Herr Charles Ponzi und die Mathematik ins Spiel. Diese Methode, an Geld und immer mehr Geld zu kommen, nennt man „Schneeballsystem“. Die Zahl derjenigen, die dem Staat Geld leihen können und auch deren Geldmenge ist nicht eine liegene Acht, sondern endlich. Deshalb bricht alles irgendwann zusammen, und die Letzten beißen die Hunde.

Bei den Euro-Staatsanleihen oder „Euro Bonds“ kommt noch etwas hinzu. Die Banken, die dem Staat Geld leihen, haben ein Privileg: Ihre „Schuldscheine“ oder die „Staats-Obligationen“ sind notenbankfähig, das heisst: Sie können diese Euro Bonds bei der Europäischen Zentralbank (EZB) als „Sicherheit“ hinterlegen. Sie kriegen also immer Geld, weil letztlich die EZB für die Schulder der Staaten den Kopf hinhalten muss. Das nennt man ein Repo-Geschäft; es funktioniert ungefähr so wie eine Vollkasko-Versicherung.

Jeder Mensch, den die Evolution mit einem Gehirn ausgestattet hat, fragt sich natürlich: Warum muss der Staat, wenn er sich Geld leihen will, den Umweg über die Banken gehen und kann sich nicht direkt Geld bei der Europäischen Zentralbank leihen – wenn es doch im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft? Ganz einfach: Das ist laut Artikel 123 („Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“) verboten. Die Deutschen wollten es so. Im Piraten-Wiki heisst es ganz richtig: „Art. 123(1) ist ein Ermächtigungsgesetz für die Banken. Es macht den Staat in einseitiger Weise vom Wohlwollen der Banken und der Anleihemärkte abhängig.“

Werner Heine, Ex-Redakteur der konkret, schreibt:
Das war der Gründungsfehler der Währungsunion: Weil die Deutschen Angst vor der haushaltspolitischen Unzuverlässigkeit der Partnerländer hatten, setzten sie durch, daß die gemeinsame Zentralbank keine direkte Staatsfinanzierung betreiben können sollte. Deshalb stellt die EZB das benötigte Kreditvolumen ausgewählten Banken in Europa zur Verfügung, die es dann an die einzelnen Länder weiterreicen, zu einem Zinssatz, der sich in einem Versteigerungsverfahren ergbt: Die kreditsuchenden Staaten bieten ihre Anleihepakete [ihre Schulden, B.S.] den Banken an und verlaufen zum günstigsten offerierten Zinssatz. (Werner Heine: „Paradise now? Über den Charakter der gegenwärtigen Krise“, in: in: Hermann L. Gremliza (Hg.): „No way out? 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen“, S. 67)

Das nennt man „Notenbankzinssatz“, ein zusätzliches Geldgeschenk an die Banken. Das Ergebnis: Deutschland verkauft seine Anleihen, auch bekannt als Staatsschulden, zu günstigen Zinsen, die Griechen werden sie gar nicht mehr los. Griechenland darf also keine Kettenbriefe mehr verschicken und am Schnellballsystem des Schuldenmachens nicht mehr teilnehmen.

Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser werden sich besorgt fragen: Können sich denn die nationalen Banken unbegrenzt lange Geld leihen und in beliebiger Höhe? Nein, es gibt so genannte „Eigenkapitalregeln“- also ein bestimmtes Verhältnis zwischem „eigenem“ und „ausgeliehenem“ Geld. Bis 2009 war es anders: Nach der damals gültigen „Richtlinie über Eigenkapitalanforderungen“ (auch „Basel II“ genannt) brauchten die Banken gar kein eigenes Geld, sondern durften dem Staat munter leihen, was sie wollten und dafür die Zinsen einstreichen.

Wohlstand

Das ist natürlich nicht etwas, was man als „seriös“ bezeichnen würde. Sogar die verbohrtesten bürgerlichen „Volks“wirtschaftler und Apologeten der so genannten „Freien Marktwirtschaft“ ahnten, dass man für den Fall der Fälle – den Staatsbankrott – etwas vorsorgen musste. Also schönheitsoperierte und „reformierte“ man ein bisschen hin und her und nannte das Ergebnis „Basel III„, im affirmativen Bürokraten-Nominalstil „Verbesserung der Risikodeckung“.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung formuliert in ihrer Studie „Anspruch und Wirklichkeit der Finanzmarktreform“ unfreiwillig komisch:
Neben der Forderung nach höheren Eigenkapitalanforderungen für systemrelevante Finanzinstitute vereinbarte die G20 in ihrer Pittsburgh-Erklärung, dass systemrelevante Finanzinstitute für den Fall einer Pleite Pläne zur geordneten Abwicklung vorhalten müssen.

„Systemrelevante“ Finanzinstitute: Besser hätte das Anshu Jain auch nicht sagen können. Um mal Klartext zu reden: Das sind diejenigen Banken, die am so genannten „Primary-Dealer-System“ teilnehmen. Diese Finanzunternehmen müssen dem Staat eine bestimmte Menge seiner Schulden – also known as Staatsanleihen abkaufen – und das nach einem vorher festgelegten Zinssatz. Nicht sehr „frei marktwirtschaftlich“, möchte man einwerfen. Zu recht, denn der Staat sorgt zwangsweise für eine Mindestnachfrage für den Kauf seiner Schulden. Da aber die Banken an den Zinsen satt verdienen und wegen der Vollkasko-Versicherung bei der EZB meckern sie nicht allzusehr.

