Kapitalismus verstehen lernen

„Die Logik [des kapitalistischen Systems] ist, daß reale Produktionsprozesse, reale Ressourcen und menschliche Fähigkeiten nur eingesetzt weden, wenn sie dem Verwertungselbstzweck, aus einem Euro zwei zu machen, genügen können. Wenn nicht, dann wird stillgelegt. Dann werden intakte, auch lebensnotwenige Produktionen stillgelegt.“ (Robert Kurz, in: in: Hermann L. Gremliza (Hg.): „No way out? 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen“, S. 17)

„Das einzige voll entwickelte Marktsystem, wo Märkte nicht nur Nischenerscheinungen sind, sondern die gesamte Produktion und Distribution beherrschen, ist das kapitalistische. Es gibt kein nicht-kapitalistisches, voll entwickeltes Martksystem. Insofern haben wie dann entweder den kapitalistischen Markt, oder wir haben etwa anderes. Aber nicht so einen netten kleinen Markt, der irgendetwas Positives beibehält und das Negative losgeworden ist. (Michael Heinrich, in. ebd., S. 48)

Der grosse Markteingriff, Newton und das Abstrakte

kapitalismus

Die Europäische Zentralbank will in den Markt eingreifen und marode Staatsanleihen kaufen. Oha! Was sagt denn die Glaubensgemeinschaft des „freien“ Marktes“ dazu? Schafft die EZB jetzt den Kapitalismus ab, droht gar Stamokap am Horizont oder geben die Apologeten der freiheitlich-demokratischen soziale Marktordnung klammheimlich zu, dass der Markt irgendetwas verkehrt gemacht hat?

Um diese Frage zu klären, müssen wir kurz diskutieren, warum die Pharaonen keine Dampfmaschinen hatten und die alten Römer keine Taschenlampenbatterien. So albern sich das anhört – aber das ist ungeheuer kompliziert zu beantworten.

Die Kategorie des Fortschritts ist primär eine soziale Kategorie. (…) Soziologisch betrachtet ist die neuzeitliche Wissenschaft eine kulturelle Innovation, die (…) schrittweise in die Gesellschaft integriert wird. (…) … es ist zweifellos klar, daß die wissenschaftlichen Leistungen Galileis (1564-1642) und Newtons (1643-1727) ohne Parallele sind. Galilei schafft ein geschlossenes System der Kinematik, in dem im Prinzip alle mechanischen Bewegungen auf die präziseste Weise, d.i. mathematisch, bestimmt sind. Newton ergänzt diese System um den dynamischen Teil und schafft damit die klassische Mechanik. (…) es ist also genau das 17. Jh., das einen scharfen Schnitt zwischen die kulturellen Prozesse des westlichen Europa und die der anderen Kulturen legt,…“ (Wolfgang Kron: Zur soziologischen Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaft, in: Edgar Zilsel: Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft, Frankfurt a.M. 1976)

Man kann also nicht einfach behaupten, die Ägypter und Römer hätten einfach nur lange genug nachdenken müssen, dann wären sie schon drauf gekommen, wie das herzustellen sei. Und warum war die Menschheit erst im 17. Jahrhundert in der Lage, die Mechanik theoretisch zu formulieren, obwohl die alten Mayas sogar den Kegelumlauf der Erdachse auf Grund der Präzession der Erde ausrechnen könnten, ein Zeitraum, der immerhin rund 25000 Jahre beträgt?

Jetzt wird es kosmologisch. Wir fragen uns in Wahrheit, ob die Menschheit sich irgendwo hinentwickelt, immer höher, größer, weiter, besser, schöner, reicher, intelligenter, immer mehr Wachsstum. In der Philosophie nennt man so etwas teleologisch, also die Idee, alles sei einem großen Zweck untergeordnet, machte also einen „Sinn“. Das ist natürlich religiöse Denke, und ein Zen-Meister würde sowieso vor Lachen vom Balkon fallen.

