Rejecting inappropriate request [Update]

lupe fuentes chatgpt
/imagine –q 1 lupe fuentes undressed smiling sitting chair Berlin

Ich habe ein bisschen auf meinem Discord-Kanal bzw. Midjourney herumgespielt (ja, ich habe einen bezahlten Account). Es ist wie mit den Robotern in den Romanen Stanislaw Lems: Die KI macht, was man ihr einprogrammiert, aber das ist so doof wie der Einprogrammierer.

Bei Lupe Fuentes, von der ich annahm, dass ChatPGT rund eine Milliarde Vorlagen fände, sehe ich bei dem Ergebnis nicht viel, und auch das „undressed“ müssen wir noch üben.

Aber vermutlich fällt das unter rejecting inappropriate request. Auch eine Nazi-Demo konnte ich nicht erzeugen, es wurde gleich nach einer künstlichen ZensurModerationsinstanz gerufen, bis jetzt ohne Ergebnis. Ist also so wie bei Fratzenbuch. Ich habe dennoch einen gewissen anarchistischen sportlichen Ehrgeiz, das unterlaufen zu können.

arabic style
/imagine secondlife sim arabic style tahari roleplay

Künstliches erzeugt etwas Künstliches. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, obwohl es langweilig ist. Das liegt an meiner ebenso langweiligen Boolschen Algebra (nennt man das dort auch so?).

holzwickede
/imagine aerial photo holzwickede town vintage style north rhine westphalia

Vermutlich ist mein Heimatdorf (oder ist es ein Städtchen?) irrelevant – das Ergebnis ist ein absoluter Reinfall. So sah und sieht es dort nicht aus. Es wäre interessant zu erfahren, ob und wie kommerzielle Fotoanbieter wie Alamy oder Getty Images den Zugriff der KI auf ihre Bilder verweigern können, obwohl Thumbnails zugänglich sind.

dampflok
/imagine railway line Guayaquil Duran steam locomotive ecuador

Verständlich, dass eine schöne Dampflok schnell gemacht werden kann. Aber wo ist Ecuador? Vermutlich soll das durch die Palmen und das wuchernde Grünzeug suggeriert werden. Es sieht auch so aus, als führe der Zug gerade von einem Abstellgleis los. Ich müsste mir eine intelligentere Eingabe ausdenken und bessere Parameter, von denen schon der Terminator sprach.

alien device
/imagine Blueprint manuscript of a Alien device, schematic, marginalia, alien, heavy shading ::1, Colored, hyperrealism ::0.5

Das alien device stammt nicht von mir. Man muss also von anderen lernen, was einzugeben wäre, um interessant und ästhetisch ansprechende Ergebnisse zu bekommen – wie unten.

Hinweis: Ich vermute, dass alle freischaffenden Maler und Künstler durch KI allzubald in den Bankrott getrieben werden.

alien device
/imagine The beautiful woman from faerie fantasy, in the style of fantasy, celebrity – portraits, sterling silver highlights, epic fantasy scenes, realistic portrait, hyperrealistic, made of liquid metal, stark realism, 8k

[Update] Man kann sich auch künstlich anschnauzen lassen.

Fünf wie Hundert [Update]

rote armee fraktion

Irritiert waren Bundesregierung, Bundesanwaltschaft und BKA, als das Allensbacher Meinungsforschungsinstitut, dessen Leitung der CDU nahestand, 1971 die Ergebnisse einer Meinungsumfrage »Baader-Meinhof: Verbrecher oder Helden?« veröffentlichte. 82 Prozent kannten die Gruppe. 18 Prozent von 1000 Befragten sagten, die RAF handle »auch heute noch vor allem aus politischer Überzeugung«. 31 Prozent hatten keine Meinung. Jeder vierte Befragte unter 30 Jahren hatte »gewisse Sympathien« für die RAF. Jeder zehnte Norddeutsche war bereit, ein Mitglied der Gruppe zu beherbergen, das Gleiche galt für jeden 20. Bundesbürger. Allensbach stellte ein »schwieriges sozialpsychologisches Klima für die Fahndung der Polizei« fest. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sorgte sich: »Fünf Prozent wirken hier wie hundert Prozent.« (Aus: Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biografie.)

Update: Ich wollte mir gerade zum besseren Lesen Oliver Tolmeins „RAF – Das war für uns Befreiung“- Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke“ herunterladen. Der Text ist auf der Website Tolmeins merkwürdigerweise nicht mehr vorhanden. Das erinnerte mich daran, dass ich schon lange HTTrack installieren wollte.

Bleierne Zeiten

meinhof Im Publikum kam die Frage auf, ob es sich lohne, eine Biografie über Ulrike Meinhof zu lesen, hier geschrieben von Jutta Ditfurth. Ja.

Die meisten Bundesbürger waren gegen die Wiederbewaffnung und wollten selbst dann keine Uniform mehr tragen, wenn eine »kommunistische Invasion« drohte. Es gab eine breite »Ohne uns«-Bewegung, die sich aus Menschen unterschiedlicher Wekanschauung zusammensetzte. Die Furcht vor einem dritten Weltkrieg war groß. Der Adenauer-Staat reagierte repressiv und verbot die Freie Deutsche Jugend (FDJ), die Jugendorganisation der KPD, die mit den sozialistischen Falken, der Gewerkschaftsjugend und christlichen Jugendverbänden spektakuläre antimilitanische Aktionen veranstaltet hatte. UUnter anderem hatten sie Anfang 1951 die Insel Helgoland besetzt, um die britischen Alliierten, die die Insel als Testgelände benutzten, zu zwingen, ihre Bombenabwürfe einzustellen.

Ich habe die anderen Bücher über die Meinhof nicht gelesen und werde das auch nicht tun. Hier repräsentiert die „Heldin“ und deren Biografie eine ganze Zeitspanne. Ich kenne kein besseres Buch über alte Bundesrepublik und die 50-er und 60-Jahre. Meinhof steht für die politische Sozialisation der Generation vor meiner – damals reichten schon zehn Jahre Altersunterschied, und man dachte politisch ganz anders. Ditfurths Biografie ist ein Standardwerk wie Stefan Heyms Nachruf: Man erfährt alles, was man wissen sollte über eine „Epoche“. Heyms Autobiografie ist aber glänzend und spannend geschrieben; Ditfurths Buch eher trocken-dokumentarisch – wen das Thema nicht interessiert, wird es schnell aus der Hand legen.

Für Unruhe sorgten bei konservativen Regierungsmitgliedern auch die – sogar in Großbetrieben — ziemlich populären »Ausschüsse für Volksbefragung«, die ebenfalls gegen die Wiederbewaffnung waren und deren Hauptausschuss sich aus Funktionären der CDU, der SPD, der KPD sowie aus ehemaligen Offizieren zusammensetzte. Bald ließ das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen überall Plakate anbringen mit der Aufschrift: »Wer an der kommunistischen Volksbefragung teilnimmt, gefährdet den Frieden und stellt sich in den Dienst des Bolschewismus!« Ausgerechnet Sozialdemokraten forderten als Erste ein Verbot der Volksbefragung, Erfolgreich. Mehr als 7000 Aktivisten wurden verhaftet (…)

Mit immer größerer Härte gingen Politik und Polizei jetzt auch gegen Demonstrationen vor: Alles, was oppositionell war, galt als »kommunistisch«…

Wenn man sich die heutige einförmige Berichterstattung in den Medien anschaut, wird man das Gefühl nicht los, dass die herrschenden Klassen die gesamte Nachkriegsgeschichte noch einmal in ihrem Sinne umschreiben wollen. Gegen den Krieg? Nein, wir müssen uns bewaffnen. Der Russe steht bekanntlich vor der Tür. „Pazifismus“ ist mittlerweile schon gesellschaftlich geächtet – wie in den 50-er Jahren. Nur dass heute das Verdikt „Querdenker“ droht, was nur noch durch „Nazi“ zu toppen ist.

Im September 1960 geriet konkret dann richtig unter Druck. Auf der Heftrückseite war das Gedicht »Nato unser« von Gerd Schulte veröffentlicht worden, was die Hamburger Staatsanwaltschaft zum Anlass nahm, gegen die Zeitschrift wegen »Gotteslästerung« zu ermitteln: »Nato unser, / […] dein Manöver geschehe / [..] Unsern täglichen Atomversuch / gib uns heute und vergib / den bösen Kommunisten keine Schuld, / […] führe uns ständig in / Versuchung, bis wir den Kanal / restlos voll haben, / denn du bist / für die Reichen / […] und die Konzernherren /[…] Amen.«

Auch die DDR wird heute unter „Putin“ eingetütet. Natürlich war der erste Versuch, einen sozialistischen Staat auf deutschem Boden zu erreichten, unter den damaligen Voraussetzungen schon gescheitert, bevor es losging – mit dem Personal und mit einer „Schutzmacht“, ohne die alles gleich zusammengefallen wäre. Nichts kam „von unten“, wie schon die – im Gegensatz zu Frankreich – gar nicht stattgefundene bürgerliche Revolution. Alles wurde von oben von beschränkten Spießern und Funktionären verordnet. Vergleicht man die DDR jedoch mit der BRD und deren Personal, war jene eindeutig das bessere Deutschland.

Albert Norden, Mitglied des Politbüros der SED, betreute de, Aufbau der Deutschen Friedensunion (DFU). Norden, Sohn eines von den Nazis ermordeten Oberrabbiners, war vor 1933 Redakteur der Roten Fahne. Er floh nach Paris, arbeitete am legendären Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror mit – ein Versuch, die Welt über den deutschen Faschismus aufzuklären -, wurde Sekretär des von Heinrich Mann gegründeten »Aktionsausschusses deutscher Oppositioneller«, floh erneut um die halbe Welt und überlebte in New York als Fabrikarbeiter.

