Reaktionäre Schichttorte

ständepyramide

Ist eine Gesellschaft „natürlich“? Natürlich nicht und niemals. Ein zentrales Anliegen der jeweils herrschenden Klassen und ihrer medialen Helfershelfer ist es jedoch, genau das Gegenteil zu behaupten und das Volk in diesem Sinn zu indoktrinieren. Das war schon seit dem Neolithikum so.

Dazu gehört, dass man bestimmte Begriffe im öffentlichen Diskurs tabuisiert oder – im Sinne der freiwilligen politischen Selbstkontrolle (TM) – nur solche benutzt, die die Realität verschleiern oder diese nach Gusto der Herrschenden verfälschen. (Wie das geht, wird hier unter dem Tag „Lautsprecher des Kapitals“ exemplarisch aufgeführt. Wer zusammenzuckt: Da das hier mein Blog ist, darf ich auch mit dem Holzhammer argumentieren.)

Ein Beispiel, das niemand abstreiten wird: Im Feudalismus (in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft meistens als „Lehnswesen“ tituliert) galt die so genannte „Ständepyramide“ (vgl. oben) als „natürlich“. Gott hatte es so gewollt, dass es Könige und Feudalherrn gab, und es war „natürlich“, dass die Bauern diese unterhielten. Wer das in Frage stellte, den ließen die Herrschenden umbringen.

Im 14. Jahrhundert sagte die Priester Johann Ball: „Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?“ Natürlich wurde er hingerichtet.

Marx hat das ideologische Prinzip des Feudalismus in einigen genialen Sätzen so formuliert:
Da die Geburt dem Menschen nur das individuelle Dasein gibt und ihn zunächst nur als natürliches Individuum setzt, die staatlichen Bestimmungen wie die gesetzgebende Gewalt etc. aber soziale Produkte, Geburten der Sozietät und nicht Zeugungen des natürlichen Individuums sind, so ist eben die unmittelbare Identität, das unvermittelte Zusammenfallen zwischen der Geburt des Individuums und dem Individuum als Individuation einer bestimmten sozialen Stellung, Funktion etc. das Frappante, das Wunder. Die Natur macht in diesem System unmittelbar Könige, sie macht unmittelbar Pairs etc., wie sie Augen und Nasen macht. (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1 S. 310)

Man könnte das leicht auf die Gegenwart übertragen: Kapitalisten (affirmativ: „Unternehmer“) und Arbeiter und der Markt sind „natürlich“, von der Evolution (die heute oft „Gott“ ersetzt) so gewollt. Die Natur macht in diesem System unmittelbar die Märkte, Unternehmer und Arbeitnehmer, sie macht den Markt etc. unmittelbar, wie sie Augen und Nasen macht. Eigentlich gehört die „Marktwirtschaft“ in den Biologie-Unterricht. Wer das System in Frage gestellt, wird (medial) geächtet.

ständepyramide

Der Kampf um die Begriffe und was sie bedeuten und wer sie wie benutzen darf, ist noch viel subtiler. Von den christlichen Missionaren wissen wir, dass ihr ersten Ziel, die jeweilige Gesellschaft zu zerstören und ihre Version der Religion aufzupfropfen, immer war, den „Opfern „zu verbieten, diejenigen Wörter zu benutzen, die deren oft kompliziertes System der Verwandtschaft beschrieb. Die Miskito in Nicaragua zum Beispiel konnten nur mit diesen Wörtern ihre Gesellschaft beschreiben – also erklären. Die Missionare der Moravier (die sitzen auch hier in Rixdorf und tun ganz unschuldig) zwangen die Miskito, in Nicaragua nur noch „Bruder“ und „Schwester“ im christlichen Sinn zu sagen – zu allen. Die Gesellschaft der Miskito brach schon nach wenigen Jahrzehnten in sich zusammen. (Übrigens einer der Gründe dafür, warum die Miskito gegen die Sandinistas waren – die Revolutionäre waren katholisch oder taten so. Ich war Augenzeuge und meine damalige Reisebegleiterin war Ethnologin.)

Das wäre so, als wenn man einem „Volkswirtschaftler“ verböte, das Wort „Markt“ auszusprechen – er wüsste vermutlich gar nicht mehr, was er sagen sollte.

Im Zuge der allgegenwärtigen Reaktion werden auch in den Universitäten nur noch Begriffe gelehrt und erwähnt, die den Kapitalismus als Ende der Geschichte suggerieren. Das gilt für alle geisteswissenschaftlichen Fächer. Man sagt auch nicht mehr „Feudalismus“, sondern ganz unpolitisch „Mittelalter“ oder eben „Lehnswesen“. „Kapitalismus“ taucht auch in den Medien nicht als Begriff so auf, dass eine Alternative denkbar wäre.

Es erstaunt mich, wie schnell das geht und wie alle mitmachen, ohne dass es jemand befiehlt. Ein besonders schönes Beispiel ist die „Schicht“ – ein Begriff, der das Oben und das Unten in einer Gesellschaft beschreiben will, als sei das „natürlich“. Mit „Schicht“ kann man auch die feudale Ständepyramide darstellen – der Begriff sagt eigentlich gar nichts aus und ist entpolitisiert.

Der von Marxisten benutzte Terminus „Klasse“ will hingegen beschreiben, wie die Menschen zu den Produktionsmitteln stehen – vereinfacht: Haben sie welche oder nicht? Die traditionelle „Kleinbourgeoisie“ sind zum Beispiel Handwerker, die ihre eigene Mittel, um zu produzieren, besitzen, aber keine Arbeiter im großen Maßstab beschäftigen. Dazwischen gibt es unzählige Schattierungen. Es geht um Macht, um die Stücke des Kuchens und des Reichtums, wer wieviel bekommt und nicht und warum. Wer „Klasse“ im Marxschen Sinn sagt, weiß, dass es auch anders ginge. Deswegen gibt es im Grundgesetz versehentlich „Vergesellschaftung“ und „Gemeineigentum“ – werden einem „Volkswirtschaftler“ diese Wörter vorgeworfen, wird der zusammenzucken wie ein Vampir vor einer Knoblauchzehe.

Man könnte das Thema ja wissenschaftlich und gelassen sehen und einfach fragen, welcher Begriff – „Schicht“ oder „Klasse“ die Realität am besten beschreibt. Aber so funktioniert es nicht. „Klasse“ ist „verboten“, niemand, keine Zeitung und kein anderes Mainstream-Medium in Deutschland, wird das Wort ernsthaft benutzen – wegen Schwefelgeruchs.

Es ist wie im „Mittelalter“. Die Welt, wie wir sie kennen, ist eben „natürlich“.

Aber so viel wollte ich gar nicht schreiben, sonst kommen mir die geneigten Leserinnen und wohlwollenden Leser wieder mit tldnr… Ich will nur anregen, selbst weiter zu denken.

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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)




Die Tendenz ist bekannt

Spiegel online: „Die Tendenz ist bekannt, das Ausmaß erschreckend: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer schneller auseinander. Vom kommenden Jahr an wird das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr als die Hälfte des weltweiten Wohlstands besitzen. ‚Die Kluft zwischen den Reichsten und dem Rest wird schnell tiefer‘, teilte die britische Organisation Oxfam am Montag mit.“

Seit wann ist diese Tendenz bekannt? Ich weiß es: seit 1848. Trotzdem macht die freie Marktwirtschaft(TM) natürlich alle Menschen reich und glücklich. Wer würde das bestreiten?