Nicht anders argumentieren aber unsere Wirtschaftsexperten, Volkswirtschafts-Professoren und andere Hobby-Astrologen. Der „Markt“ sei schon seit dem Neolithikum dagewesen, seitdem jemand die Klaue eines Säbelzahntigers gegen einen Faustkeil tauschte, „Wachstum“ gehe bis zum Sankt Nimmerleinstag weiter, obwohl wir nicht so recht wissen, wie immer mehr Leute immer mehr Produkte kaufen sollen und trotzdem immer mehr Geld verdienen, und wenn die Menschen nur rational dächten, würden wir auch noch in 5000 Jahren, wenn Perry Rhodan und Meister Joda die Weltherrschaft übernommen haben, den „freien Markt“ und vom Kapitalismus verherrlichen. Sagt mal, Leute, ist soweit noch alles klar in eurem Oberstübchen? Geht’s noch?

Was unterscheidet eigentlich die altägyptische und altrömische Ökonomie von der heutigen? Märkte existierten auch dort, oder? Sogar ohne Publikumsjoker weiß jedes Kind, dass es in der Antike (und nicht nur dort) nur wenig Lohnarbeit, dafür aber um so mehr Sklavenarbeit gab, obwohl sogar im römischen Imperium der Anteil freier Bauern an der Produktion überwog. Sklaven wurden vor allem in Latifundien (wieso ist der deutsche Wikipedia-Eintrag so ein Mist?) eingesetzt. Sklaven waren keine Menschen, sondern Objekte – wie Tiere im bürgerlichen Gesetzbuch. Offenbar war aber die Organisation gesellschaftlicher Arbeit (aka die Produktionsverhältnisse) mit menschlichen Tieren nicht besonders effektiv, denn die Römer waren noch nicht einmal in der Lage, die Dreifelderwirtschaft einzuführen, die im 12. Jahrhundert in Mitteleuropa zu einem ungeheuren Produktionsschub und zum Bevölkerungsanstieg führte.

Also wieder die Frage nach der real nicht existierenden altägyptischen Dampfmaschine und der römischen Taschenlampenbatterie. Die philosphisch vorgebildeten Leserinnen und auch sonst intellektuell anspruchsvollen Leser werden schon gemerkt habe, dass Burks jetzt zwei wissenschaftliche Begriffe unterjubeln bzw. einführen will, mit Hilfe derer man gar trefflich die Welt interpretieren und verstehen kann:

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse (der Wikipedia-Eintrag ist ein Schmarrn), die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.

Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (Quelle)

Also dieser „Überbau“, der hat es in sich – der ist fast so unangenehm wie diese pöhsen Trojaner, die – wenn man deutschen Medien glaubt -, so unangefragt auf meinen Rechner beamen. Der“ Überbau“ scheint es irgendwie verhindert zu haben, dass die Pharaonen Dampfmaschinen benutzten und die alten Römer Taschenlampen, obwohl sie mit Fußbodenheizungen offenbar keine Probleme hatten. Oder waren des jetzt die „Produktivkräfte“?

Um mit der Frage gleich ins Haus zu fallen: Wie und unter welchen Umständen und warum entsteht überhapt abstraktes Denken? Das eben wird vorausgesetzt, wenn wir jemals auf die Idee kämen, uns mit der Marxschen Werttheorie zu beschäftigen – was ich ja schon angekündigt habe. (Ich meine nicht die Fähigkeit der geschätzten Leserinnen und werten Leser abstrakt zu denken, sondern die, eine Theorie der Ware im Kapitalismus, des Gebrauchswerts und des Tauschwerts und was daraus alles folgt, entwickeln zu können. Das Theorem des Pythagoras ist ja auch nicht vom Himmel gefallen.)

Was wiederum vorausgesetzt wird, um die These zu verifizieren, man könne mit der marxistischen Lehre von der Ökonomie wunderbar erklären, warum es eine „Euro-Krise“, „Schulden-Krise“ gibt und ob was tun kann und wie das alles enden wird (ja was eigentlich ist „krisenhaft“ und wer hat die Schulden warum bei wem?).