Mich würde interessieren, ob von den voll bekloppten Klimaklebern jemand auch nur einen der erwähnten Namen kennt? Vermutlich wissen die noch nicht einmal, wer Adenauer war. Ich würde sie eher über Auschwitz befragen wollen…

Friedrich Karl Kaul, im Westen »Staranwalt der SED« genannt, stammte aus einer großbürgerlichen, jüdischen Familie und hatte nach der Flucht aus einem Konzentrationslager in der Emigrtion überlebt. Da er 1949 am Westberliner Kammergericht als Anwalt zugelassen worden war, konnte er auch in der Bundesrepublik tätig sein, wo er viele KPD- und FDJ-Mitglieder vor Gericht verteidigte. Jahrelang versuchte die Bundesrepublik vergeblich, ihm auf Dauer die Zulassung zu entziehen. Unter anderen beschaffte Kaul dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer Dokumente für den Auschwitz-Prozess.

Erbsensuppe an [bitte selbst ausfüllen]

erbsensuppe

Welche Lektüre passt am besten zur selbstgemachten Erbsensuppe?

1967 und danach

1967Ich lese gerade das hervorragende Buch Tom Segevs „1967: Israels zweite Geburt“ (2005).

Sehr interessant, dass alle Fragen, die heute in Israel diskutiert werden, schon damals aktuell waren, also vor dem Sechstagekrieg, der dazu führte, dass Israel sein Staatsgebiet erheblich vergrößerte, einschließlich Judäa und Samaria, der Golan-Höhen und ganz Jerusalem. Ich dokumentiere eineinhalb Buchseiten über ein Memorandum, das damals estellt wurde.

Das College hatte eine Studie über die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Westjordanlands und die Auswirkungen einer Besetzung auf die israelische Wirtschaft in Auftrag gegeben. Ihr Verfasser Zvi Zussman gelangte zu dem Schluss, dass Israel es wirtschaftlich durchaus verkraften könne, die Westbank zu besetzen und zu annektieren.

Peled brachte in diesem Zusammenhang allerdings einen Begriff ins Spiel, der aus der Mode gekommen war: In diesem Fall, so sein Einwand, werde sich »der Jischuv« — eine alte Bezeichnung für die jüdische Gemeinschaft vor der Staatsbildung in Palästina — die anspruchsvol.leren Berufe sichern, während sich die arabischen Arbeiter zwangsläufig auf die »körperlichen Tätigkeiten« würden beschränken müssen, eine Trennung, die wirtschaftliche wie soziale Probleme aufwerfen würde.

Ausführlich ging Peled außerdem auf die demographische Bedeutung des Westjordanlands ein. Die arabische Bevölkerung werde spätestens 2050 mit dem jüdischen Bevölkerungsanteil gleichziehen, wahrscheinlich aber schon 2035 und in einigen Gebieten noch früher. Er ging davon aus, dass Israel die arabischen Bewohner der Westbank nicht deportieren würde und ihnen auch ihre Bürgerrechte nicht würde vorenthalten können. Das laufe auf einen Block von vierzig bis fünfzig arabischen Abgeordneten in der Knesset hinaus. Die Araber würden zur zweitgrößten, vielleicht sogar zur größten Gruppe im Parlament werden. Israel würde sich mit einer großen Zahl arabischer Minister abfinden und mindestens einem von ihnen ein »wichtiges« Ressort mit großem Budget anvertrauen müssen. Auch einige Botschafterposten würde man an Bewohner des Westjordanlands vergeben müssen, denn »solche Positionen kann man nicht auf immer und ewig nur den eigenen Leuten vorbehalten«.

Einige jüdische Gruppen würden den Arabern diese Rechte vielleicht zu nehmen versuchen, die daraufhin eine Revolte anzetteln und dadurch die jüdische Mehrheit zwingen könnten, mit einer Politik der eisernen Faust zu reagieren, unter Einschluss von Restriktionen und der Schaffung spezieller Ansiedlungsrayons. So drohten sich Rassismus und Unterdrückung zu entwickeln, die »wir als Volk und als Juden verabscheuen und die unseren Staat in ein zweifelhaftes Licht setzen und auf der internationalen Bühne in eine schwierige Lage bringen würden«. Der Begriff »Ansiedlungsrayon« spielte auf die Beschränkungen der Niederlassungs- und Bewegungsfreiheit an, die den russischen Juden unter der Zarenherrschaft auferlegt worden waren.

In der arabischen Bevölkerung würden vermutlich Oppositionsbewegungen entstehen, fuhr Peled fort, und Israel würde Maßnahmen ergreifen, die für einen »Polizeistaat« charakteristisch seien. Wenn die Araber nicht in der israelischen Armee dienen müssten, würde sich die arabische Jugend zum harten Kern einer nationalen Befreiungsbewegung entwickeln. Gebiete mit hoher arabischer Bevölkerungskonzentration könnten zu Stützpunkten für Terroristen werden.

Da man den Arabern Bildungseinrichtungen zur Verfügung würde stellen müssen, werde innerhalb kurzer Zeit eine gut ausgebildete Schicht von Arabern heranwachsen, die mit den Juden um die anspruchsvoljen Jobs in Konkurrenz träte. Die Trennung zwischen Juden und Arabern werde sich auf Dauer nicht aufrechterhalten lassen. Araber würden in die groBen Städte an der Küste ziehen, und in den Vororten würden arabische Elendsviertel entstehen. Die dadurch erwachsenden sozialen Probleme erforderten hohe öffentliche Ausgaben. Zudem würden die Araber die Lebensweise jener Israelis beeinflussen, die eine ähnliche kulturelle Herkunft besaßen, insbesondere der Misrachim, der orientalischen Juden. Auch zu Eheschließungen zwıschen Angehörigen der beiden Gruppen werde es kommen, warnte Peled.

Das Kreuz mit der Sucht III

Der Zwang zur Heilung

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Die Theorie der «Suchttherapie» hat eine ähnliche Entwicklung durchgemacht wie die staatlichen Maßnahmen gegen Rauschmittel: Sie hat ihren Geltungsbereich immer weiter ausgedehnt. Das ursprüngliche Problem geriet dabei zunehmend aus dem Blickfeld: Nicht der Missbrauch von Drogen muss bekämpft werden, sondern das angeblich sozial auffällige Verhalten der Süchtigen.

therapy

Da es den Medizinern und Therapeuten nicht gelingt, des «Problems» Herr zu werden, verlagern sich auch ihre Anstrengungen: Dem «Suchtcharakter» der Opiatabhängigen kommt man nicht so leicht bei, und deshalb muss man mit «sanfter» Gewalt nachhelfen, um die Einsicht des Drogen-Konsumenten in sein «Problem» zu fördern.

Nachdem Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Fälle von «Morphinismus» (1) beschrieben wurden, dauerte es nicht lange, bis die Therapeuten auf den Plan traten. Ein Handbuch der Psychiatrie aus dem Jahre 1912 beschreibt das, was auch heute noch in manchen Drogentherapien gültig ist: «Die Energie zur Selbstentwöhnung besitzen nur wenige Morphinisten, meist ist Zwang nötig; selbst wenn die Kranken ihr Einverständnis für die Einleitung der Entziehungskur gegeben haben, suchen sie sich häufig, sobald die Beschwerden der Abstinenzperiode einsetzen, zu entziehen.» Deshalb empfiehlt man: «Bei Aufnahme in die Anstalt ist, vor allem bei uneinsichtigen, widerstrebenden Kranken, genaue körperliche Visitation nach mitgebrachten Morphiumvorräten erforderlich; sie hat sich gegebenenfalls auch auf die Körperöffnungen zu erstrecken.» (2) Für die Kranken sei «eine solche strenge Beaufsichtigung ein Halt und eine Stütze» in «ihrem» Kampf gegen den Rückfall. Während die ersten Vertreter der therapeutischen Zunft noch zwischen «willigen» und «unbehandelbaren» Drogen-Konsumenten unterscheiden, setzt sich in wenigen Jahrzehnten die auch heute noch von den meisten Ärzten und Therapeuten gebilligte Meinung fest, gegen «Sucht» helfe nur Zwang.

therapy

Seit knapp hundert Jahren hat sich offenbar nicht viel geändert. Die Theorien darüber, was als Ziel der Behandlungen von Opiatabhängigen erreicht werden soll und wie das zu geschehen habe, sind vage. Es werden nur Teilziele benannt. «Entwöhnung» meint den Prozess, die Droge abzusetzen, also den Entzug überhaupt erst einmal durchzuhalten. Die «Gewöhnung», von der man lassen soll, differenziert nicht zwischen der körperlichen Abhängigkeit und dem psychischen Verlangen, das auch nach dem Absetzen des Rauschmittels fortbesteht. Heute spricht man im engen Sinne von «Entgiftung»: Der Körper soll vom «Rauschgift» befreit werden, wobei «Gift» klammheimlich suggeriert, hierbei handele es sich um eine gefährliche und schädliche Substanz – was bei Opiaten zumindest fragwürdig ist.

Leider verhalten sich die Kranken uneinsichtig. Auch das ist gleich geblieben. Sie bringen nicht genug «Energie» auf. Um die Behandlung zu verlängern oder zu wiederholen, muss der Begriff «Sucht» herhalten. Die Abhängigkeit von einer Droge wird zu einem «strukturellen» Problem gemacht, das tief in der Psyche des Kranken verborgen sei. Das ständige Auf und Ab zwischen Entgiftung und Rückfall wird zu einer Selbstverständlichkeit, wobei das Ziel in immer weitere Ferne rückt. Der Kranke hat falsch gelebt und bringt nicht genug Energie auf, ein besseres Leben zu führen. Deshalb muss er «Leben neu lernen» (3). Das kann dauern und sichert die Arbeitsplätze der Therapeuten.