Liberal bereichert

Die Süddeutsche über den Dienstleistungsvertrag Tisa:

In den vergangenen Jahren wurden überall auf dem Erdball klassische staatliche Aufgaben wie Bildung, Gesundheit oder Wasserversorgung privatisiert, wobei es öfter Proteste gab – etwa weil die Leistungen teurer, aber nicht besser wurden. Nun soll es bei Tisa Vorschriften geben, die eine Wiederverstaatlichung privatisierter Betriebe verbietet, behaupten Kritiker. Dafür gibt es bisher keinen Beleg, allerdings sickert durch, dass eine Sperrklausel entstehen könnte: Hat ein Land zugestimmt, in einem Bereich wie Gesundheit Konkurrenz zuzulassen, sollen private Anbieter für immer auf dem Markt bleiben dürfen. Das dürfte Kritiker erregen, die Liberalisierungen als Bereicherungen von Konzernen sehen.

Man sagt es klar und angenehm, was erstens, zweitens, drittens im Kapitalismus käm.

Wenn man den Nominalstil ins Deutsche übersetzt – „Liberalisierungen als Bereicherungen“ -, wird auch ganz klar, worauf es hinausläuft: liberal bereichert. Oder, wie die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Volkswirtschaftler sagen: „Die Märkte“ werden es schon richten.




Nachhaltiger Wohlstand

Der Wanderpokal „Lautsprecher des Kapitals“ geht heute an Henrik Müller, Professor für „wirtschaftspolitischen Journalismus“ an der Technischen Universität Dortmund, für die Sätze:
Unabhängige Medien gehören zur Infrastruktur der Demokratie und der Marktwirtschaft. (…) die Freiheit des Wortes und des Bildes – und ohne die gibt es auch weder ökonomische Freiheit noch nachhaltigen Wohlstand.

Wie moralisch verkommen und verdummt muss man sein, die Terroranschläge in Frankreich zu missbrauchen, nur um Propaganda für den Kapitalismus und die so genannte „Marktwirtschaft“ zu machen? „Der Markt“ garantiert also „nachhaltigen Wohlstand“? Geht’s noch? Man muss sich doch nur umsehen, um das Gegenteil beweisen zu können.

Der Kapitalismus macht alle reich und glücklich. Aha. Und so jemand lehrt „wirtschaftspolitischen Journalismus“. Kein Wunder, dass die Situation des Wirtschaftsjournalismus in Deutschland katastrophal ist.

Merke: „Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mit der Investitionshilfe-Entscheidung vom 20. Juli 1954 festgelegt, dass das Grundgesetz weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde ’soziale Marktwirtschaft‘ garantiert. Der Verfassungsgeber habe sich nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden. Daher spricht das Bundesverfassungsgericht von der ‚wirtschaftspolitischen Neutralität‘ des Grundgesetzes.“




Täglich denke ich an Kuba

Dr. Seltsam in der Jungen Welt (via Ossiblock): „Täglich denke ich an Kuba, wo die Häuser dem Staat gehören und man ein Haus nach 40 Jahren als Mieter übereignet bekommt, weil man genug Interesse an der Erhaltung gezeigt hat.“




Wachstum(TM) und die Genies der bürgerlichen Dummheit


Der Glaube an ein ewig fortdauerndes Wirtschaftswachstum gehört zu den wichtigsten Dogmen des kapitalistischen Glaubensbekenntnisses. (Das Schisma von 2013) Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern und Publizisten haben dem Publikum eingetrichtern, dass der Kapitalismus all seine ungeheuren Widersprüche, all das massen haft produzierte Elend durch die beständige Expansion der Wirtschaft überwinden werden.

Aus all dem werde man einfach „herauswachsen“. Das Wirtschaftswachstum bildete die materielle Grudnlage des fernen Glücksversprechens des Kapitalismus: der „das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Menschen (Jeremy Bentham) herbeiführen werde.

Aus: Thomas Konicz: Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst – Wie Deutschlands Medien und Ökonomen mit der Tatsache der säkularen Stagnation des spätkapitalistischen Weltsystems umgehen, in : „Aufbruch ins Ungewisse (Telepolis) – Auf der Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise, Heise 2014.

Man sollte sich darüber wundern, dass solche Bücher in Deutschland in Computer-Fachverlagen erscheinen. Aber dann wundert es einen doch nicht mehr – es sagt nur viel über den öffentlichen Diskurs hierzulande aus.

Marx schrieb übrigens über Bentham gewohnt süffisant: „Wenn ich die Courage meines Freundes H. Heine hätte, würde ich Herrn Jeremias ein Genie in der bürgerlichen Dummheit nennen.“ Mir gefällt auch Marxens Verdikt „breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie“. Man muss sich nur bei den Volkswirtschaftlern in den Medien umsehen, dann weiß man, was er meint.




Löhne runter!

„Das Arbeitsvolumen blieb seit 2000 gleich, wurde durch Leih-und Teilzeitarbeit nur auf mehr Personen verteilt. So haben wir eine Abwärtsspirale der Löhne in Gang gesetzt – mit der Folge, dass immer mehr Löhne subventioniert werden müssen.“ Hier handele es sich um eine Marktverzerrung sondergleichen. „Das stinkt nicht nur zum Himmel , sondern konkurriert auch die Arbeitsmärkte unserer Nachbarn in Europa in Grund und Boden.“ (Sozialrichter Jürgen Borchert im Tagesspiegel)

Do not forget: It’s as feature, not a bug.




Zugleich konsistent und elegant

Der Spiegel (3/1969):
Die Formel, die der Amerikaner Robert L. Heilbroner unlängst angeboten hat, ist vielleicht etwas zu einfach, aber den Weg, auf dem gesucht werden sollte, scheint sie mir zu bezeichnen: „Marxsche Einsichten müßten mit neoklassischen* Techniken verbunden werden, um eine ökonomische Theorie zu erzeugen, die zugleich konsistent und elegant als Modell wie als Sozialtheorie bedeutsam ist.“

Der Irrtum, wie Heilbroner es nennt, oder besser die Einseitigkeit der Neoklassik besteht darin, „daß sie nicht sieht, daß die soziale Wirklichkeit, die sie als ein System von Gleichungen wiederzugeben sucht, durch funktionale Beziehungen nicht adäquat beschrieben werden kann, sondern zugleich ein System von Privilegien darstellt“. Diese Einseitigkeit könnte durch Aufnahme der Marxschen Sehweise korrigiert werden, während umgekehrt die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie durch die technischen Vorzüge der Neoklassik bereichert werden könnte.

* Nach der sogenannten neoklassischen Schule der Nationalökonomie, die sich im Widerspruch zur Lehre van Marx entwickelte, Ist alles Wirtschaftsgeschehen rein mathematisch-technischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen.

Der letzte Satz ist natürlich grober Unfug. Aber das waren noch Zeiten, als die Mainstream-Medien so etwas schrieben.