To speak frankly (im Englischen hört sich das viel klarer an): Ich halte die „Wirtschaftsexperten“ und bürgerlichen Volkswirtschaftler fast allesamt für Scharlatane und interessegeleitete Esoteriker, deren Abstraktionsniveau und wissenschaftliches Instrumentarium, ökonomische Vorgänge im Kapitalismus zu erklären, nicht weiter entwickelt sind als das der katholischen Kirche im Mittelalter. Die sagen noch nicht einmal, welcher „volkswirtschaftlichen“ Schule – von denen es viele gibt wie schon zu Marx‘ Zeiten und die sich zum Teil diametral widersprechen – sie angehören. Mal kommt dieses in Mode, mal jenes, mal soll es der Markt radikal „richten“ wie unter Maggy Thatcher, mal soll der Staat wieder eingreifen zum großen Markteingriff. Wenn Chemiker so argumentierten, wäre vermutlich schon die halbe Welt entweder vergiftet oder weggesprengt worden. Und wenn ein Physiker oder Biologe so vage herumfaselte, würde er aus jedem Proseminar an der Uni geworfen.

Es ist sogar noch schlimmer: Das Wissen und die Methoden, die Gesetze des Kapitalismus nachzuvollziehen und zu begreifen und anderen zu erläutern, sind ja da. Sie ignorieren es. Aber man erwartet ja auch nicht vom Papst, dass er beweist, dass die Atheisten Recht haben und dass Götter nur Projektionen des Allzumenschlichen sind.

Da brüllt und schäumt jetzt das Kapitalismus-affine Publikum: Gesetze? Welche Gesetze? In der Wirtschaft?! Zu viele Variablen – die freidemokratische supersoziale Martkwirtschaft ist doch wie das Wetter: Einfach langfristig beobachten und sich je nach zu vermutender Witterung passend kleiden.

Nein, so ist es nicht. Ein Biologe würde kühl antworten: Wirtschaft ist kein Feuilleton, sondern Teil der Evolution, wie der Homo sapiens höchstderoselbst, und natürlich gibt es auch dort Gesetze, wie die Naturgesetze – also Phänomene, die man mit geeigneten wissenschaftlichen Methoden beoabachten und interpretieren kann. Zwar kann man auch in der Biologie oder in der Physik nicht vorhersagen, wann warum ein einzelnes Blatt vom Baum fällt, aber man weiss doch, was ein Wald ist und wie lange Bäume ungefähr leben und was passierte, wenn man ihn abfackelte. Doch welche Methoden sind geeignet? Doch nicht die, die „Wachstum“ und „Markt“ Und „Kapitalimus“ aka „soziale Marktwrtschaft“ wie Fetische oder Mumien der Ahnen singend und beschwörend vor sich her tragen und jeden, der das kopfschüttelnd kritisiert, ins soziale Abseits stoßen!

Übrigens streiten zwei Marxistische Schulen darüber, welche materiellen Voraussetzungen vorliegen müssen, damit abstraktes Denken möglich ist. In den Ländern des so genannten autoriären Staats“sozialismus“ wurde so etwas Anspruchsvolles oder gar ein wissenschaftlicher Streit nicht erlaubt; die Partei hatte immer recht und mochten die Parteibonzen auch intellektuell so einfach gestrickt sein wie ein Dackdecker aus dem Saarland. Die eine Schule, zu der etwa der britische Altphilologe George Derwent Thomson, der Philosoph und Soziologe Alfred Sohn-Rethel und Rudolf Wolfgang Müller („Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewußtsein und Rationalität seit der Antike“) gehören, meint, dass in der ‚Realabstraktion des Warentausches‘ die „entscheidende Bedingung für den Erwerb formal-abstrakten Denkens“ liege. Um diese Abstraktion geht es übrigen in den ersten Kapiteln im Marxschen „Kapital“, das die Wertlehre darlegt.

Die andere – und in der Wissenschaft vergessene – Schule wird etwa vertreten durch Wolfgang Lefèvre, einen Weggefährten Rudi Dutschkes. Ich hatte als junger Student die Ehre und das Vergnügen, zu einem philosophischen Oberseminar Lefèvre eingeladen zu werden, das der Vorbereitung seiner Dissertation diente. Ich fühle mich dieser Denkrichtung zugehörig. Wir haben uns damals den Kopf zerbrochen, warum ausgerechnet im 17. Jahrhundert ein Newton die Mechanik entwickelte und nicht später oder früher. (Ich war damals zuständig für die Wirtschaft im Feudalismus und musste zum Glück Newton nicht lesen.) Kurz gesagt: Wir meinten im Gegensatz zu Sohn-Rethel, dass nur der Arbeitsprozess selbst abstraktes Denken ermögliche.