Die deutsche Therapie-Lobby geht mittlerweile schon so weit, dass sie die «Entwöhnung» bzw. Entgiftung anderen oder dem Patienten selbst überlässt. Voraussetzung, um einen Therapie-Platz zu ergattern, ist, dass der oder die Opiat-Abhängige «clean» ist. Eine absurde Umkehrung: Was das ursprüngliche Ziel war – sich der Droge zu «entwöhnen» —, wird jetzt zur Voraussetzung der Behandlung erklärt. Für so primitive und «einfache» Dinge wie den Entzug sind sich die hochspezialisierten Therapeuten und Psychologen zu schade. Erst wenn der uneinsichtige Kranke sich selbst in die Lage versetzt hat, von der Droge zu lassen – als Zeichen der Gutwilligkeit -, lässt man sich zu ihm herab, um ihn und seinen «Suchtcharakter» mit einer therapeutischen Maßnahme zu beglücken. «Es muss erst ohne Zutun der Drogentherapeuten ein Wunder geschehen: nämlich das Wunder der absoluten Drogenfreiheit, erst dann lässt man sich mit Exusern ein.» (4)

therapy

Diese merkwürdige, verdrehte Logik hat ihre Vorteile. Sowohl die orthodoxen Vertreter der Therapeuten-Lobby, die den «Suchtcharakter» für das Problem – die Uneinsichtigkeit der Kranken und deren mangelnde «Energie» – verantwortlich machen, haben ein Interesse daran als auch die liberalen «Suchtexperten», die die Gesellschaft als das Übel ansehen. In beiden Fällen kann man angesichts des Scheiterns des Bemühens von den eigenen Misserfolgen ablenken: Nach einem Rückfall ist entweder das Individuum (die narzisstische und therapieresistente Persönlichkeit) oder die soziale Misere (die den Abhängigen keine Perspektive gibt) schuld Drogensucht als «schwere psychische Erkrankung der ganzen Persönlichkeit» versus Drogenabhängigkeit «als Folge gesellschaftlichpolitischer Defizite».

Hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Die Abstinenz hat sich ja nur deshalb als Behandlungsziel in die Kette der therapeutischen Maßnahmen eingeschlichen, weil man ursprünglich davon ausging, das sei mit helfendem Zwang zu bewerkstelligen. Die Frage, ob Sucht nicht auch tolerierbar sei, vermeidet man. Man definiert die drogenfreie Persönlichkeit als «normal» und den Drogenkonsumenten als «krank», um das eigene Eingreifen rechtfertigen zu können. Ist die Krankheit «schwer» und betrifft sie den ganzen Menschen, suggeriert das eine Hilflosigkeit des Patienten, die den helfenden Zwang geradezu herausfordert. Ungeachtet, ob der Drogenkonsum als Ursache oder nur als ein Symptom einer «tieferliegenden Störung» angesehen wird: Wenn man das Ziel nur ernst genug nimmt, rechtfertigt das alle Mittel.

Auch das ist im Interesse des Selbstbildes der Suchttherapeuten. Die mehr psychoanalytisch orientierte Fraktion wird sich bei einem Therapie-Erfolg – der Patient macht einen Bogen um die Drogen – zugute halten, dass ihre Methode selbst schwerste Persönlichkeitsstörungen zugunsten eines «neuen» Menschen ummodellieren kann. Es gibt wohl keine «Krankheit», deren Behandlungserfolg so einfach zu kontrollieren ist: Wenn ein ehemals Heroinabhängiger den Stoff nicht mehr anrührt, gilt er als geheilt, ganz gleich, wie das erreicht wurde.

Und wenn sich in der Person des Drogen-Konsumenten partout nichts finden lässt, was ihn von dem «normalen» Rest der Bevölkerung unterscheidet, sind eben die Vorfahren — normalerweise die Eltern — schuld. Die «Schwere» der Krankheit ist für den Drogenkonsumenten eben deshalb so schwer zu durchschauen, weil sie in einer Phase seines Lebens begann, die er noch nicht bewusst erleben konnte. «Intakte» Familienverhältnisse schützen angeblich vor Drogenmissbrauch, wobei keiner der Drogen- und Suchtexperten es bisher gewagt hat, diese «intakten» Verhältnisse genauer zu beschreiben. Meistens bleibt es bei philosophischen Bemerkungen allgemeiner Art wie der des Synanon-Chefideologen Ingo Warnke,: «Glückliche Leute werden nicht süchtig.» (5)

therapy

Die liberale Fraktion der Therapeuten sonnt sich bei einem Erfolg in dem Gefühl, der bösen Gesellschaft ein Schnippchen geschlagen zu haben: Die Abstinenz des Patienten wird zum beinahe politischen Akt der Rebellion gegen die unzumutbare soziale Situation, die zum Drogenkonsum verführte. Der inadäquate Protest gegen die Gesellschaft – «gegen frustrierende Obrigkeit, gegen hierarchische Strukturen, gegen den Leistungsdruck, gegen Bevormundung… gegen Gebotskataloge der Konsumpflicht und damit Ausdruck des Unbehagens unserer Zeit… » (6) wird therapeutisch in die richtigen Bahnen gelenkt.

Der Therapeut macht sich zum heimlichen Komplizen des Patienten – ohne dessen Wissen -: Er gibt zu, dass die Gesellschaft besser sein könnte, als sie ist, und dass die Rebellion gerechtfertigt, nur dass Drogenkonsum eben die falsche Art des Protestes sei. «Ob man sich seine Gehirnwäsche nun durch süchtigen Konsum des TV- oder des LSD-Heimkinos durchführen lässt – das tatenlose zahme Lämmchen bleibt man allemal.» Fixen ist Opium fürs Volk. (7)

_________________________

(1) Roche-Lexikon Medizin, München/Wien/Baltimore 1998
(2) Zit. nach W. Burian/I. Eisenbach-Stangl (1980), S. 6
(3) So der ehemalige Berliner Landesdrogenbeauftragte Heckmann, zit. nach G. Grimm (1985), S. 43, Anm. 3
(4) F. Theyson/D. Spazier: Nowhere: Therapeutische Expedition in die Unwegsamkeit der Drogenszene, Frankfurt 1981, S. 189, zit. nach G. Grimm (1985), S. 43
(5) In: «Spandauer Volksblatt», 12.10. 75
(6) Zit. nach G. Grimm (1985), S. 71, Anm. 2
(7) E. Joite (1972), S. 27

Das Kreuz mit der Sucht II

Wider die Verwilderung der Sitten

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

«Sucht» kommt nicht von «suchen», sondern von «siech», was noch in der frühen Neuzeit synonym für alle möglichen Krankheiten gebraucht wurde. Die Trunksucht, gegen die schon Martin Luther wetterte, galt als Laster, war somit eine freiwillige Entscheidung.

sebastian franck

In den Moralpredigten gegen das «greüwliche laster der trunckenhayt», wie es im 16. Jahrhundert der Theologe und Drogenexperte Sebastian Franck nennt, ist die Nähe zur «Sünde» oder zur verwerflichen Leidenschaft zu spüren. Luther predigt gegen die Sitten des «satanischen Zeitalters», in dem selbst Kinder «destillierte und gebrannte Weine» zu sich nähmen. Es erscheinen Schriften mit Titeln wie «Wider den Saufftheuffel» (1552) oder, von einem Johann W. Petersen (1782): «Geschichte der deutschen Nationalneigung zum Trunke», in der der Autor missbilligend feststellt, schon die alten Germanen hätten sich – vom Rausch eingeschläfert – allzuoft überfallen und besiegen lassen. (1)

Erst im 19. Jahrhundert beginnen einige Ärzte, von der Trunksucht als «krankhaftem Zustand» zu sprechen, der nicht durch bloße moralische Ermahnungen zu heilen sei. Diese Vorstellung von «Krankheit» steht am Ende eines mehrere Jahrhunderte dauernden «Prozesses der Zivilisation», den der Soziologe Norbert Elias beschrieben hat: Der Mensch im beginnenden bürgerlichen Zeitalter nimmt sein Leben selbst in die Hand, er wird nicht, wie noch im Mittelalter, vom Schicksal heimgesucht, das er nicht beeinflussen kann. «Sucht», verstanden als Krankheit, beruht damit auf eigener Verantwortung, oder – diese Idee entwickelt sich parallel – es liegt an den Substanzen: Drogen an sich machen süchtig.

Johann W. Petersen

Im neuzeitlichen Mitteleuropa ist der Konsum von Drogen nicht, wie im Orient, in das soziale Leben integriert, er wird vom herrschenden Tugendkanon als abschreckendes Beispiel definiert, wie man es nicht machen soll. Selbstkontrolle und -disziplin gelten als unabdingbar für die Stabilität der sozialen Ordnung. Wer sich gehenlässt und dem Rausch frönt, kann seine Arbeitskraft nicht mehr eigenverantwortlich auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat die These aufgestellt, die Irrenanstalten – Vorläufer der heutigen psychiatrischen und Nervenkliniken -, die es erst in der modernen Gesellschaft gibt, hätten zur Wiederherstellung der «kollektiven Selbstdisziplin» gedient. Die Gesellschaft erklärt einige Verhaltensweisen für «normal» und «nützlich», andere für verwerflich und krank. Vor diesen muss man sich schützen, indem man die Betreffenden, die sich uneinsichtig verweigern, wegsperrt.

Diese Ideen waren doppelt sinnvoll: Zum einen entlasteten sie die «Süchtigen». Die Alkohol- und später die Morphin-Konsumenten konnten ihr von der etablierten Norm abweichendes Verhalten als «Zwang» erklären, der irgendwo in ihrem Inneren hauste und den sie nicht ohne fremde Hilfe zu bekämpfen in der Lage waren. Der Ausschluss aus der Gesellschaft als «Süchtiger» bedeutete gleichzeitig die Wiedereingliederung «als Kranker», um den man sich zu kümmern und den man zu rehabilitieren hatte.

Zum anderen war die Idee einer «Sucht» eine Erklärung für diejenigen Schichten der Bevölkerung, die ihr abweichendes und unerwünschtes Begehren ständig in Schach halten mußten: Wenn man die soziale Sicherung nicht schaffte, lag das an «dunklen Trieben», die man noch nicht unter Kontrolle gebracht hatte, am «krankhaften» Verlangen, das soziale Elend mit Drogen zu betäuben.

William Hogarth
William Hogarth: Beer Street (1751)

Philanthropen und bürgerliche Abstinenzapostel erklären Kriminalität und Verelendung als Folge der moralischen Zerrüttung durch den Rauschgiftkonsum und die «Sucht». Nicht der kontrollierte Umgang wird gefordert, sondern der Verzicht. Gerade in Deutschland und in den puritanisch geprägten USA fällt diese Idee auf fruchtbaren Boden. Da das Leben ohnehin ein Jammertal ist, wäre der Rausch, der zumindest zeitweilig «Abhilfe» schafft, geradezu eine Verhöhnung der sittlichen Grundlagen. Jegliche Erinnerung an mögliche mentale Erfahrungen, die den mühsam erarbeiteten eigenen Verhaltenskodex in Frage stellen, soll getilgt werden. Nicht zufällig wettern heute ehemalige Theologen, die durch politische Wirrungen in verantwortliche Posten in der Drogenpolitik katapultiert wurden, gegen den «Hedonismus», der drohe, wenn man im Krieg gegen die Drogen nur ein wenig nachlasse.