Die herrschenden Dogmen und Mythen, die Legenden und Ammenmärchen, den Aberglauben, die frechen Lügen

Manchmal ärgere ich mich, dass ich von bestimmten Leuten nicht schon eher erfahren habe. Heute bin ich auf einen geradezu brillianten Artikel von Prof. Dr. Michael R. Kräetke (University of Lancaster, Professor and Chair of Political Economy, früher Professor für Politische Ökonomie in Amsterdam) gestoßen: „Marx als Wirtschaftsjournalist“ (pdf).

Natürlich wäre jemand wie Kräetke in Deutschland nie Professor geworden. Die Wissenschaft „Politische Ökonomie“ gibt es hierzulande gar nicht, sondern nur das quasi-esoterische Fach „Volkswirtschaftslehre“. Um sich ernsthaft mit politischer Ökonomie zu beschäftigen, muss man – wie schon zu Marx‘ Zeiten – wieder ins Ausland gehen. In der schweizer WOZ schrieb Kräetke:
In China gibt es heute wieder eine lebendige Marx- und Marxismus-Diskussion, die sich am „westlichen“ Marxismus und an der Mega orientiert. Die akademischen MarxistInnen, die nach 1968 in Westeuropa und in den USA auf Lehrstühle kamen, sind heute fast alle pensioniert oder haben resigniert. Nach 1990 war es unfein und der Karriere schädlich, MarxistIn (gewesen) zu sein. Doch für akademische MarxistInnen und solche, die es werden wollen, bietet erst die Mega eine zuverlässige Grundlage für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Marx und Engels. Marx vor allem hat – wenn auch in unfertiger Form, als Entwurf und Fragment mehr denn als «Werk» – all das zu bieten, wonach diejenigen rufen, die mit dem heutigen Zustand der Sozialwissenschaften zu Recht unzufrieden sind: die Verbindung von Theorie und Geschichte, das Überschreiten der künstlichen und unproduktiven Disziplingrenzen (auch «Interdisziplinarität» genannt), Sinn für Allgemeines wie für Besonderes, rücksichtlose Kritik alles Bestehenden, einen offenen Blick und das nötige analytische Instrumentarium, um eine Welt zu begreifen, die sich in ständiger Veränderung befindet.

Das wäre ja ein Grund, Mandarin zu lernen, aber das war mir denn doch zu schwierig, obwohl ich es versucht habe. Ich habe aber nicht resigniert.

Kräetke schreibt:
Die Marxschen Analysen und Kritiken der offiziellen Haushaltspläne der britischen Regierungen, seine Erläuterungen der diversen Finanzreformpläne und ihrer absehbaren Folgen ernteten wiederholt höchstes Lob und Anerkennung – auch von erklärten Gegnern seiner Ansichten. Die Redaktion der NYT schloss sich diesem Lob wiederholt an. Marx’ Budgetkritiken wurden offensichtlich ernst genommen, zitiert und nachgedruckt. (…)

Im Wirtschaftsteil der Tageszeitungen, in den führenden Wirtschaftsjournalen wie der Financial Times oder dem Economist findet heute kein Kampf um die Hegemonie mehr statt. Der ist seit langem entschieden. Gerade deshalb kann man in diesen Blättern auch gelegentlich kritische Randbemerkungen zum Sinn und Unsinn der herrschenden Wirtschafts- und Finanzpolitik lesen. Solange man unter sich bleibt, das generelle Einverständnis mit der besten aller ökonomischen Welten nicht gestört wird, darf man sich schon erlauben, sich mit den ökonomischen Fakten zu beschäftigen (…)

Stellen wir uns vor, ein „neuer Marx“, nach dem im bürgerlichen Feuilleton mit schöner Regelmäßigkeit gerufen wird, hätte die einflussreiche Stellung des Wirtschaftsredakteurs einer großen, überregionalen Tageszeitung inne, was würde er, was könnte er tun?

Wäre er ein Mann (oder eine Frau) vom Charakter und Temperament des alten Marx, er (oder sie) würde nicht zögern, die herrschenden Dogmen und Mythen anzugreifen, die Legenden und Ammenmärchen, den Aberglauben, die frechen Lügen, die zusammen unseren heutigen Diskurs über die kapitalistische Weltwirtschaft, über die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik bestimmen, und die leider auch auf der Linken, einschließlich der sozial bewegten, globalisierungs“kritischen“ Linken, geglaubt und mit ingrimmigem Tiefsinn nachgeplappert werden. (…)

Lange würde ihm oder ihr das nicht gelingen, aber die moralische Wirkung wäre schon ungeheuer. Zumindest heute, wo der Glaube an die neoliberalen Mantras bisweilen ins Wanken gerät. Nicht bei den so genannten „Eliten“, wohl aber beim gemeinen Volk. Am Ende vielleicht sogar bei den globalisierungsgläubigen Linken.




Die breimäuligen Faselhänse der Vulgärökonomie

marx

Vermutlich würde Marx, wenn er noch lebte, sich vor Vergnügen kringeln, wenn man ihm sagte, dass es jetzt eine eigene Partei Sekte der „Volkswirtschaftler“ – auch bekannt als Vulgärökonomen – gibt, die sich „Alternative für Deutschland“ nennt, deren höheres Wesen der „freie Markt“ ist und deren niederes Wesen der Geldfetisch.

„Volkswirtschaftslehre“ ist eben keine Wissenschaft, sondern primitive Apologetik des Kapitalismus. (It’s a feature.) Reaktionäre Stinkstiefel sind sie sowieso.

Die breimäuligen Faselhänse der deutschen Vulgärökonomie schelten Stil und Darstellung meiner Schrift. Niemand kann die literarischen Mängel des „Kapital“ strenger beurteilen als ich selbst. Dennoch will ich, zu Nutz und Freud dieser Herren und ihres Publikums, hier ein englisches und ein russisches Urteil zitieren. Die meinen Ansichten durchaus feindliche „Saturday Review“ sagte in ihrer Anzeige der ersten deutschen Ausgabe: Die Darstellung „verleiht auch den trockensten ökonomischen Fragen einen eignen Reiz (charm)“. Die „St.-Petersburger Zeitung“ bemerkt in ihrer Nummer vom 20. April 1872 u.a.: „Die Darstellung mit Ausnahme weniger zu spezieller Teile zeichnet sich aus durch Allgemeinverständlichkeit, Klarheit und, trotz der wissenschaftlichen Höhe des Gegenstands, ungewöhnliche Lebendigkeit. In dieser Hinsicht gleicht der Verfasser … auch nicht von fern der Mehrzahl deutscher Gelehrten, die … ihre Bücher in so verfinsterter und trockner Sprache schreiben, daß gewöhnlichen Sterblichen der Kopf davon kracht.“ Den Lesern der zeitläufigen deutsch-national-liberalen Professoralliteratur kracht jedoch etwas ganz andres als der Kopf. (Karl Marx: Das Kapital, Vorwort zur 2. Auflage)




Vulgärökonomie

vulgärökonmie

Karl Marx: Das Kapital. Marx erwähnt hier lobend William Petty, den „Vater“ der englischen Nationalökonomie.

Wolfgang Münchau in Spiegel online: „Und die Ökonomen sind so hilflos wie noch nie. Schlimmer noch. Jedes Jahr wiederholen sie die alten Fehler. Der Lerneffekt ist gleich null. (…) Die Modelle, welche den Prognosen zugrunde liegen, funktionieren nicht mehr. Aber die Ökonomen wollen das nicht wahrhaben.“

Wo er recht hat, hat er recht. Der Appell, die „Volkswirte“ zu feuern, wird wirkungslos verhallen. „Volkswirtschaftslehre“ ist eine quasi-religiöse Esoterik, das herrschende kapitalistische System ideologisch zu legitimieren.