Da aber alle Leser dieses Blogs ohnehin schon weggezappt sind, wenn Opa aus dem Krieg erzählt Burks Anekdoten aus seinem Philosophie-Studium zum Besten gibt, will ich das nicht weiter ausführen. Es läse ja doch niemand.

Ich versichere aber glaubhaft, dass das obige verbal Gerüttelte und Geschüttelte etwas mit den nicht vorhandenen altägpytischen und römischen Dampfmaschinen und Taschenlampenbatterien sowie der Marxschen Wertlehre und der Wissenschaft von den Gesetzen des Kapitalismus und der „Schulden-Krise“ Griechenlands zu tun hat. Aber davon mehr in Kürze.

Kapitalistischer Normalbetrieb

„Die Reduktion der Kapitalismuskritik auf die Banken (…) adelt die kapitalistische Ausbeutung in Fabriken und teil den Kapitalismus unwissenschaftlich in einen bösen raffenden und guten schaffenden. (…) Fast schon revolutionär wäre es, wenn das System nicht nur wegen seiner Krisen kritsiert würde, sondern wegen seines Normalbetriebs.“ ((Rainer Trampert: Das neue Akkumulationsmodell, in: Hermann L. Gremliza (Hg.): „No way out? 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen“, S. 147)

Wachstum oder: Notgemeinschaft alleinerziehender Tretbootfahrer

Zugegeben: Ich habe die Notgemeinschaft des Titels aus Gremlizas Kolumne „Dumm wählt gut“ in der aktuellen konkret geklaut. Gremliza beschreibt eine „Ordnung“ (meinetwegen eine freiheitlichdemogradischeTM), die auf dem Glauben gründe(t), wenn alle nur ihren eigenen Vorteil der ökonomischen Art suchten und niemand sie daran hindere, würden sich die Welt zum Guten, Schönen und Wahren wendet und alle wären reich und glücklich.

Wer glaubt, es handele sich jetzt um eine Satire, der irrt gründlich. Die Volksverdummungsindustrie, zu der auch ein großer Teil der deutschen Medien gehört, „argumentiert“ genau so. Die Wirtschaft müsse nur wachsen, wachsen, wachsen und immer den Konsumenten denken. Das ist doch, wenn man sich einen zweiten Blick gönnt, nicht nur gequirlte Scheisse, sondern auch noch quasi-religiöse und affirmative Propaganda.

Das bedeutet Wachstum, die Ökonomie betreffend und wieso halten alle diesen Fetisch hoch? Die Zahl der Menschen, die sich auf dem kapitalistischen Markt der Güter tummeln, und die Menge der Güter auch. Meint „Wachstum“ etwas, es würde immer mehr von allem produziert, und die Menschen würden immer mehr kaufen – und zwar weltweit? Wie soll das gehen? Und wenn nicht, was bedeutet der Fetisch Wachstum dann?

Ganz was anderes: „Wachstum“ als Teil des suggestiven Neusprechs heißt in Wahrheit „Profit“. Es geht nicht darum, dass „die Wirtschaft“ wachse, sondern darum, dass das Kapital mehr Rendite abwirft. Das funktioniert aber nicht auf Dauer wegen des tendenziellen Falls der Profitrate. Wer etwa anderes sagt, soll mir hier erst eimal eine neue Arbeitswerttheorie unterbreiten mitsamt der Sekundärliteratur seit Aristoteles.

1. Der Wert der Produkte wird nicht durch die wirklich für sie aufgewandte Arbeit bestimmt, sondern durch das Maß „abstrakter Arbeit“, als deren Vergegenständlichung sie gelten. Abstrakte Arbeit kann gedanklich als Teil der gesellschaftlich erforderlichen Gesamtarbeit aller Individuen betrachtet werden.