Diese Vorstellung von Sucht hat fatale Folgen. Ihre Definition beruht letztlich auf ethischen und moralischen Leitsätzen, die in einer bestimmten Gesellschaft — und nur in einer — relativ sinnvoll sind. Niemand weiß, warum Wasserbüffel manchmal Mohnkapseln schlucken und danach orientierungslos herumtorkeln, warum Elefanten alkoholisch vergorene Früchte verzehren und regelrecht «ausflippen», warum Katzen wild auf Katzenminze sind, Schafe sich vorsätzlich mit Narrenkraut bedröhnen oder Rhesusaffen, wenn sie die Auswahl haben, Kokain bevorzugen und Heroin verschmähen.

William Hogarth
William Hogarth: Gin Lane (1751)

Die Sucht, der exzessive Konsum von Rauschdrogen, soll beim Menschen jedoch eine Krankheit sein. Man verweigert ihm die Droge, und ist das nicht konsequent möglich, wird er selbst so isoliert, dass er nicht an sie herankommt. Nicht der mögliche Schaden für das Individuum ist relevant, sondern der «Schaden» für die Gesellschaft. Der besteht darin, daß die zwar nie reale, aber dafür um so mehr befürchtete massenhafte Verweigerung der «nützlichen» Tätigkeiten, eben der Arbeit, das System als solches in Frage stellen könnte. Das ist aber ein politisches, kein medizinisches Problem.

«Sucht» als Phänomen, das sowohl repressive staatliche Maßnahmen nach sich ziehen muss als auch nach therapeutischem Bemühen verlangt, taucht erst dann auf, wenn sich die Süchtigen als soziale Randgruppe und/oder als subversive Subkultur im Bild der Öffentlichkeit etabliert haben. Das hat mit der Realität wenig zu tun, sondern dient den jeweiligen Interessen, das Verhältnis des Bürgers zum Staat zu definieren. Die Vorstellung von «Sucht» als Krankheit ist untrennbar verbunden mit der Unterdrückung von unerwünschtem Verhalten und von Minderheiten.

Jacob Riis
Jacob Riis: Street children in „sleeping quarters“ (1890). From the Library of Congress.

Noch im 19. Jahrhundert galten die Morphin-Süchtigen im Gegensatz zu Alkoholikern nicht als gesellschaftliche Problemfälle. Ihre «Motivation», von Opiaten nicht lassen zu können, war ehrenhaft. Sebastian Scheerer fasst den Konsens der damals herrschenden Moralvorstellung über Morphinsucht so zusammen: «Respektabel war die Suchtursache, weil am Beginn der Abhängigkeit zumeist nicht die hedonistische Motivation des späteren Süchtigen, sondern die therapeutische Notwendigkeit bei Operationen von Kriegsverletzungen stand. Konform mit den Normen und Werten der Gesellschaft war der Süchtige im Gegensatz zu seinen ‘Nachfolgern’ in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, weil sein Konsumverhalten weder Protest gegen anerkannte Werte oder Normen noch den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben symbolisierte. Weder war das Suchtverhalten in diesem Sinne als Innovation, Revolte oder Rückzug von den Konsumenten gemeint, noch wurden ihm diese Bedeutungen im Sozialprozess zugeschrieben. Der durch ärztliche Behandlung erzeugte (iatrogene) Morphiumhunger wurde nicht als feindseliger Angriff auf die normative Verfassung der Gesellschaft, sondern als bemitleidenswerte Krankheit definiert.» Der Konsument «enttäuscht» zwar die Verhaltenserwartungen seiner Umwelt, «indem er entgegen der Konvention zu Substanzen griff, die eine besondere Wirkung auf das Zentralnervensystem und damit den geistig-seelischen Zustand des Menschen haben. Trotz dieser Verletzung informeller Normen stellte er jedoch deren generelle Gültigkeit nicht in Frage.»

morphin addicts
Albert Besnard: Morphine Addicts (Morphinomanes), 1887

Dieser akzeptierende Umgang mit der Opiatsucht beginnt sich erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu ändern. Das erste deutsche Opiumgesetz vom 30.12.1920 [gemeint ist das Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens vom 23. Januar 1912 vom 30. Dezember 1920 (RGBl. 1921 S. 2)] verbietet Rauchopium, stellt aber den nichtmedizinischen Gebrauch unter nur milde Strafandrohung. Über Heroin sagt es gar nichts.

Das hatte seine Gründe: Schon 1909 in Schanghai und 1912 in Den Haag hatten internationale Konferenzen – auf Drängen der USA – stattgefunden. Das Thema war vor allem der schwungvolle englische Opiumhandel mit China, der eine hundertjährige Tradition und sogar zu zwei Kriegen geführt hatte. Vor allem die US-amerikanische Regierung versuchte die Rauchopium-Exporte der Engländer zu verhindern. Diese jedoch hatten in Den Haag geschickt den Schwarzen Peter den deutschen Firmen zugeschoben – den größten industriellen Drogenproduzenten der Welt und Marktführern für Morphin, Heroin, Kokain und Codein. Wenn der englische Opiumhandel strengen Kontrollen unterworfen werden sollte, dann auch der der Deutschen. Die aber weigerten sich, irgendwelche Verpflichtungen zu unterschreiben. Dazu wurden sie erst nach dem Ersten Weltkrieg gezwungen. Die Siegermächte fügten einen Passus in den Versailler Vertrag ein, der an die fehlende Unterschrift unter die Opiumkonvention von Den Haag erinnerte.

opiumabkommen 1925
Gesetz über das internationale Opiumabkommen vom 19. Februar 1925 (Deutschland, 1929)

1929 wird das deutsche Opiumgesetz geändert. Es verbietet jetzt Rauchopium, Haschisch und Marihuana, aber immer noch nicht Heroin. Die Verbote fruchten jedoch nicht. Wenn die Süchtigen keinen Arzt finden, der ihnen Opium-Präparate verordnet, weichen sie auf Ersatzstoffe aus – wie heute auf Benzodiazepine oder Codein. Selbst die schärferen Gesetze der folgenden Jahre helfen wenig. Die Propaganda der Rauschmittel-Gegner wendet sich daher weniger gegen die Drogen selbst, sondern gegen die Unfähigkeit des Staates, seinen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Die Süchtigen findet man angeblich in der Halb- und Unterwelt, unter so windigen Gestalten wie «Kellnern, Garderobenangestellten, Kaffeehausmusikern, Chauffeuren, der weiblichen wie der männlichen Prostitution».

Man fordert das ausnahmslose Verbot aller Substanzen, «die eine Euphorie zu erzeugen vermögen», um «die Überflutung unseres Volkes mit Opiaten und Kokainpräparaten zu verhindern». «Ahnungslose Mädchen», schreiben die Zeitungen, werden «nach Verabfolgung von Betäubungsmitteln durch Mädchenhändler den Freudenhäusern zugebracht.» Die Süchtigen werden in den Medien als schützenswerte Gruppe dargestellt, die gleichzeitig als potentielle Klientel des staatlichen Zugriffs erscheint. Scheerer: «Das Bestreben, die Konsumenten in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse einzugrenzen und sozial sichtbar zu machen, erforderte von der Mitte der zwanziger Jahre an eine bis heute andauernde Ausdehnung des sachlichen und personalen Geltungsbereichs der Betäubungsmittelgesetze, die natürlich immer weitere Verdrängungseffekte hervorbrachte und damit die jeweils neue Ausdehnung rechtfertigte…»“

Die Produzenten, die Alkaloid-Industrie, bleiben von den repressiven Maßnahmen verschont. Ganz im Gegenteil: die Branche erlebt einen ungeahnten Aufschwung. Nicht nur der Export boomt. Im Wettlauf mit der ersten deutschen «Drogenszene» der zwanziger Jahre, die auf immer neue Ersatzstoffe ausweicht, bringt sie eine Unzahl von pharmazeutischen Präparaten auf den Markt, die in der Mehrheit genauso wie Opiate abhängig machen.

alkoholismus
Mitteilungsblatt Ausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus, aus Bestand: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland Boppard

Die Propaganda der Abstinenzbewegung und die gleichzeitige Verschärfung der polizeilichen Repression gehen nahtlos in die Zeit des Nationalsozialismus über. Nur die Zielrichtung ändert sich. Die Anti-Drogen-Kampagnen werden in den Dienst der «Rassenhygiene» gestellt. Schon im ersten Jahr der Nazi-Herrschaft regeln das «Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses» und das «Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung» eine genaue Erfassung und Kontrolle der Süchtigen.

Die Abstinenzlerverbände verpflichten sich, die «erblich schwer Belasteten» zwecks Sterilisation an die staatlichen Organe zu melden. Publikationen der «Evangelischen Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Alkoholnot» fordern in vorauseilendem Gehorsam, «das Überwuchern der Erbkranken und Unterwertigen durch Ausschaltung ihres Nachwuchses möglichst einzudämmen».

genußgifte leistung rasse
Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren Berlin-Dahlem. Von Prof.Dr. H. Reiter / Berlin (Präsident des Reichsgesundheitsamtes) und Dr. Günther Hecht (Rassenpolitisches Amt der NSDAP, Reichsleitung Berlin) (1940)

Zuständig für die Bekämpfung der Opiate ist die «Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren» in Berlin-Dahlem unter Führung des «Reichsgesundheitsführers» Conti. Der Dachverband «Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauschgiftbekämpfung» (3) fordert die Selektion der «erbbiologisch Minderwertigen». Genussgifte, so Prof. Dr. H. Reiter, Präsident des Reichsgesundheitsamtes, verminderten die Leistung und schadeten der Rasse. Das «Rassenpolitische Amt der NSDAP» macht die Juden für den Handel mit Drogen, vor allem mit Tabak und Alkohol, verantwortlich.