Ich schrieb hier am 12.02.2014: „‚Philosophie‘ wäre die Frage zu stellen, ob es nachvollziehbare Gesetze der Ökonomie gebe. ‚Metaphysik‘ wäre zu behaupten, es gebe keine und ‚der Markt‘ sei ein höheres Wesen mit künstlicher Intelligenz. ‚Theologie‘ ist Volkswirtschaftslehre. ‚Wissenschaft‘ wäre die Methode von Marx und der klassischen bürgerlichen Ökonomie, die immerhin versucht hat, die Gesetze wirtschaftlichen Handelns und deren Voraussetzungen zu verstehen.“

„Volkswirtschaftler“ gab es schon zu Marx‘ und Ricardos Zeiten. Marx nannte die schlicht „Vulgärökonomen„.




Nationale Borniertheit, mein einziger Beitrag zum Thema Fußball und die Gedanken der herrschenden Klasse

„Wenn die nationale Borniertheit überall widerlich ist, so wird sie namentlich in Deutschland ekelhaft… „(Karl Marx/Fried­rich En­gels, Die deut­sche Ideo­lo­gie, S. 458)

Lesenswert auch folgendes Zitat:
Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht. Die Klasse, die die Mittel zur materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zur geistigen Produktion, so daß ihr damit zugleich im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen sind. Die herrschenden Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefaßten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.

Damit ist auch alles über die Mainstream-Medien gesagt, insbesondere über deren jeweiligen „Wirtschaftsteil“.




Regulierter Kapitalismus

Erstaunliche Sätze von Harald Schumann im Tagesspiegel:
Angela Merkels Krisenpolitik nutzt dem Kapital – und die Rettung des Euro bezahlen am Ende die Armen.

Ach?! Nun könnte man irrig vermuten, jetzt folgten Ideen, wie der Kapitalismus zu überwinden sei. Aber nein! Wo kämen wir denn da hin!

Karl Marx hat es geschrieben, John Maynard Keynes hat davor gewarnt und die einfachen Leute haben es ohnehin schon immer gewusst: Im unregulierten Kapitalismus wachsen die Vermögen jener, die das Kapital besitzen, weit schneller als bei jenen, deren Arbeit die Kapitalerträge erzeugt.

Glatt und unverschämt gelogen. Karl Marx hat nie von „reguliertem“ oder „unreguliertem“ Kapitalismus geschrieben, ganz im Gegenteil: Er hat behauptet, dass sich der Kapitalismus nicht „reformieren“ lasse, sondern dass er abzuschaffen sei, weil seine immanenten Gesetze nichts anderes ermöglichten.

Ein „regulierter Kapitalismus“ macht genau das, was auch ein unregulierter Kapitalismus“ macht: Das Geld den Reichen und der herrschenden Klasse zuschieben auf Kosten des Proletariats und der Armen. Wer etwas anderes behauptet, hat Marx nie gelesen oder gar verstanden.




Kritik der Politischen Ökonomie, revisited

das kapital

Unter dem Tag „Marx reloaded hatte ich vor einiger Zeit angekündigt, meinen eigenen kleinen Online-Kursus über „Das Kapital“ anzubieten. Dafür gibt es drei Gründe:

1) Das Marxsche Hauptwerk umfasst fast 3000 Buchseiten; man kann niemandem, der nicht Wirtschaftswissenschaft studiert, zumuten, das alles zu lesen. Wer aber keine Ahnung vom Thema hat, sollte das Maul halten.

2) „Das Kapital“ ist zwar in sich weitgehend logisch aufgebaut, aber nicht wirklich pädagogisch sinnvoll. Es ähnelt mehr dem fucking manual einer Software etwa wie Blender: Wenn man alles läse, wüsste man alles, aber schon ein Versuch scheitert im Ansatz, weil man ohne zusätzliche Hilfsmittel dem Wahnsinn verfällt. (Ich selbst habe allein „Das Kapital“ drei Semester lang in den 70-er Jahren bei Wolfgang Fritz Haug an der FU Berlin studiert, dann war ich zwei Semester Tutor bei Haug und habe selbst Kapital-Seminare geleitet, und parallel noch private „Kapital“-Kurse gegeben – und ich muss bei bestimmten Themen immer noch nachschauen.)

3) Marx hat zudem die gesamte Sekundärliteratur von Aristoteles Werttheorie bis der Vulgärokonomie seiner Zeitgenossen gelesen und auch in „Das Kapital“ eingebaut, was die Lektüre zwar lustig macht, weil Marx‘ einen grimmigen schwarzen Humor entwickelt und einen beißenden Zynismus und seine Polemiken über die, die man heute „Volkswirtschaftler“ nennen würde, oft zum Totlachen und sehr aktuell sind. Zudem gibt es noch zusätzlich drei Bücher von Marx nur über die Theorie des Mehrwerts, also ungefähr die ersten 100 Seiten seines „Kapitals“ (vgl. Bild unten, Inhaltsangaben).

Wer also nur genau wissen will, was genau Marxsche „Politische Ökonomie“ meint, muss a) wissen, dass dieselbe auf der klassischen bürgerlichen Wirtschaftswissenschaft aufbaut, also nicht wirklich eine „Erfindung“ ist und b) sich nur um die innere logik der Marxschen Argumentation kümmern; die Sekundärliteratur kann außen vor bleiben.

Reminder: Für mich ist Marx kein religiöser Guru und das „Kapital“ keine Bibel, sondern ein Handbuch, das auch die gegenwärtige Ökonomie hinreichend erklären will, soll und muss. Tut es das nicht, kommt es auf den Müll. (Es tut es aber.)

Bisher hatten wir
1) „Ware, Wert, Preis und Profit, revisited“ (19.05.2012); Warum man statt „die etablierte ökonomische, politische und soziale Struktur“ auch den Marxschen Begriff „Produktionsverhältnsise“ und für „Stand der Technologie“ „Produktivkräfte“ sagen kann und warum man Marx studieren sollte,

2) „Ludwig lesen oder: Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?“ 28.05.2012): Über die Marxschen Thesen über Feuerbach und was die Religionssoziologie zum Thema „Warenfetisch“ beitragen kann,

3) „Wachstum oder: Notgemeinschaft alleinerziehender Tretbootfahrer“ (02.07.2012): Über den ideologischen und quasi-religiösen Begiff „Wachstum“,

4) „Der grosse Markteingriff, Newton und das Abstrakte“ (28.07.2012): Über „warum die Pharaonen keine Dampfmaschinen hatten und die alten Römer keine Taschenlampenbatterien“,

4) „Unter Schnellballsystemikern und Couponschneidern“ (03.08.2012): Über die sogenannte „Euro-Krise“ und Staatsanleihen aus marxistischer Sicht,

5) „Wertpapiere, oder: Banken im Kapitalismus, revisited“ (08.08.2012): Über „ein Zentralbankfinanzkapitalist schlägt auch viele kleine Finanzkapitalisten tot“,

6) „Nackte Frauen, Schweine und die Ware an sich“ (27.12.2012): Über: Geht das überhaupt, die Wirtschaft wissenschaftlich zu analysieren? und den Begriff des Gebrauchswerts,

7) „Moneta, Aes Signatum und die Ware an sich“ (29.12.2012): Über „das Geheimnisvolle der Warenform“ und wieder über den Warenfetisch in „Das Kapital“,

8) „Von grôzer arebeit und ihrer fantastischen Gestalt“ (02.01.2013): Über das „Nibelungenlied“, das „Kapital“ und den Begriff der „Arbeit“,

9) „Unter Zockern“ (10.01.2013): Über den an sich wertlosen Tauschwert, der „nur dazu dient, ein Verhältnis gesellschaftlicher Arbeit auszudrücken“,

10) „Fakten zum variablen Kapital“ (28.03.2013): Über variables Kapital, über die technische und wertzusammensetzung des Kapitals,

11) „Ein Zehntel Ferkel, in Muscheln ausgedrückt“ (27.04.2014): Über die einfache und die entfaltete Wertform.