2. Da „abstrakte Arbeit“ nur eine theoretische Kategorie ist, aber kein Produzent tatsächlich abstrakte Arbeit leistet, ist der darauf gegründete (Arbeits-)Wert auch selbst ein bloßes Gedankending. Im Gegensatz zu den Vertretern der klassischen Arbeitswertlehre ist der Wert nach Marx deshalb keine den Produkten tatsächlich zukommende Eigenschaft, sondern lediglich der Ausdruck eines Verhältnisses.

„Wachstum“ ist also ein ideologischer Begriff – wie „friedenserzwingende Maßnahme“, „Entsorgungspark“ oder „grundrechtsschonend“. Und genau deshalb ist er zwingend notwenig in der „Tagesschau“, in allen Zeitungen aka volksverdummende Industrie. Das Ministerium für ewige Wahrheiten im Kapitalismus informiert.

Der Kapitalismus an sich ist nicht gut

Die Titanic schreibt Henrik Müller, den Chefredakteur des Manager-Magazins:

Da haben Sie in Ihrem »Spiegel online«-Kommentar dem Kapitalismus aber mal ordentlich die Leviten gelesen: „Eine Wirtschaft, deren primäres Ziel es ist, eine möglichst hohe Kapitalverzinsung zu erwirtschaften, läuft in die Irre“, heißt es da. Das Modell habe sich totgelaufen: „Profit und Rendite zu erwirtschaften kann nur eine Nebenbedingung einer nachhaltigen Wirtschaft sein, kein Selbstzweck.“

Da nun aber genau dieser Selbstzweck der einzige Antrieb kapitalistischen Wirtschaftens ist, Sie, Müller also erklären, daß der Kapitalismus an sich nicht gut ist, folgern Sie messerscharf was? Logisch, steht ja in der Überschrift: »Es ist Zeit für einen neuen Kapitalismus«.

Jedes System hat halt die Logiker, die es verdient.

Die gängigen „Thesen“ der Mainstream-Medien über Ökonomie und den Kapitalismus im Allgemeinen und Besonderen kann man auch nur noch satirisch kommentieren.

Ludwig lesen oder: Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

Bücher

Es gibt keine Glückseligkeit ohne Tugend, ihr habt Recht, ihr Moralisten […] aber merkt es euch, es gibt auch keine Tugend ohne Glückseligkeit – und damit fällt die Moral ins Gebiet der Privatökonomie oder Nationalökonomie. (Ludwig Feuerbach)

Wir machen gleich kurzen Prozess, damit es die Leser nicht allzusehr schmerzt:
Wer wissen will, wie die kapitalistische Wirtschaft funktioniert, sollte zunächst die „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx lesen (1100 Seiten), weil darin die Werttheorie entwickelt wird. Dann die drei Bände des „Kapital“ (rund 3000 Seiten, gefühlt 30.000), nicht zu vergessen Ludwig Feuerbachs „Das Wesen den Christentums sowie alles über „Herrschaft und Knechtschaft in der Hegelschen „Phänomenologie des Geistes“ (rund 600 Seiten). Ich erwarte auch fundiertes Wissen in altgriechischer, römischer und mittelalterlicher Geschichte, Grundkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie und die Lektüre der Standardwerke der Ethnologie über Fetischismus – wahlweise 500 Seiten Marcel Mauss oder – wer es ganz exotisch haben will – eine antiquierte Scharteke von Maurice Godelier, zum Beispiel „Oekonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften“.

Jetzt wackeln die geneigten Leserinnen und wohlwollenden Leser mit den Köpfen, fragend, was dieser Burks wohl geraucht haben möge, und beschließen, sofort weiterzuzappen auf etwas Leichtes, Beschwingtes und auch für den durchschnittlichen deutschen Fernsehzuschauer verständliches Wortgebräu, das zu verdauen man das Gehirn nicht über Gebühr anstrengen muss, etwa das tägliche Horoskop, den Wirtschaftsteil deutscher Zeitungen die Börsennachrichten der Tagesschau.