Der SS- und Polizeichef Heinrich Himmler schreibt am 5.12.1937: «Kein Deutscher hat daher das Recht, die Kraft seines Körpers und Geistes durch Alkoholmißbrauch zu schwächen. Er schädigt damit nicht nur sich, sondern seine Familie und vor allem sein Volk.» Nicht die pharmazeutische Industrie, sondern die «ausländischen» Drogendealer verkörpern das Böse schlechthin, sie sind die Verführer. Die Juden sind schuld, nicht nur am Handel mit Opiaten, sondern mit Drogen überhaupt: dank ihrer «besonderen Begabung des raffinierten Beobachtenkönnens», wodurch «der Jude seine Alkoholpropaganda sehr geschickt dem deutschen Grundcharakter anzupassen» versteht. (4)

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(1) Vgl. M. Kreutel (1987), S. 53 ff
(2) S. Scheerer (1982), S. 51, ebd., S. 55
(3) Diesem Dachverband schlössen sich die meisten kirchlichen, überwiegend protestantischen Verbände an, die den Kampf gegen Drogen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Ein Ideologe der Abstinenz-Bewegung, Dr. Theo Gläß, der sich in der Nazi-Zeit um die «Rassen-Hygiene» kümmert, wird nach dem Krieg Präsident der «Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren» (DHSTilman Holzer: Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene – Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972, 2007]
(4) Zit. nach einer Schrift des «Rassenpolitischen Amtes der NSDAP»

Das Kreuz mit der Sucht I

Drogen und Sucht

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Die Fragen, was Sucht sei, woher sie kommt und wie sie zu bewerten sei, führt auf ein schwieriges, kaum überschaubares Gelände. Der biblische Pontius Pilatus wusste angesichts eines ähnlich vertrackten Problems nur zu entgegnen: «Was ist Wahrheit?» Da niemand sich anmaßen konnte, eine angemessene Antwort zu geben, tat der römische Statthalter etwas, das entfernt an die Praxis der heutigen Suchtexperten und Drogenberater erinnert: Er wusch seine Hände in Unschuld. Niemand weiß Bescheid, deshalb können wir alle fortfahren wie bisher.

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Alle Bilder erzeugt von Playground AI

Von den zwei Dutzend international erscheinenden Fachzeitschriften zum Thema «Abhängigkeit» kommt nicht eine einzige in Deutschland heraus. «Ein Armutszeugnis», urteilt Michael de Ridder, ein Biologe und Arzt, «das dokumentiert, in welchem Ausmaß die Medizin in Deutschland das Feld der Prävention und Behandlung der Drogenabhängigkeit ordnungspolitischen Scheinlösungsversuchen überlassen hat.» (1)

Oder sind die Experten in Deutschland bescheidener als ihre internationalen Kollegen und Kolleginnen? Haben sie erkannt, dass die Frage nicht zu beantworten, vielleicht sogar falsch gestellt ist? De Ridder behauptet nämlich, dass es trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nicht gelungen sei, «spezifische Persönlichkeitsmerkmale oder Umgebungseinflüsse ausfindig zu machen, die zum Opiatgebrauch prädestinieren. Die Frage, was einen Menschen zum Heroingebrauch treibt, ist letztlich ebenso unbeantwortbar wie die Frage, warum jemand beginnt, Alkohol zu trinken oder auf Berge zu steigen.»

Nein, der schwankende Boden, auf dem alle Theorien über Sucht stehen, führt bei den «Experten» nicht zur inneren Einkehr oder zur demütigen Selbstbescheidung. Ganz im Gegenteil. Selbst manche Drogenberater, die von Opiat-Antagonisten, vom «maturing out», vom «Britischen Modell» der Heroin-Vergabe noch nie etwas gehört haben, antworten auf die Frage, warum jemand heroinabhängig werde, lässig mit «erstens, zweitens, drittens». (2)

Ingo Warnke, der Synanon-Chefideologe, maßt sich sogar an, in der Synanon-Zeitschrift «Suchtreport», die sich im Untertitel, nicht ganz angemessen, «Europäische Fachzeitschrift für Suchtprobleme» nennt, für alle zu sprechen: «Wir Süchtigen». «Die Süchtigen» hätten offenbar nicht «mehr das Zeug», ohne Sozialhelfer zurechtzukommen. Sie forderten immer nur von der Gesellschaft «wie die Kinder vom Weihnachtsmann», wollten aber ihr eigenes Sein nicht verantworten. (3) Wenn man aber noch nicht einmal weiß, was Sucht ist, wie kann man sich dann starke Worte über «die Süchtigen» erlauben?

Im alltäglichen Sprachgebrauch steht «Sucht» häufig für einen unwiderstehlichen Zwang, etwas nicht lassen zu können. Woher der kommt, braucht nicht benannt zu werden. Man kann nach etwas süchtig sein – in dieser sprachlichen Variante steht die für ihr Verlangen verantwortliche Person im Vordergrund; man kann von etwas abhängig sein – damit wird der ursächliche Zwang der Substanz zugeordnet. Gerade bei der bekanntesten Sucht, dem Alkoholismus, kann niemand zwischen den beiden Möglichkeiten klar entscheiden.

Unstrittig ist nur eins: Es gibt Drogensucht, und mehrere Millionen Bundesbürger können ohne Tabak, Alkohol oder Tabletten nicht leben. Das viel beschworene «Drogenproblem» bezieht sich aber, jedenfalls in der Meinung der Öffentlichkeit, weniger auf Alkohol und Tabak, obwohl hier selbstverständlich von einer Suchtgefahr gesprochen wird, sondern auf die illegalen Drogen, Opiate, Kokain, «Designer-Drogen» und Halluzinogene. Haschisch jedoch, das ein Halluzinogen ist, macht nach der überwiegenden Meinung der Fachleute nicht süchtig/und, gemessen an der Zahl der Alkohol- und Tabletten-Abhängigen und der gesellschaftlichen Folgeschäden, sind die Konsumenten illegaler Drogen ein fast zu vernachlässigendes Randproblem.

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Die legale Droge Alkohol fordert jedes Jahr Zehntausende von Opfern. Informationen über die Folgeschäden des Rauchens gehören mittlerweile zur Allgemeinbildung. Dennoch tauchen in den Medien mit einer schon nicht mehr zu erklärenden Hartnäckigkeit «Drogentote» auf, deren Zahl zwar ansteigt, sich aber immer noch im vierstelligen Bereich bewegt. Das Argument, mit «Drogentote» seien die gemeint, die durch illegale Drogen sterben, zieht nicht: Ein großer Teil der sogenannten «Herointoten», deren abschreckende Bilder durch die Presse geistern, ist an einer Überdosis von Barbituraten, Tranquilizern oder Alkohol gestorben – diese Drogen aber sind legal.

Der Begriff «Sucht» bezieht sich nicht nur auf Drogen. Man hat die «Spielsucht» kreiert, man spricht von Liebes- und Machtsucht, Fresssucht und Magersucht haben Eingang in medizinische Fachbücher gefunden – die Zahl der Süchte ist heute Legion. Den Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist dieser inflationäre Gebrauch des Suchtbegriffs schon vor langer Zeit unangenehm aufgefallen. 1969 versuchte die WHO, «Sucht» genauer zu definieren, indem sie das Wort ganz unter den Tisch fallen ließ. Jetzt hieß es «Abhängigkeit». Bezogen auf Drogen lautet eine der heute gängigen Definitionen: «Drogenabhängigkeit ist ein psychischer und manchmal auch physischer Zustand, der durch die Wechselwirkung eines lebenden Organismus und einer Droge entsteht. Er zeichnet sich durch Reaktionen aus, die stets den Zwang beinhalten, die Droge regelmäßig oder periodisch einzunehmen. Dabei besteht einerseits das Bedürfnis, die psychischen Wirkungen der Droge zu erfahren, andererseits der Drang, Abstinenzsymptome zu vermeiden. Toleranz kann vorliegen, muss aber nicht. Ein Individuum kann von mehr als einer Droge abhängig sein.» (4)

Der Begriff «Sucht» ist auch deshalb so beliebt, weil jeder Mensch an Alltagserfahrungen anknüpfen kann, die scheinbar für eine Erklärung des Phänomens ausreichen. Da jeder Raucher und jede Raucherin weiß, dass es nur eine Frage des Willens und der Selbstdisziplin wäre, den Tabakmissbrauch zu beenden, kann man sich schwer vorstellen, warum es Heroinabhängigen nicht gelingt, sich von ihrer «Sucht» zu befreien. Natürlich spielt auch Neid eine Rolle: Wenn angesichts des Desasters der deutschen Drogenpolitik gefordert wird, Heroin freizugeben oder an Junkies zu verteilen, kommt unweigerlich die Erwiderung, dass man dann ja auch Alkoholiker mit ihrer Droge versorgen müsse. Warum sollten Heroinabhängige privilegiert werden?

Diese oberflächliche Alltagslogik deutet auf ein viel tiefer liegendes Problem. Was der Gesellschaft gerade an der Heroinsucht so aufstößt, hat wenig mit der Droge selbst, um so mehr mit der damit zusammenhängenden Subkultur zu tun. Kompliziert formuliert: «Die strukturelle Anfälligkeit westlicher Gesellschaften für Konflikte über die moralische und rechtliche Bewertung des Drogenkonsums ergibt sich aus der delikat ausbalancierten Stellung des Drogenkonsums in einer sowohl am Leistungs- wie auch am hedonistischen Prinzip orientierten Gesellschaft.» (5)

Einfacher: Wer etwas leistet, erfreut sich in Gesellschaften, die im weitesten Sinne auf den moralischen Prinzipien der protestantischen Arbeitsethik fußen, eines hohen Ansehens – und darf sich dann auch mal was Schönes gönnen. Wer freiwillig faul ist, gilt, je nach Rigidität der Norm, als sozialer Abweichler. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, hieß es im alten Preussen. Wer dem Rausch frönt und süchtig ist, genauer: nach oder von illegalen Drogen süchtig ist, sei arbeitsunfähig und damit auch moralisch verwerflich – so jedenfalls das Klischee der öffentlichen Meinung. Man darf dem individuellen Lustprinzip huldigen, wenn man vorher etwas geleistet hat, nur dann. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

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Die Frage ist nur: Wie viele Arbeitsunwillige kann unsere Gesellschaft vertragen? Nicht ihre reale Zahl ist wichtig, sondern ihre symbolische Ausstrahlungskraft, die Faszination einer Drogen-Subkultur, die den normal arbeitenden Bürger zutiefst verunsichert. Die «Sucht», die gleichzeitig das Lustprinzip auf die Spitze treibt, ist ein Angriff auf die Moral. Sucht ist nur in der Freizeit gestattet, als Ausgleich zum Stress des Arbeitslebens, als verschämt genossenes Privatvergnügen oder im Rahmen akzeptierter Rituale wie beim Fußball oder im Vereinswesen.