Langer Rede kurzer Sinn: Wir sind ungefähr auf Seite 100 des ersten Bandes des „Kapitals“, hatten also nur die Themen „Ware“ und „Geld“ und müssten jetzt zum Thema „Die Verwandlung von Geld in Kapital“ kommen (vgl. Bild oben, Skizze der Inhaltsangabe). Demnächst mehr in diesem Theater.

das kapital




Geldschöpfung der Banken als Vermögensrechtsverletzung oder: Der automatische Fetisch der Vulgärökonomen

„Das Geldschöpfungs-Privileg der Banken hat keine Grundlage im geltenden Recht. Eine prinzipien- und verfassungsorientierte Gesetzgebung wird es daher klarstellend aufheben.“ (Michael Köhler (emeritierter Professor für Strafrecht): „Humes Dilemma – oder: Was ist Geld? „Geldschöpfung“ der Banken als Vermogensrechtsverletzung“, in „Festschrift für Wolfgang Frisch zum 70. Geburtstag“, Verlag Duncker & Humblot, zitiert nach EF Magazin. [Wikipedia: „Politikwissenschaftler sehen in der Zeitschrift weltanschauliche und personelle Überschneidungen mit der Neuen Rechten.“])

Man kann Geld zwar drucken, aber nicht „schöpfen“. Ich höre schon wieder die Gesellianer trapsen.

Das Kapital erscheint als mysteriöse und selbstschöpferische Quelle des Zinses, seiner eignen Vermehrung. Das Ding (Geld, Ware, Wert) ist nun als bloßes Ding schon Kapital, und das Kapital erscheint als bloßes Ding; das Resultat des gesamten Reproduktionsprozesses erscheint als eine, einem Ding von selbst zukommende Eigenschaft; es hängt ab von dem Besitzer des Geldes, d.h. der Ware in ihrer stets austauschbaren Form, ob er es als Geld verausgaben oder als Kapital vermieten will. Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltlose Form. Wie bei der Arbeitskraft wird der Gebrauchswert des Geldes hier der, Wert zu schaffen, größren Wert, als der in ihm selbst enthalten ist. Das Geld als solches ist bereits potentiell sich verwertender Wert und wird als solcher verliehen, was die Form des Verkaufens für diese eigentümliche Ware ist.

Es wird ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen, wie die eines Birnbaums, Birnen zu tragen.

Und als solches zinstragendes Ding verkauft der Geldverleiher sein Geld. Damit nicht genug. Das wirklich fungierende Kapital, wie gesehn, stellt sich selbst so dar, daß es den Zins nicht als fungierendes Kapital, sondern als Kapital an sich, als Geldkapital abwirft.

Es verdreht sich auch dies: Während der Zins nur ein Teil des Profits ist, d.h. des Mehrwerts, den der fungierende Kapitalist dem Arbeiter auspreßt, erscheint jetzt umgekehrt der Zins als die eigentliche Frucht des Kapitals, als das Ursprüngliche, und der Profit, nun in die Form des Unternehmergewinns verwandelt, als bloßes im Reproduktionsprozeß hinzukommendes Accessorium und Zutat. Hier ist die Fetischgestalt des Kapitals und die Vorstellung vom Kapitalfetisch fertig. (…)

Für die Vulgärökonomie, die das Kapital als selbständige Quelle des Werts, der Wertschöpfung, darstellen will, ist natürlich diese Form ein gefundnes Fressen, eine Form, worin die Quelle des Profits nicht mehr erkenntlich und worin das Resultat des kapitalistischen Produktionsprozesses- getrennt vom Prozeß selbst – ein selbständiges Dasein erhält. (Karl Marx: Das Kapital, Bd. 35, MEW 25)




Hog Rectum und Substandard Food im Kapitalismus

nahrungsmittelproduktion

Wann ich zum letzten Mal Tintenfischringe gegessen habe, weiß ich nicht mehr. Sie waren wohl nicht überragend im Geschmack, sonst hätte ich wohl öfter danach verlangt. Vielleicht lag es ja daran, dass die Calamari in Wahrheit „hog rectum“ waren, also in Scheiben geschnittene Schweinedärme. Die schmecken vermutlich ähnlich, sonst würden die Tintentischringe nicht gefälscht und eben durch diese Produkte des Schweins ersetzt.

Skandal, Skandal? Muss man jetzt mahnen und warnen: Was du isst, ist nicht, was du meinst zu essen? Die Mafia ist eh schon da, und Interpol ermittelt gegen „fake and substandard food“.

Spiegel online „erklärt“ uns, warum es das gibt: „Ein Grund für die Zunahme der Betrugsfälle ist dem Bericht zufolge die aktuelle Wirtschaftskrise.“ Ach?! Welche Krise? Die so genannte „Finanzkrise“? Der Zusammenbruch des US-amerikanischen Immobilienmarkts, die Spekulationen des Finanzkapitals mit real gar nicht existierenden Werten oder der Würgegriff der europäischen Großbanken und Angela Merkel ihrer Helfershelfer um Südwest- und Südosteuropa führen jetzt auch dazu, dass Tintenfischringe gefälscht werden?

Die deutschen Medien und die Ökonomie und wie man sie dem Volk erkläre – das ist ein einziges großes und jämmerliches Trauerspiel. Dazu müssen wir jetzt ein wenig ausholen, was mir verziehen werden möge…

Eine der dümmlichsten Sprechblasen, die man von Journalisten hört, die meinen, sie könnten über ökonomische Fragen schreiben, weil sie wissen, wie man „Volkswirtschaft“ buchstabiert, ist (spätestens hier haben sich die Anhänger der Glaubensgemeinschaft Freier Markt(TM) schon ausgeklinkt, weil derartige Schachtelsätze sie intellektuell überfordern) die durch keinerlei Empirie belegte kühne These – in Wahrheit ein quasi-theologischer und suggestiver Satz -, falls die Löhne stiegen, schade das „der Wirtschaft“. Oder, wie das niederländische Het Financieele Dagblad es formuliert: Höhere Löhne schwächten die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Firmen. Das Finanz-Tageblatt ist natürlich ein Lobbyisten- Sprachrohr („die Zeitung der niederländischen Geschäftsleute und Unternehmer“), vergleichbar mit der „Apotheken-Umschau“ und hat mit unabhängigem Journalismus genau so wenig zu tun wie etwa das deutsche „Handelsblatt“.