Jetzt haben die europäischen Banken aber ein Problem: Woher sollen sie denn das geforderte eigene Geld – im Volkswirtschaftssprech „Eigenkapital“ – nehmen? Es handelt sich bei der „Eigenkapitallücke“ immerhin geschätzt um schlappe eine Billion Euro!

Nach Basel III schwand zudem das Motiv, immer mehr und immer öfter Staatsschulden aufzukaufen, da die Banken eine Gegenleistung in Form von Eigenkapital bringen müssten. Nach Adam Riese oder wem auch immer traf ein erhöhtes Angebot aufzukaufender Staatsschulden auf eine verminderte Nachfrage. Die Anleihekurse für Euro-Bonds sinken also.

Wir wären nicht im Kapitalismus, wenn jetzt noch zusätzlich ein bisschen mit heißer Luft gepokert und gewettet würde: Es gibt einen Unterschied zwischen Zins und Rendite bei Staatsanleihen. Die Zinsen, die der Staat den Banken zahlt – der so genannte Coupon– , sind festgelegt, bis die Schulden zurückgezahlt werden (am Sankt Nimmerleinstag). Die Rendite ist der aktuelle Wert der „Schuldscheine“ am Finanzmarkt. Ich könnte also darauf wetten, dass die Zinsen, die Staaten für das Geld zahlen müssen, die ihnen die Banken geliehen haben, steigen oder fallen, und damit Geld verdienen. Das ist ungefähr so sinnvoll wie eine Abgabe an die GEMA, wenn man „Ihr Kinderlein kommet“ auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt singt.

Wenn uns jemand in die Geschäftsbücher der Banken schauen ließe und wenn es in den Mainstream-Medien Deutschlands Journalisten gäbe, die von Ökonomie mehr verstünden als ein beliebiger Klippschüler, dann würde die Öffentlichkeit aufhorchen. Würden die Banken „die in ihrem Besitz befindlichen Papiere zu ihrem derzeitigen Marktwert bilanzieren müssen (wozu sie nur gezwungen sind, wenn sie vorzeitig verkaufen) wären sie alle pleite.“ (Stefan Frank: „Von Ponzi bis Pilatus“, in konkret 8/2012)

Jetzt bekommt das hübsch zweideutige Wort „systemrelevant“ einen ganz eigenen, typisch kapitalistischen Geschmack: Ginge der Staat pleite, wären auch die „systemrelevanten“ Banken bankrott. Wer hätte das gedacht!

Wohlstand

Wir nähern uns mit großen intellektuellen Schritten der aktuellen Krise der europäischen Staatsfinanzen (die aber nur eine Teilmenge der systemischen Überakkumulationskrise seit 2007 ist – doch dazu ein anderes Mal).

Deutschland ist bekanntlich der größte Exporteur in Europa. Was geschähe, wenn zum Beispiel Griechenland aus der Europäischen Union austräte und die Drachme wieder einführte? Die Zeit, die des Linksextremismus ganz unverdächtig und dem Marxschen Gedankengut abhold ist, schreibt im Januar 2012:
Laut dem gerade veröffentlichten Rüstungsexportbericht 2010 sind die Griechen nach den Portugiesen – auch ein Staat kurz vor der Pleite – die größten Abnehmer deutscher Kriegswaffen. Spanische und griechische Zeitungen verbreiteten gar das Gerücht, Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hätten Griechenlands Ex-Premier Giorgos Papandreou noch Ende Oktober am Rande eines Gipfeltreffens daran erinnert, bestehende Rüstungsaufträge zu erfüllen oder gar neue abzuschließen.

Nach einem Austritt Griechenlands oder dem Zerfall der Union würde das deutsche Kapital weit weniger Profite machen, da die Landeswährungen abgewertet würden. Es wäre genauso wie das Verhältnis zwischen Dollar und Euro. Ein schwacher Euro ist gut für den Export: „European companies are rubbing their hands at the sales boost they should get from the euro’s 10% decline against the greenback in recent weeks“.

Das heißt: Die deutschen Kapitalisten müssen alles dafür tun, dass Exporte des Ausland nach Deutschland nicht billiger werden. Ein vernünftig denkender deutscher Kapitalist muss die Europäische Union und den Euro auf jeden Preis erhalten wollen. Merkel handelt dementsprechend – sie verhält sich zum Kapital etwa wie Mappus zu Morgan Stanley. Es ist vergleichbar, nur ein paar Nummern größer. Ob das funktieren kann, kriegen wir später.

Das Wort zum Sonntag ist viel zu lang geworden. Vielleicht sollte ich morgen doch wieder Fotos posten, irgendetwas aus dem Dschungel und dem dortigen unerbittlichen Kampf ums Dasein und ums Überleben.

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