Das Klischee der «Sucht» als Verweigerung der Leistung ist so in den Köpfen etabliert, dass die Realität kaum eine Chance hat: Heroinabhängige, die problemlos mit ihrer Droge versorgt würden oder werden – was wegen der Illegalisierung des Heroins kaum der Fall ist -, sind genauso arbeitswillig und -fähig wie jemand, der jeden Tag drei Schachteln Zigaretten raucht. Ihre Leistungsfähigkeit ist nicht wesentlich beeinträchtigt, noch nicht einmal, im Gegensatz zu Alkoholikern, die Fahrtüchtigkeit. (6) Sie richten also keinen Schaden an, jedenfalls nicht mehr als diejenigen, die ohne Drogen auskommen. Warum sollte also die Heroin-Sucht überhaupt behandelt oder gar therapiert werden?

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(1) M. de Ridder: Der Stoff, die Nadel und der Tod. In: «Süddeutsche Zeitung», 12.02.92
(2) Eigene Erfahrung des Autors während der Recherche, die aber nicht verallgemeinert werden kann und darf.
(3) I. Warnke: Verantwortliche Erwachsene? In: «Suchtreport» 2/92
(4) Margit Kreutel: Die Opiumsucht, 1987, S. 7
(5) S. Scheerer , S. 92
(6) Bei Tests zur Fahrtüchtigkeit von Heroinabhängigen, die das Medikament Polamidon erhielten, hat sich herausgestellt, dass die Substitution die Leistungsfähigkeit der Testpersonen nicht beeinträchtigte. Das jedenfalls teilten Verkehrsmediziner der Heidelberger Universität auf dem Jahreskongress der Rechtsmediziner im September 1992 mit.

Ein Trip zum „Blauen Ort“ – wie Opiate wirken

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

blauer ort
Blauer Kern Locus coeruleus) des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Reines Heroin schadet dem Körper nicht. Das hat es mit allen anderen Opiaten gemeinsam. Selbst jahrelanger Konsum hinterlässt keine irreversiblen Veränderungen. Diese schlichte Erkenntnis wird in fast allen wohlmeinenden «Aufklärungs»-Broschüren und auch in Lehrbüchern unterschlagen, obwohl sie den Fachleuten in der Regel schon seit langem bekannt ist. (1) In deutschen Drogenberatungsstellen scheint man jedoch häufig der Meinung zu sein, wegen der Gefährlichkeit der Droge Heroin groben Unfug verbreiten zu dürfen, um die potentiellen Konsumenten abzuschrecken.

«Unschädlich» heißt ja «nur», dass Heroin – im Gegensatz zu Zellgiften wie Nikotin und Alkohol -, die Organe, etwa Leber oder Lunge, nicht angreift. Die extreme körperliche und psychische Abhängigkeit, die der Heroin-Gebrauch häufig nach sich zieht, und die Entzugssymptome nach dem Absetzen sind selbstredend keine Bagatellen. «Gefährlich» ist Heroin heute aber vor allem deshalb, weil der Stoff – wegen der Illegalisierung und der Beimischung von zum Teil giftigen Strecksubstanzen -nicht exakt dosiert werden kann. Die Gefahr einer tödlichen Überdosis steigt dadurch enorm. Diese Gefahr ist allerdings keine spezifische Eigenart der Droge Heroin, sondern vieler Rauschgifte.

Einige Beispiele zum «Informations»-Unfug: In Berlin liegt in einigen Beratungsstellen die Broschüre einer Krankenkasse zum Thema «Drogen» aus. In der-Rubrik «Heroin» findet man zu den «Langzeitfolgen»: «Abnahme der Intelligenz, Wahnideen, bleibende Gehirnschäden, Magen- und Darmstörungen, Abmagerung bis zum völligen körperlichen Verfall, Leberschäden.» (2) Ein aktuelles Faltblatt des Berliner Landesdrogenbeauftragten führt unter «Risiken» des Heroins (!) auf, «weitere Gefahren» seien «Beschaffungskriminalität und Prostitution». Ein medizinisches Standardlexikon weiß unter dem Stichwort «Heroinsucht» von «starker Euphorie» zu berichten, gleichzeitig aber auch von «Aggressivität» und «körperlich-geistiger Zerrüttung». Identische Symptome zeichnen, laut Lexikon, den «Morphinismus» aus.

Der langjährige Drogenbeauftragte der US-Regierung, Jerome Jaffe, weiß es besser. Er sagt, dass ein Opiat-Abhängiger, «der sich auf legalem Wege eine ihm adäquate Menge von Drogen beschaffen kann und der hierfür die Mittel hat, sich gewöhnlich ordentlich kleidet, regelmäßig isst und seine sozialen und beruflichen Verpflichtungen erfolgreich bewältigt. Normalerweise ist er gesund und leidet kaum unter Beeinträchtigungen: im allgemeinen kann man ihn nicht von anderen Menschen unterscheiden.» (3) Auch in manchen medizinischen Fachbüchern findet man als Nebenwirkungen des Opiat-Gebrauchs lediglich Übelkeit bei sporadischer Einnahme, Atemdepression, Verstopfung und Abnahme des sexuellen Empfindens.

limbisches system

Diese widersprüchlichen Thesen haben eine simple Ursache. Bis Mitte der siebziger Jahre konnten die Fachleute nur spekulieren, was Opiate, also auch Heroin, im Körper anrichten und wo sie wirken. Noch bei der Verabschiedung des deutschen Betäubungsmittelgesetzes 1971 steckte die Opiat-Forschung in den Kinderschuhen. Das Wissen der für das Opiat- und Cannabis-Verbot zuständigen Politiker und der sie beratenden Beamten blieb «weitgehend dem Zufall überlassen» (4), schreibt Sebastian Scheerer, der die Genese dieses Gesetzes erforscht hat. Eine kompetente und durch wissenschaftliche Erkenntnisse begründete Einschätzung der realen «Gefahr» des Opiat-Konsums war unmöglich, da diese Erkenntnisse noch gar nicht vorlagen. In einem sozialen Kontext, in dem die Droge verboten sei, könne man die Wirkung von Heroin ohnehin nicht diskutieren, sagte der New Yorker Psychiatrie-Professor Thomas Szasz in einem Fernsehinterview, «das wäre, als wolle man die Natur des Judentums im Deutschland der Nazis studieren». (5)

Dem Rätsel auf der Spur waren Forscher, die sich für den Zusammenhang zwischen Schmerz und Lust interessierten. Man war schon Anfang der siebziger Jahre auf die Idee gekommen, Opiate radioaktiv zu markieren, um ihre Spur im Körper verfolgen zu können. Dabei machten mehrere Wissenschaftler unabhängig voneinander eine interessante Entdeckung. Opiate lindern das Schmerzempfinden nicht, indem sie wie andere analgetisch wirkende Pharmaka die Zellmembran direkt beeinflussen. Sie entfalten ihren eigentümlichen Effekt sehr schnell und schon in winzigen Mengen. Das ließ vermuten, dass im Körper spezielle Rezeptoren (Empfänger) vorhanden sind, an die nur Opiate «andocken» und in die sie passen wie ein Schlüssel in ein Türschloss. Diese Rezeptoren mussten aber für irgend etwas gut sein, denn es war schwer vorstellbar, dass die Natur den menschlichen Körper vorsorglich mit etwas ausgestattet haben sollte, das nur durch extern zugeführte Drogen aktiviert werden kann.

Je mehr man über diese Rezeptoren wusste, um so spannender, aber auch um so rätselhafter wurde die Angelegenheit: Die Opiat-Rezeptoren finden sich an ganz unterschiedlichen Stellen des Gehirns. Sie verteilen sich nicht gleichmäßig, sondern treten in einigen Gebieten konzentriert auf. In anderen sind sie dünn gesät. Besonders viele Rezeptoren beobachtete man in Gebieten, die mit der Schmerzwahrnehmung und -weiterleitung betraut sind – wie dem Rückenmark -, sowie im Limbischen System, auch verkürzend «Belohnungssystem» genannt, weil es eine wichtige Rolle für den Gefühlshaushalt des Menschen spielt. Auch in den Regionen, die für endokrine (Hormone absondernde) Funktionen zuständig sind sowie für die unwillkürliche Motorik, wimmelt es von Rezeptoren.

Die Rezeptoren konnten zwecks einer chemischen Analyse nicht aus der Zellmembran herausgelöst werden. Sie verloren dann sofort ihre besonderen Eigenschaften und verweigerten den Opiaten ihren Dienst – wie ein Autoschloss, das von einem Autoknacker mit einem Schraubenschlüssel bearbeitet worden ist.

Die Hirnforscher waren bass erstaunt, als zwei schottische Wissenschaftler mit einer neuen Entdeckung ans Licht der Öffentlichkeit traten: Der menschliche Körper produziere in Eigenregie Anti-Schmerzmittel, die wie Opiate wirken. Diese Stoffe, sogenannte Neurotransmitter, übertragen Informationen von Nervenzelle zu Nervenzelle. Sie bestehen aus Eiweißverbindungen (Peptide), die chemisch so differenziert wirken, dass sie an jeweils passenden Rezeptoren andocken.

formatia reticularis
Formatia reticularis, erzeugt von Playground AI

Nicht jedes Opioidpeptid, wie die Verbindungen aufgrund ihrer Wirkungen genannt werden, bringt seine Botschaft an jeden Rezeptor. Deshalb unterscheidet man diverse «Rezeptorpopulationen». Für diese Informationsträger hatten die Hirnforscher bald schöne Namen gefunden: zum Beispiel Enkephaline – nach dem griechischen Wort Encephalon (6) (Gehirn) – und Endorphine – aus «endo» (griechisch für «innen») und Morphin.