Wie selbst der dümmste „Volkswirt“ weiß, machen Unternehmen manchmal auch Gewinne. Man kann darüber mit den wissenschaftlichen Begriffen der politischen Ökonomie diskutieren, und „Gewinn“ und „Profit“ streng unterscheiden und sich über eine Theorie des Werts streiten, ohne die ernst zu nehmende Wirtschaftswissenschaft nicht auskommt (wohl aber die so genannte „Volks“wirtschaftslehre, die den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, also die Welt objektiv und nicht interessegeleitet zu erkennen, ehrlicherweise aber auch gar nicht erhebt). Man kann also einfach fragen: Falls die Löhne steigen, sinkt der Gewinn. So weit d’accord?

Nein, sind wir nicht, weil der Profit von vielen anderen Faktoren abhängt. Aber wir tun mal so, als ob diese einfache Sicht der Dinge wahr wäre. Was ist also so schlimm daran, wenn die Profite der Kapitalisten sänken? Müssen sich alle Bürgerinnen und Bürger in Säcke hüllen, Asche auf ihre Häupter streuen und zum heiligen Ludwig Erhard wehklagen und ihn um Erlösung „der Märkte“ bitten? Um das beurteilen zu können, müsste man ja wissen, wie hoch die Gewinne sind. Sind wir uns wenigstens hier einig?

Wie kann man also als ein Journalist, der sich selbst ernst nimmt, den Automatismus annehmen, dass steigende Löhne „die Wirtschaft“ irgendwie „schwächten“? Kann man nicht, aber machen sie alle, da viele Journalisten sich als Lautsprecher des Kapitals verstehen oder sich auf einen nicht ausgesprochenen common sense berufen, bestimmte Dinge, die die herrschende Klasse aufregen würde, gar nicht erst anzusprechen. Oder kennt eine(r) der wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser einen deutschen Journalisten in Lohn und Brot, der die „Systemfrage“ stellt, also den Kapitalismus nicht als das teleologische Ziel und Ende der Menschheitsgeschichte ansieht – und das auch schreiben darf? Ich nicht. Nach dem Zusammenbruch des ersten – und schon von Beginn an vermutlich untauglichen – Versuchs, auf deutschem Boden eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen, ist jeder Gedanke und sind sogar die Worte, die eine linke Utopie beschreiben könnten, vorerst verschwunden oder werden, wie hierzulande üblich, ins Phantomreich der Religion und der Moral verwiesen („faire“ Preise, „gerechte“ Löhne).

Wir waren aber bei den Tintenfischringen und Schweinedärmen. Den Nachgeborenen muss man vielleicht erklären, wie sich die römische Latifundienwirtschaft, das Feudalsystem (um das „Mittelalter“ ökonomisch zu beschreiben) und der voll entwickelte Kapitalismus in Bezug auf die Produktion von Lebensmitteln unterscheiden. Im alten Rom wurden bestimmte Lebensmittel mit Hilfe von Sklavenarbeit hergestellt, weil das am günstigten war. Diese Produkte – wie etwa Olivenöl – gelangten auf die Märkte in den Städten. Getreide gehörte übrigens nicht dazu. Das alte Rom bestand mehrheitlich aber immer noch aus (Klein-)Bauern, wie etwa auch das vorrevolutionäre China Anfang des 19. Jahrhunderts. Lebensmittel, vor allem Luxus- oder arbeitsintensive Güter, wurden also innerhalb des riesigen römischen Weltreiches hin- und hertransportiert, es gab aber keinen entwickelten Markt.

Das gilt auch für die Feudalzeil: Die Leibeigenschaft der Bauern ermöglichte es den Grundbesitzern, denen deren Produkte abzupressen, so dass sogar die Städte noch etwas abbekamen, obwohl die zum großen Teil sich selbst versorgen konnten. Es wäre also kaum jemand auf die Idee gekommen, zum Beispiel massenhaft Fisch von der Nordsee nach Bayern zu transportieren.

Ich habe ein kleines Schaubild gemacht, um zu zeigen, wie das heute funktioniert: Da auch der Handel mit Lebensmittel zur Gänze in den kapitalistischen Markt eingebunden ist und somit auch die Produktion, werden bestimmte Dinge nicht dort produziert, wo sie gebraucht werden, sondern dort, wo am meisten Profit damit zu machen ist. Es erstaunt doch sehr, dass Kapitalisten, die Hühner, Zucker oder Sonnenblumenöl herstellen lassen, immer noch Gewinne machen, obwohl man spontan vermutet, dass die Kosten für den Transport rund um den Globus und auch für die Lagerung der verderblichen Ware immens sein müssten?! Warum essen wir hier Knoblauch aus China oder Hühner aus den USA oder Blumenkohl aus Mexiko? Das wächst doch hier in der Gegend auch, und Hühner leben auch in Deutschland?

Natürlich gibt es keine „Volkswirtschaft“, wenn man diesen suggestiven Begriff überhaupt in den Mund nehmen will – mit „Völkern“ oder „Völkischem“ hat Ökonomie nichts zu tun. Der Kapitalismus unterjocht eben die ganze Welt, das ist seine fortschrittliche Dynamik, das Revolutionäre – selbst die kleinste hinterwäldlerische Hütte wird in seinen Bann gezogen. Nur in abgeschiedenen Regionen können sich noch andere ökonomische Formen halten, etwa die bäuerlichen Genossenschaften in den Anden, das Kastensystem Indiens, Subsistenzwirtschaften oder Nomaden in Afrika.

Im Kommunistischen Manifest (1848) heisst es pathetisch im Originaltext:
Man hat uns Kommunisten vorgeworfen, wir wollten das persönlich erworbene, selbsterarbeitete Eigenthum abschaffen; das Eigenthum, welches die Grundlage aller persönlichen Freiheit, Thätigkeit und Selbständigkeit bilde.
Erarbeitetes, erworbenes, selbstverdientes Eigenthum! Sprecht Ihr von dem kleinbürgerlichen, kleinbäuerlichen Eigenthum, welches dem bürgerlichen Eigenthum vorherging? Wir brauchen es nicht abzuschaffen, die Entwickelung der Industrie hat es abgeschafft und schafft es täglich ab.
Oder sprecht Ihr vom modernen bürgerlichen Privateigenthum?
Schafft aber die Lohnarbeit, die Arbeit des Proletariers ihm Eigenthum? Keineswegs. Sie schafft das Kapital, d. h. das Eigenthum, welches die Lohnarbeit ausbeutet, welches sich nur unter der Bedingung vermehren kann, daß es neue Lohnarbeit erzeugt, um sie von Neuem auszubeuten. Das Eigenthum in seiner heutigen Gestalt bewegt sich in dem Gegensatz von Kapital und Lohnarbeit. Betrachten wir die beiden Seiten dieses Gegensatzes. Kapitalist sein heißt nicht nur eine reinpersönliche, sondern eine gesellschaftliche Stellung in der Produktion einnehmen.
Das Kapital ist ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch eine gemeinsame Thätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur durch die gemeinsame Thätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden.
Das Kapital ist also keine persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht.