Halt! So einfach ist das eben nicht mit der Wirtschaft. Wer Metzger lernen will, braucht ein paar Monate Lehrzeit, um ein Schwein sauber zerlegen zu können. Und ihr wollte mir weismachen, die Prinzipien, wie Ökonomie im Kapitalismus funktioniere, könne man so mal eben aus dem Bauch heraus, per gesundem Volksempfinden, lernen und verstehen – wie das FDP-Funktionäre Volontäre und Journalisten in Deutschland täglich tun? Habt ihr noch alle Tassen im Schrank?

In Wahrheit ist es mit Karl Marx und seinen Ideen noch viel vertrackter. Das ökonomische Hauptwerk „Das Kapital“, dessen Basis schon in den „Grundrissen“ beschrieben wurde, fußt auf dem, was Philosophie und Wirtschaftswissensschaft im frühen 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Marx hat das nur neu und anders interpretiert. Ganz nebenbei nahm er auch heutige Theorien der Wahrnehmungspsychologie vorweg – damals beschäftigte sich die Philosophie mit der Frage: Ist die Welt wirklich so, wie wir sie glauben zu sehen, oder ist sie vielmehr nicht ganz anders? Und wenn die Welt anders ist als wir meinen, wie könnten wir das jemals erfahren?

Ich schrieb über den Warenfetisch: „Im Kapitalismus würden den Waren, dem Geld und schließlich dem Kapital Eigenschaften zugeschrieben, die diese in Wahrheit nicht haben, steht bei Wikidings. Das, was über Wirtschaft gedacht wird, ähnelt dem Abergauben der Religionen, ist also nicht wahr, sondern Unfug. Und das ist zwangsweise so: Die Mehrheit der Leute kann gar nicht anders, aus historischen Gründen, genausowenig wie ein Bauer im alten Ägypten verstanden hätte, dass sich die Erde um die Sonne dreht.“

Das kriegen wir aber erst später.

Stellen wir uns also ganz dumm. Wozu, zum Teufel [sic!], sollte heute noch jemand Ludwig Feuerbach über das Christentum lesen? Der Kerl ist doch schon seit rund 140 Jahren mausetot? Ganz einfach: „Die Religion ist nicht einfach ‚Unsinn‘ oder ‚Aberglaube‘, sie ist die bildhafte Äußerung von Eigenschaften und Impulsen, von ‚Kräften‘, die der Mensch als so wichtig und wesentlich empfindet“. Feuerbach spricht es zwar nicht aus, aber er definierte als erster Philosoph Religion als eine Projektion – im heutigen wissenschaftichen Sinn.

Daraus folgt genau das, was Marx in seinen berühmten Thesen über Feuerbach schreibt: „Feuerbach sieht daher nicht, daß das ‚religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist und daß das abstrakte Individuum, das er analysiert, einer bestimmten Gesellschaftsform angehört.“

Wer das heute sagt, wird immer noch scheel angesehen. Wie? Der religiöse Aberglaube lässt sich aus der jeweiligen Gesellschaft erklären? Wo kämen wir denn da hin? Dann gäbe es doch keine absoluten Wahrheiten mehr und die heiligen Bücher hätten Unrecht? Ja, liebe christlichen Salafisten, so ist es, und das wusste schon Feuerbach – und Marx sowieso.

Die Menschen haben also ein „falsches Bewusstsein“ (Ideologie), sie machen sich Illusionen über sich und das, was die Welt zusammenhält. Diese Projektion ist ja nach Gesellschaftsform unterschiedlich – man könnte modern sagen: In Papua-Neuguinea glaubt man, das Tänze das Wetter beeinflussten, und in deutsche Medien glaubt man daran, dass die Wirtschaft immer weiter wachsen könne und dass es eine „Konjunktur“ gebe wie die Konjunktion in der Astronomie. Der Singehalt beider Thesen ist ähnlich. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen und bewegt sich. Da kann man nix machen.

Marx hat in der „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie die Sache mit dem „falschen Bewusstsein“ noch weiter ausgesponnen:
…die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. (…) Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.