Heute kennt man rund zwanzig dieser Opioidpeptide. Einige docken an Rezeptorpopulationen an, die euphorische Gefühle auslösen, wenn sie stimuliert werden und deshalb wohl für die Sucht verantwortlich sind. Andere – wie die Enkephaline – bevorzugen Rezeptoren, die keine externen Opiate akzeptieren. Es gibt sogar endogene Opiate, denen es egal ist, an welche Rezeptoren sie andocken, oder die euphorische Gefühle stimulieren, zugleich aber Schmerzen nicht verhindern – also «agonistische» und «antagonistische» Eigenschaften haben.

Wie der Körper diese Substanzen synthetisiert, die Eiweißverbindungen also abbaut, ist eine äußerst vertrackte Angelegenheit. (7) Alle Peptide lassen sich auf drei großmolekulare Eiweißverbindungen zurückführen, wie zum Beispiel das Eipotropin. Lipotropin ist ein Hormon, das in der Hypophyse hergestellt wird. Es besteht aus 91 Aminosäuren und wirkt nicht wie ein Opiat. Erst «auf Anforderung», mittels eines chemischen Katalysators, entsteht durch enzymatische Abspaltung das ß-Endorphin.

Dynorphin, eine dem Endorphin verwandte opiatähnliche Eiweißverbindung, ist ebenfalls ein Produkt der Hypophyse. Seine Wirkung kommt der der stärksten synthetischen Opiate gleich. Es könnte also dem Heroin durchaus Konkurrenz machen. Der Unterschied ist ganz praktischer Natur: Die körpereigenen Opiate dringen nur schlecht ins Gehirn ein, wenn sie therapeutisch verabreicht werden.

Die Entdeckung dieser Botenstoffe warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete: Warum hat Mutter Natur den Menschen mit einem internen biochemischen Drogenlabor ausgestattet? Warum sind für Informationen, die das menschliche Gefühlssystem stimulieren, ausgerechnet Substanzen notwendig, die wie der Pflanzenextrakt Opium wirken? Und wo ist der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Körperfunktionen, die alle von Endorphinen beeinflusst werden – nämlich der unwillkürlichen Motorik, dem Lust- und Schmerzempfinden und der Verdauung?


Nervenzellen des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Die Sache versprach auch deshalb interessant zu werden, weil sie auf ein Gebiet führte, für das sich ursprünglich die Theologie, dann die Philosophie und die Psychologie für zuständig erklärt hatten: Es geht nämlich um die biochemische Basis für den Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Auf der Ebene der Zellen lassen sich diese beiden Kategorien nicht mehr auseinanderhalten. Das Geheimnis der sowohl «körperlichen» wie auch «seelischen» Abhängigkeit von Drogen müsste hier verborgen sein.

Ein anderes Indiz: Die Endorphin-Konzentration erhöht sich zum Beispiel bei der analgetischen Heilbehandlung durch Akupunktur. Und mehr noch: Die körpereigenen Drogen werden auch dann ausgeschüttet, wenn anstatt eines Schmerzmittels eine chemisch inaktive Substanz; ein sogenanntes Placebo, zugeführt wird, wenn der Patient also nur glaubt, er habe ein Schmerzmittel bekommen. Dieser Placebo-Effekt funktioniert sogar bei externen Opiaten: Wenn einem abhängigen Patienten eine Spritze verabreicht wird, die angeblich seine Droge enthält, aber in Wahrheit nur einen wirkungslosen Stoff, zeigt er häufig die gleichen Reaktionen, als wenn er wirklich ein Rauschmittel bekommen hätte. (8)

Im Normalfall spielen die Endorphine eine wichtige Rolle bei der Bewältigung akuter Stress- und Gefahrensituationen. Falls das Gehirn Signale empfängt, dass ein Schmerz oder eine Gefahr unmittelbar bevorstehen könnte, beginnt im Körper ein «Alarmprogramm» abzulaufen: Das Stammhirn, das älteste Hirnzentrum und zuständig für Stresssituationen, übernimmt die Regie. Der bewusste Verstand wird weitgehend ausgeschaltet, denn er ist zu langsam, um eine spontane Flucht- oder Abwehrreaktion auszulösen. Nicht Analyse ist angesagt, sondern sofortige Aktion. Der Körper schaltet um auf «turbo», sei es, wenn unseren Urahnen im Pleistozän unvermittelt ein Säbelzahntiger begegnete oder wenn dem modernen Zeitgenossen vor dem «Bungee-Jumping», dem freien Fall aus großer Höhe, gesichert nur durch ein Gummiband, die Nerven flattern.

Dabei werden nicht neue Ressourcen erschlossen, sondern nur die vorhandenen anders genutzt: Die Wahrnehmung reduziert sich auf das Wesentliche, die bei Alarmsituationen weniger benötigten Organe wie der Darm, die Nieren und die Leber erhalten zeitweilig weniger Blut, die Muskeln bekommen absolute Priorität, die Blutgerinnungszeit verkürzt sich auf eine halbe Minute, die Schmerzempfindlichkeit ist gesenkt. Und, wenn es richtig zur Sache geht und die Aktion unmittelbar bevorsteht: Die Endorphine werden ausgeschüttet, in einer Menge, die das Normalniveau bis zum Hundertfachen übersteigt. Euphorie verdrängt für kurze Zeit jegliche Furcht.

Die Endorphine docken aber nicht nur in Stresssituationen an den Rezeptoren an, sie wirken auch in der Stille. Offenbar können bestimmte mentale Techniken sie beeinflussen. Die Berichte religiöser Mystiker über den Zustand der «Verzückung» – nach langwieriger Vorbereitung durch Meditation – legen nahe, dass bestimmte Formen religiöser Ekstase durch die Ausschüttung der körpereigenen Drogen hervorgerufen werden. Die Symptome des «Satori», der «Erleuchtung» bei der Zen-Meditation, entsprechen zum Beispiel bis ins Detail denjenigen, die beim Opiat-Konsum auftreten. Das, was bei extremen Formen der Meditation gezielt gefördert wird, nämlich Ausschaltung der bewussten Wahrnehmung, Reduzierung der willkürlichen Motorik – in Zusammenhang mit körperlichem Schmerz bei bestimmten Sitzhaltungen -, ist identisch mit dem «Notprogramm» des Körpers in Stresssituationen.

Die Endorphine wirken auf den Schmerz indirekt: Sie betäuben ihn nicht, sondern verhindern, dass die Schmerzsignale weitergeleitet werden – eine sogenannte «Hemmung der Erregung». Der Schmerz ist da, aber man spürt ihn nicht, weil die Opiate, körpereigene wie externe, verhindern, dass sich das Gehirn über das Geschehen informieren kann. Wie das genau geschieht, ist noch nicht genügend erforscht.

Es gibt aber einige Anhaltspunkte. Offenbar wirken die Opiate bei der Informationsübertragung von Zelle zu Zelle wie ein Computervirus: Sie neutralisieren die Substanzen, die die «Botschaft» weitervermitteln sollen. Acetylcholin etwa, einer dieser Übertragerstoffe, verändert das chemoelektrische Potential der Zellmembranen – Opiate hemmen diese «Depolarisation». Adenosinmonophosphat wiederum, das für Signale zuständig ist, die von den Rezeptoren in das Zellinnere gelangen sollen, kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn zuvor ein «Katalysator», das Enzym Adenylatzklase, auf den Plan gerufen wird. Die Opiate verhindern, dass die Adenylatzklase Gelegenheit bekommt, das Adenosin-Monophosphat zu synthetisieren. Die Nervenzellen bleiben «stumm».

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Henry Gray: Anatomy of the Human Body, 1918

Die Opiate boykottieren auch den Ausstoß von Übertragersubstanzen wie Noradrenalin und Dopamin, die den Körper wach und aufmerksam machen. Das ist eine effektive und auch ökonomische Sabotage des neuronalen Informationsflusses – als wenn die Gewerkschaften bei einem Arbeitskampf nicht das Hauptunternehmen bestreikten, sondern schlicht die Zulieferbetriebe daran hinderten, ihre Produkte loszuwerden.

Der Körper hat jedoch eine Sicherung gegen diesen «Informationsstreik» eingebaut. Hält er aufgrund extremer Opiatzufuhr längere Zeit an, dann «begreifen» die Zellen nach und nach, dass irgend jemand ständig die Leitung kappt. Durch komplizierte Lernprozesse gelingt es ihnen, die Produktion und Synthese der Übertragerstoffe wiederaufzunehmen, gegen den Widerstand der Opiate. Der Arbeitgeber Gehirn setzt Streikbrecher ein: Es entwickelt sich eine Toleranz, das heißt: Um eine Wirkung zu erzielen, müssen die Opiate höherdosiert werden, da der Körper sich an eine gewisse Dosis gewöhnt hat.

Auch Krämpfe scheinen eine Art Anpassung, ein Lernprozess des Gehirns zu sein – ähnlich dem bei Abhängigkeit von euphorisierenden oder analgetisch wirkenden Substanzen. Epileptiker, die an starken Depressionen leiden, berichten, dass diese Verstimmungen nach einem Krampfanfall zeitweilig verschwinden. Krämpfe wirken wie ein Blitzschlag im Gehirn: Das elektrische Potential der Nervenzellen entlädt sich (die so genannte «Depolarisierung»). Gleichzeitig werden bestimmte Neurotrans-mitter – ähnlich wie beim Opiat-Konsum – daran gehindert, ihre Botschaft zu transportieren. Es kommt zur «Hemmung der Erregung». Wenn sich eine Toleranz gegenüber Barbituraten, Beruhigungsmitteln oder Opiaten entwickelt hat, versucht der Körper, diese Wirkung aufrechtzuerhalten, wenn ihm die analgetischen Substanzen plötzlich vorenthalten werden.