Diese Macht umspannt jetzt die ganze Welt, zur Zeit der Urväter der politischen Ökonomie war das noch nicht einmal in Ansätzen abzusehen. Wenn man aber alles über den weltweiten Markt (WWM) regelt, dann muss man auch alle Konsequenzen in Kauf nehmen:
Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. („Das Kapital, „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“)

Was war also mit den Calamari? Die werden gefälscht, weil Kapitalisten anderen Kapitalisten „totschlagen“, bei Strafe des eigenen Untergangs, wenn sie es nicht tun. Kapitalisten, in Volkswirtschaftssprech „Unternehmer“, sind Charaktermasken. Sie tun, was sie tun müssen. Wer andere nicht unterbietet, verliert. Man kämpft mit allen Mittel, Moral gibt es nicht. Es geht nicht anders, niemand kann sich dem entziehen.
Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. (Kommunistisches Manifest)

Das ist nur der Anfang. Der große Marxsche Irrtum war, dass er glaubte, die Revolte stellte sich zwangsläufig ein und man müsse dem notfalls mit Gewalt nachhelfen. „Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden“? Ganz falsch. Nationen spielen gar keine wichtige Rolle mehr.

Nun fragt man sich: Wie soll das alles enden? Das lasse ich die geneigten Leserinnen und wohlwollenden Leser selbst entscheiden… Wenn ich meine kosmologischen Erwägungen dazu formulierte, würde dieses Posting viel zu lang, was den hiesigen Gebräuchen krass widerspräche.




Freier Markt! Wohlstand für alle!

Europa sei mit der schlimmsten humanitären Krise seit sechs Jahrzehnten konfrontiert, sagt die Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Halbmondgesellschaften (IFRC). 43 Millionen Menschen in Europa haben nicht die Möglichkeit, sich aus eigenen Mitteln mit Essen zu versorgen.

Der Kapitalismus wird es schon richten. Die freie soziale Marktwirtschaft ist ja auch sowas von sozial…




Begründer-des-wissenschaftlichen-Sozialismus-Strasse

karl-marx-strasse

Schön, dass die Straßenschilder in Berlin-Neukölln Rixdorf so klar formulieren…




Verschwundenes Geld oder: Der irre Selbstzweck der frei(en) (Markt)wirtschaft

Schwundgeld„Spätestens seit dem Ausbruch der Finanzkrise dürfte jedem klar geworden sein, daß die Kapitalakkumulation an die Warenproduktion gekoppelt ist und nicht allein über die Finanzmärkte dauerhaft aufrecht erhalten werden kann. Das Kapital ist aufgrund der Notwendigkeit permanenter Verwertung das logische Gegenteil einer ressourcenschonenden Wirtschaftsweise, die notwendig wäre, um das Überleben der menschlichen Zivilisation zu sichern. Um immer wieder aus Geld mehr Geld zu machen, müssen Arbeit, Rohstoffe und Energie in permanent wachsendem Ausmaß verheizt, müssen alle Waren möglichst schnell obsolet, müssen im kulturindustriellen Dauerbombardement immer neue Bedürfnisse kreiert werden. Das Kapital ist gewissenmaßen das Parademodell effizientester Ressourcenverschwendung, das auf die permanente Optimierung seines irren Selbstzwecks (höcchstmögliche Verwertung) ausgerichtet ist.“
(Tomasz Konicz: „Noch fünf Jahre. wie der Kapitalismus der Menschheit die Lebensgrundlagen entzieht“, Konkret Nr. 6/2012, gelesen in: Peter Bierl, Friedrich Burschel (Hg.): Schwundgeld, Freiwirtschaft und Rassenwahn. Kapitalismuskritik von rechts: Der Fall Silvio Gesell, Hamburg 2012, Konkret Texte 57.)

Ich lese das Buch gerade.




Ein Zehntel Ferkel, in Muscheln ausgedrückt

Was bisher in unserem kleinen „Kapital-Kurs“ geschah: Wir hatten die Ware analysiert und ihre Elemente „Gebrauchswert“ und „Tauschwert“ („Nackte Frauen, Schweine und die Ware an sich“, 27.12.2012),

In einem weiteren Artikel („Moneta, Aes Signatum und die Ware an sich“, 29.12.2012) ging es um den „Warenfetisch“ – das erkenntnistheoretische Problem, dass die abstrakte Warenform „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt“.

Anschließend diskutierten wir den Begriff „Arbeit“ („Von grôzer arebeit und ihrer fantastischen Gestalt“, 02.01.2013.

Jetzt versuchen wir, die Kategorie „Geld“ oder dessen Embryonalformen näher zu untersuchen.

Geld

Es gibt nur einen Ökonomen, der es verdient, diesen Titel zu tragen. Karl Marx.“ (Börsenlegende Seth Glickenhaus laut sueddeutsche.de)

1. Einfache, einzelne oder zufällige Wertform

Gäbe es nur zwei Menschen auf der Welt, etwa die Neandertaler Alice und Bob, brauchte man kein Geld, selbst wenn diese unterschiedliche Dinge produzierten, von denen sie einige tauschen wollten. Wenn Alice ein lebendes Ferkel gegen zehn lebende Hühner Bobs konvertiert, muss sie nicht annehmen, dass sie immer so viel für ihr kleines Schwein bekommt. Falls Bob das Federvieh wegstürbe oder ein Fuchs die Hälfte klaute und auffräße, würde er beim nächsten Mal die abstrakte Einheit anders definieren. Alice und Bob setzen im Kopf temporär etwas gleich: Ein Huhn sei ein Zehntel Ferkel (obwohl ein zehntel Jungschwein gar nicht laufen könnte und schon tot wäre).

Noch wissenschaftlicher abstrakter: Der Wert ihres Schweins („relative Wertform“ bei Marx) drückt sich für sie in einer bestimmten Anzahl Hühner („Äquivalentform“) aus, während für Bob dessen Hühner als Teilmengen des noch quietschfidelen Schweinchens erscheinen. Für Alice sind Bobs Hühner nur der Wertausdruck ihres Ferkels – und für Bob umgekehrt: Für ihn ist das Schwein die Äquivalentform seiner zehn Hühner. Bob hat etwas verglichen, was nicht vergleichbar ist (Hühner und Schweine), setzt aber dennoch zehn Hühner einem Schwein äquivalent.

Von „Preis“ kann hier noch nicht die Rede sein. „Das Wertverhältnis zweier Waren liefert daher den einfachsten Wertausdruck für eine Ware.“ (Das Kapital, Bd.1, S. 62)

Komplizierter wird es, wenn wir nicht Tiere nehmen, die sich von selbst vermehren, wenn man sie füttert und einigermaßen gut behandelt, sondern Güter, die selbst schon produziert wurde. Alice besäße Pfeil und Bogen und möchte diese gern gegen zwei Dutzend Feuersteine eintauschen. Indem Alice und Bob im Kopf vergleichen, um herauszufinden, was wieviel wert ist, schaffen sie etwas Abstraktes: Sie beziehen sich beide – nur temporär! – auf die menschliche Arbeit, die sowohl in Pfeil und Bogen als auch in den Feuersteinen steckt. Anders geht es gar nicht.