Das sind doch höchst aktuelle Sätze! Religion, Esoterik und andere Formen des Aberglaubens sind nicht ausgestorben, wie man vorschnell annehmen könnte, sondern sind äußerst beliebt – und um so mehr, wie der Kapitalismus kriselt und immer mehr Menschen in die Armut und ins gesellschaftliche Aus drängt. Mein Hausphilosoph Lichtenberg schrieb schon vor einem Vierteljahrhundert rund 250 Jahren: „Unsere Welt wird noch so fein werden, daß es so lächerlich sein wird, einen Gott zu glauben als heutzutage Gespenster.“ Leider irrte er, wenn man sich ansieht, wie viele Jugendliche dem Oberpfaffen Benedikt hinterherlaufen oder wie viele Journalisten höhere Wesen verehren und sich auch noch trauen, das öffentlich zuzugeben.

Das Publikum ahnt schon, worauf das hier hinausläuft: Im „Kapital“ wird schon ganz zu Anfang (das erste Kapitel hat rund 100 Seiten) analysiert, dass der Kapitalismus den Menschen zwangläufig eine Art Irrglauben aufzwingt: Sie meinen etwa anderes zu tun und zu haben, als in Wahrheit der Fall ist. Es heisst also nicht „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ (was es gibt), sondern: Apologeten des Systems Wirtschafts“wissenschaftler“, die „Arbeitgeber“ mit „Arbeitnehmer“ verwechseln (was genau so ein Unfug ist, aber leider gang und gäbe).

Friedrich Engels schreibt über das übliche affirmative Neusprech:
Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das „Kapital“ den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin z.B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird. Auch im Französischen wird travail im gewöhnlichen Leben im Sinn von ‚Beschäftigung‘ gebraucht. Mit Recht aber würden die Franzosen den Ökonomen für verrückt halten, der den Kapitalisten donneur de travail, und den Arbeiter receveur de travail nennen wollte.

„Kauderwelsch“ ist noch ein harmloser Begriff für den Quatsch, der schon damals in den Medien über Ökonomie stand – und unverändert auch heute noch.

Übrigens – hier mitlesende Sozialdemokraten, aufgemerkt! Nicht vergessen, was euer Parteigenosse Eduard Bernstein sehr richtig bemerkte: „Die wichtigsten Stellen sind von Marx so klar und verständlich geschrieben, dass es eigentlich Sünde ist, sie in mein versozialdemokrateltes Deutsch zu übertragen“.

Ware, Wert, Preis und Profit, revisited

Das Kapital

„Es ist fast unmöglich, die Fackel der Wahrheit durch ein Gedränge zu tragen, ohne jemandem den Bart zu versengen“, sagte mein Hausphilosoph Lichtenberg. Das gilt insbesondere im öffentlichen Diskurs in Deutschland, der stark tabuisiert ist, oder auch – um kühn zu metaphern: der so reagiert wie der Pawlowsche Hund – also nach einem vorhersehbaren Reiz-Reaktionsmuster. Wenn ich bestimmte Worte benutze, erzeuge ich hysterische Emotionen, die so standardisiert sind wie eine katholische Messe. Beispiel: Kommunismus oder auch „Karl Marx“.

Frank Rieger vom CCC hat jüngst im gefühlten Zentralorgan der Bourgeoisie, der FAZ, und vermutlich ohne es zu wissen und wollen ein zentrales Theorem des Marxismus für wahr und selbstverständlich gefunden:
Technologische Revolutionen befördern den Gang der Geschichte. (…) …frühe Beispiele eines Prozesses, den unsere Gesellschaften immer wieder durchleben: Die etablierte ökonomische, politische und soziale Struktur wurde inkompatibel mit dem Stand der Technologie.“

Ach. Man möchte das Ministerium für Wahrheit bemühen: „Produktionsverhältnisse“ im Marxschen Sinn heißen jetzt: „die etablierte ökonomische, politische und soziale Struktur“, und „Produktivkräfte“ heißen jetzt „Stand der Technologie“. Man darf Wahrheiten also doch aussprechen, aber man darf nicht die richtigen und bekannten Worte dafür benutzen, sonst stehen gleich alle Bärte in Flammen aka Shitstorm.