Äquivalentform

Marx drückt das im „Kapital“ recht verschwurbelt aus und braucht dazu rund 20 Buchseiten. Worauf es ihm ankommt:
Wirkliche Wechsel der Wertgröße spiegeln sich also weder unzweideutig noch erschöpfend wider in ihrem relativen Ausdruck oder in der Größe des relativen Werts. Der relative Wert einer Ware kann wechseln, obgleich ihr Wert konstant bleibt. Ihr relativer Wert kann konstant bleiben, obgleich ihr Wert wechselt, und endlich brauchen gleichzeitige Wechsel in ihrer Wertgröße und im relativen Ausdruck dieser Wertgröße sich keineswegs zu decken.

Noch ein Detail aus der Sicht Alices über Bobs zwei Dutzend Feuersteine: Für sie sind die Feuersteine Bobs die „Äquivalentform“ ihrer Pfeile und des Bogens, die konkrete Arbeit Bobs, die in den Feuersteinen steckt, die er hergestellt hat, erscheint als deren Gegenteil – als abstrakt menschliche Arbeit, die man als Idee braucht, um überhaupt etwas gleichzusetzen (deshalb „Äquivalentform“).

Übrigens: Wenn die Anhänger der Glaubensgemeinschaft Freier Markt(TM) jetzt herumjammern, das sei doch kompliziert und man müsse Marx nicht lesen, weil das anstrengend sei und Volkswirtschaftlern dürfe man geistige Arbeit nicht zumuten: Das alles oben hat Marx nicht erfunden, sondern steht fast genauso schon bei Aristoteles. Aber den kennen „Volkswirtschaftler“ vermutlich gar nicht: Philosophie und so ist ihnen ein Gräuel.

Marx beruft sich auf Aristoteles auch deshalb ausführlich, weil er ein weiteres erkenntnis- und wissenschaftstheoretisches Problem abhandelt, was ich hier schon angesprochen hatte („Ciompi und andere“, 24.12.2012): Was konnte Aristoteles warum nicht analysieren bzw. erkennen?

Daß aber in der Form der Warenwerte alle Arbeiten als gleiche menschliche Arbeit und daher als gleichgeltend ausgedrückt sind, konnte Aristoteles nicht aus der Wertform selbst herauslesen, weil die griechische Gesellschaft auf der Sklavenarbeit beruhte, daher die Ungleichheit der Menschen und ihrer Arbeitskräfte zur Naturbasis hatte. Das Geheimnis des Wertausdrucks, die Gleichheit und gleiche Gültigkeit aller Arbeiten, weil und insofern sie menschliche Arbeit überhaupt sind, kann nur entziffert werden, sobald der Begriff der menschlichen Gleichheit bereits die Festigkeit eines Volksvorurteils besitzt. Das ist aber erst möglich in einer Gesellschaft, worin die Warenform die allgemeine Form des Arbeitsprodukts, also auch das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis ist. Das Genie des Aristoteles glänzt grade darin, daß er im Wertausdruck der Waren ein Gleichheitsverhältnis entdeckt. Nur die historische Schranke der Gesellschaft, worin er lebte, verhindert ihn herauszufinden, worin denn „in Wahrheit“ dies Gleichheitsverhältnis besteht.

Geld

2. Die entfaltete und die allgemeine Wertform

Nehmen wir an, unsere Neandertaler Alice und Bob kämen überein, nicht nur Schweine, Hühner, Pfeil eund Bogen sowie Feuersteine zu tauschen, sondern noch viel mehr Produkte, weil sie mittlerweile Sex hatten und schon zahllose Nachkommen gezeugt haben, die schon erwachsen sind und ebenfalls an unserem Mini-Markt ohne Geld teilnehmen wollen.

Gesetzt, ein Schweinchen sei zehn Hühner wert. Zehn Hühner könnte man gegen ein Dutzend Feuersteine tauschen. Für ein Dutzend Feuersteine bekäme man aber auch ein Paar Moschusochsenfell-Mokassins. Wenn alle diese Dinge temporär gleich viel wert sind, ist also dieser „Warenwert gleichgültg (..) gegen die besondere Form des Gebrauchswerts, worin er erscheint. (…) Das zufällige Verhältnis zweier individueller Warenbesitzer fällt fort. Es wird offenbar, daß nicht der Austausch die Wertgröße der Ware, sondern umgekehrt die Wertgröße der Ware ihre Austauschverhältnisse reguliert.“ (Das Kapital, S. 78)

Man könnte also auf die Idee kommen, Alices kleines (ein anderes als oben) Schwein nicht nur gegen Hühner oder Feuersteine, sondern auch direkt gegen ein Paar Moschusochsenfell-Mokassins einzuhandeln. Es gilt die mathematische Formel: x Ware A = y Ware B = z Ware C usw.

Irgendwann wird irgendeinem Gut, das auf dem Markt erscheint und gehandelt wird, der Charakter des allgemeinen Äquivalents aufgedrückt – sehr schön zu sehen beim altrömischen Aes signatum.

Halt, stopp: wohlwollende Leserinnen und geneigte Leser, die noch übrig sind und sich gerade den Schweiß von der Stirn wischen: Natürlich denken wir alle zu Recht, dass jetzt – endlich! – das Geld dran wäre. Marx aber macht vor dem Kapitel „Übergang aus der allgemeinen Wertform zur Geldform“ (Das Kapital, S. 83ff) noch eine kleine Pause und schreibt die etwas rätselhaften Sätze (ich ersetze „Leinwand“ durch „Schweine“):

Umgekehrt ist die Ware, die als allgemeines Äquivalent figuriert, von der einheitlichen und daher allgemeinen relativen Wertform der Warenwelt ausgeschlossen. Sollte Alices Schweinchen, d.h. irgendeine in allgemeiner Äquivalentform befindliche Ware, auch zugleich an der allgemeinen relativen Wertform teilnehmen, so müßte sie sich selbst zum Äquivalent dienen. Wir erhielten dann: ein Ferkel = ein Ferkel, eine Tautologie, worin weder Wert noch Wertgröße ausgedrückt ist. Um den relativen Wert des allgemeinen Äquivalents auszudrücken, müssen wir vielmehr die Form III umkehren. Es besitzt keine mit den andren Waren gemeinschaftliche relative Wertform, sondern sein Wert drückt sich relativ aus in der endlosen Reihe aller andren Warenkörper. So erscheint jetzt die entfaltete relative Wertform oder Form II als die spezifische relative Wertform der Äquivalentware.

Alles klar? Puls und Atmung auch? Marx will hier noch mal klären, dass der Wert dessen, was als allgemeines Äquivalent („Geld“) dient – aes signatum, Muscheln, Goldmünzen, irrelevant ist für seine Funktion: Ob der Metallwert einer Münze schwankt, ist unerheblich für deren Funktion als Geld(stück) oder wieviel man dafür kaufen kann.

Eine Ware erhielt im Lauf der Zeit das „Monopol“, „innerhalb der Warenwelt die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu spielen. Diesen bevorzugten Platz hat (…) eine bestimmte Ware historisch erobert, das Gold.“

Nachdem Marx im „Kapital“ (S. 83) das Geld eingeführt hat, folgt zunächst das berühmte Kapitel über den „Fetischcharakter der Ware“, das ich hier schon mehrfach verhackstückt hatte. Erst ab S. 142 beschäftigt Marx sich dann noch einmal ausführlich mit den Facetten des Geldes. Dazu mehr beim nächsten „Kapital-Kurs“ in diesem Theater.

Fotos oben und unten: Burks