Im Kommunistischen Manifest heißt es:
Unter unsren Augen geht eine ähnliche Bewegung vor. Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrs-Verhältnisse, die bürgerlichen Eigenthums-Verhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er herauf beschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur noch die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktions-Verhältnisse, gegen die Eigenthums-Verhältnisse, welche die Lebens-Bedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft sind. Es genügt die Handelskrisen zu nennen, welche in ihrer periodischen Wiederkehr immer drohenden die Existenz der ganzen bürgerlichen Gesellschaft in Frage stellen. In den Handelskrisen wird ein großer Theil nicht nur der erzeugten Produkte, sondern sogar der bereits geschaffenen Produktivkräfte regelmäßig vernichtet.

Das Kommunistische Manifest wurde 1848 geschrieben, die obige Aussage beschreibt die gegenwärtige Ökonomie immer noch zutreffend. Die Apologeten des Kapitals, zu denen auch die dümmlichen Glaskugel-Gucker, Kaffeesatzleser und die Lohnschreiberlinge in den Wirtschaftsredaktionen gehören, sagen nur „Finanzkrise“ statt „Handelskrise“.

Bei Rieger geht es jetzt aber weiter mit dem gesunden Nerdempfinden:
Nach solchen technisch beförderten Umbrüchen entstanden neue ökonomische und soziale Strukturen. Jede Technologiewelle sorgte für einen Produktivitätsüberschuss.

Nun wären wir beim Thema: Was zum Henker ist ein „Produktivitätsüberschuss“, wissenschaftlich ausgedrückt, also nicht aus dem Bauch heraus? Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser ahnen, burksisch vorgebildet, dass es auf das ökononomische Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate hinausläuft, das exakt beschreibt, was dem Auf und Ab im Kapitalismus (in affirmativem Neusprech: „Konjunktur“) eigentümlich ist.

Ich rege mich über Dummheit schnell auf, besonders wenn sie vermeidbar ist – wenn es Bücher gibt, in denen man klare Anworten findet, die Leute aber zu faul und zu ignorant sind, ihren Kopf ein bisschen anzustrengen und das zur Kenntnis zu nehmen, was schon längst analysiert ist.

Ich werde also in Zukunft in loser Folge einen volkstümlichen Kurs über „Wirtschaft“ – aka Ökonomie – hier anbieten, und das Publikum kann das gleich auf mir herumhacken. Wir beginnen mit einem Crashkurs der drei Bände des Marxschen „Kapital„.

In den 70-er Jahren war ich mehrere Semester Tutor der Kapital-Kurse von Wolfgang Fritz Haug, und weil das sozusagen die Bundesliga der Marx-Exegese und ein Ritterschlag war, zudem auch noch privat kostenlose Kurse gegeben. Meine „Kapital“-Ausgabe sieht dementsprechend aus (vgl. oben), Hey, Leute, manche Dinge muss man lerneN: Ein Schwein zu zerteilen, ein Schwert zu schmieden oder auch zu verstehen, was „Wert“, „Ware“, „Preis“ und „Profit“ wirklich sind.

Diese Lesekreise gibt es offenbar heute auch noch; aber es graut mir vor denjenigen, die sie anbieten: Das reicht ein bisschen streng nach Politsekten. Da burks.de garantiert sektenfrei ist, sei dem Publikum versichert, dass es hier um Ökonomie gehen soll und nicht um Ideen des 19. Jahrhundert („Diktatur des Proletariat“), die aus der damaligen Zeit zu verstehen sind und in die Tonne getreten gehören.

Ausblick: Was war noch mal gleich der „Fetischcharakter“ der Ware? „Im Kapitalismus würden den Waren, dem Geld und schließlich dem Kapital Eigenschaften zugeschrieben, die diese in Wahrheit nicht haben,“ steht bei Wikidings. Das, was über Wirtschaft gedacht wird, ähnelt dem Abergauben der Religionen, ist also nicht wahr, sondern Unfug. Und das ist zwangsweise so: Die Mehrheit der Leute kann gar nicht anders, aus historischen Gründen, genausowenig wie ein Bauer im alten Ägypten verstanden hätte, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Die Menschen waren damals nicht blöder, aber der Stand der Produktivkräfte machte es ihnen unmöglich… undsoweiter: Fernrohr, Mikroskop, Mathematik, Physik, ihr wisst, was ich meine. Demnächst mehr in diesem Theater.

image_pdfimage_print

← Next entries