Wird nun die Opiat-Zufuhr plötzlich abgesetzt, bricht das Chaos aus. Jetzt werden zu viele der zuvor gehemmten Stoffe produziert, das Nervensystem reagiert übersteigert und hyperaktiv. Es kommt zum «Noradrenalinsturm». Aus Noradrenalin, einem Hormon der Neurotransmitter, wird im Körper Adrenalin synthetisiert («Adrenalin-Stoß»). Die opiatbedingte «Hemmung der Erregung» ist weggefallen.

Damit läuft der Adaptionsprozess, der den «Informationsstreik» aushebeln sollte, ins Leere. Es dauert eine Weile, bis sich die Zellen an ein geringeres Niveau der Opiatzufuhr gewöhnt haben, bis sie «begreifen», dass die Informationen wieder fließen, ohne dass besondere Anstrengungen nötig sind.

Diese Phase ist der bei Opiat-Abhängigen gefürchtete Entzug: Die Wogen des «NoradrenalinSturms» müssen sich erst glätten, bevor die Neurotransmitter Signale senden können, dass sich die Lage entspannt hat.

Das ist nur die eine Seite der Medaille. Bisher hat uns vorwiegend die analgetische (schmerzlindernde) Wirkung der endogenen und extern zugeführten Opiate beschäftigt. Heroinabhängige nehmen aber die Droge aus zwei Gründen: Einerseits, um den unerträglichen Zustand des Entzuges zu vermeiden, andererseits, um ein euphorisches Gefühl zu erleben. Sinkt die Opiat-Zufuhr unter das Abhängigkeitsniveau, setzt der «Turkey» ein. Die euphorische Wirkung spüren der oder die Abhängige aber erst dann, wenn die Drogenmenge das Toleranzniveau überschreitet.

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Adaptoren des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Euphorie
Menge der Opiat-Zufuhr
Toleranzniveau
Abhängigkeitsniveau
Entzug

Zu welchem Zeitpunkt Euphorie oder Entzug eintreten, ist sowohl von der jeweils unterschiedlichen körperlichen und psychischen Verfassung des Junkies als auch von der Qualität der Droge abhängig. Zwischen Abhängigkeitsniveau und Toleranzniveau ist man zwar «drauf», spürt aber nichts. Das ist bedeutsam bei einem Vergleich zwischen verschiedenen Opiaten, etwa Morphin, Codein, Heroin und Methadon, einem synthetischen Opiat, und dem verschiedener Applikationsformen – ob man raucht, snieft oder spritzt.
Bei der intravenösen Injektion von Heroin tritt die Euphorie fast sofort ein, beim Inhalieren morphinhaltiger Dämpfe dauert es länger, weil der Stoff nicht gleich in die Blutbahn gelangt. Da Heroin ohnehin im Körper in Morphin umgewandelt wird (Diacetylmorphin!), liegt sein spezifischer Effekt in der plötzlichen und abrupten Besetzung der Rezeptoren. Codein und Methadon wirken zwar genauso, nur nicht in der Geschwindigkeit des Heroins: Die Süchtigen fühlen bei der Methadon-Vergabe oder der Substitution durch Codein-Präparate, wie das euphorische Gefühl langsam «anschwillt», man spürt keinen «Kick» im Kopf.

Aufschluss über den komplexen Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz könnten zwei geheimnisvolle Regionen des Gehirns geben: Der «Blaue Ort» und eine ihm benachbarte Region, die von Hirnforschern mit dem Zungenbrecher «Periaquäduktales Grau» bezeichnet wird. Dort liegen die Opiat-Rezeptoren dicht an dicht. Wir können vermuten, dass hier eine wichtige Schaltzentrale für die «Sucht» nach Drogen zu finden ist.

Beide Regionen liegen im Stammhirn, das vom Großhirn wie eine schützende Schale umschlossen wird. Die Übergangszone zwischen Stamm- und Großhirn bildet das Limbische System, zuständig für so komplexe Aufgaben wie die Selbsterhaltung (Ernährung, Verteidigung und Angriff) sowie die Arterhaltung (Sexualität). Offenbar ist das Limbische System eine Art von Übermittlungs- wie Übersetzungsinstanz für Prozesse, die im Stammhirn ihren Ausgang haben und letztlich zu bewussten Reaktionen im Großhirn führen. Während die schmerzlindernde Wirkung der Opiate mehr über Nervenbahnen des Rückenmarks vermittelt wird, werden beim Verlangen nach Euphorie bestimmte Gebiete des Limbischen Systems aktiviert.

Nervenbahnen verlaufen vom Limbischen System ins Gehirninnere und ins Zwischenhirn, der Region zwischen den beiden Großhirnhälften. Dort hat die «geographisch» nur vage definierte Formatio reticularis ihren Platz, eine Ansammlung von verschiedenen kleineren Zentren, die bei der Steuerung komplexer Aufgaben kooperieren. Sie sind für die spontanen Aktionen des menschlichen Körpers zuständig, für motorische Teilfunktionen, aber auch für die Atmung und für die Weckwirkung auf die Großhirnrinde, womit der Grad der Bewusstseinserhellung bestimmt wird. Diese Prozesse laufen im Normalfall automatisch. Wir «vergessen» nie zu atmen, können es aber auch bewusst. Hier scheinen komplizierte Rückkoppelungen zwischen unbewusster und bewusster Steuerung vorzuliegen.

Was man weiß, ist, dass Nervenbahnen vom Limbischen System über die Formatio reticularis bis zum Periaquäduktalen Grau verlaufen. Diese Gehirnregionen kooperieren, sowohl bei ihren Aufgaben als auch bei der Wirkung, die sie entfalten. Wird der «Graue Ort» zum Beispiel elektrisch stimuliert, können selbst chronische Schmerzzustände verschwinden. Und: Ist das zungenbrecherische «Grau» verletzt, verlieren extern zugeführte Opiate ihre schmerzlindernde Wirkung.

Die Hirnforscher, die sich mit dem noch weitgehend unerforschten Labyrinth der verschiedenen Systeme beschäftigen, stießen immer wieder auf den «blauen» und den «grauen» Ort im Stammhirn. Gerade der «Blaue Ort» machte ihnen zu schaffen. Er ist zwar nur winzig und besteht aus nur rund 3000 Nervenzellen, diese jedoch erreichen mit ihren Bahnen ein Drittel bis die Hälfte aller Nervenzellen in der Hirnrinde. Wenn hier etwas los ist, gerät fast das ganze Gehirn in Aufregung. Von hier aus werden so gegensätzliche Steuerungsmechanismen wie das Wecksystem und das Beruhigungssystem gleichzeitig beeinflusst. Der «Blaue Ort» gilt mittlerweile sogar als der Kern des Wecksystems. Zwei seiner Informationsträger, die Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin, wirken auf die höheren Gehirnzentren, insbesondere aber auf das Limbische System, das dem Großhirn bei einigen Aufgaben «vorgeschaltet» wird.

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Transmitter des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Kokainmoleküle sind diesen beiden Transmittern des «Blauen Ortes» zum Verwechseln ähnlich. Das gleiche gilt für Amphetamine das sogenannte «Speed». Beide Drogen drängen das noch «schlummernde» Dopamin zur Seite und suggerieren dem Körper einen künstlichen Wachzustand. Die Hirnforscher vermuten, dass halluzinogene Substanzen wie LSD den «Blauen Ort» so überstrapazieren, dass es zu psychedelischen Räuschen kommt.

Ohnehin kann der «Blaue Ort» auch über Gebühr erregt werden: Elektrische Reizung des Locus coeruleus – so die lateinische Bezeichnung – verursacht Panik und Schreckreaktionen. Vielleicht hat der «Horrortrip», «auf» dem man bei LSD-Missbrauch «hängenbleiben» kann, hier seine Ursache.

Der «Blaue Ort» als Teil des Wecksystems steht zugleich in Verbindung mit dem Beruhigungssystem. Der Körper ist dem Prinzip der Homöostase verpflichtet. Gerät etwas längerfristig außer Kontrolle, steuert er gegen. Bevorzugtes Mittel ist der hormonartige Übertragerstoff Serotonin. Serotonin wird in den Zellen der Magen- und Darmschleimhaut sowie in der Muskelhaut des Darmes gebildet und durch die Blutplättchen transportiert. Er verengt die Blutadern und wirkt dabei mit, dass der Mensch schlafen kann. Serotonin ist der große Gegenspieler der Wecksubstanz Noradrenalin. Im «Blauen Ort» scheinen sich beide Stoffe zu treffen und die Balance zwischen Schlafen und Wachen auszumanövrieren.

Dopamin, das ebenfalls im «Blauen Ort» zu finden ist, steuert den Muskeltonus und dockt an den Opiat-Rezeptoren an. Fehlt Dopamin im Körper, treten Bewegungsarmut und Muskelstarre auf, im Extremfall die Parkinson-Krankheit. Viel interessanter ist aber, was geschieht, wenn Dopamin nicht mehr ins Limbische System gelangt: Wir sind unfähig, euphorische Gefühle zu empfinden.

Es ist in Wirklichkeit noch ein wenig komplizierter. Lust empfinden wir nur, wenn Dopamin im Stammhirn startet und dann gleichzeitig seine biochemische Botschaft im Limbischen System und in den Stammganglien ablädt. Die Stammganglien, markhaltige faserige Nervenzellen, die sich im Endhirn zum sogenannten Streifenkörper bündeln, regeln die Muskelspannung. Werden sie zerstört, flippt der Mensch aus: Es kommt zu Überreaktionen, deren Erscheinungsbild schon im Mittelalter als «Veitstanz» (Teufelstanz) bekannt war.

Die Basalganglien sind aber nicht nur dafür zuständig, Bewegungsabläufe zu programmieren. Sie scheinen, so merkwürdig das klingen mag, auch für Teilprozesse der Motivation verantwortlich zu zeichnen. Das Limbische System hingegen regelt nur die affektive und emotionale Seite. Störungen dieses Systems können sowohl zu Angstgefühlen als auch zu Aggression führen. Aus dieser Wechselwirkung ist wohl das spezifische dämpfende und aggressionshemmende Ergebnis des Opiat-Konsums, also auch des Heroins, zu erklären.

mandelkern
Mandelkern (Amygdala) des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Zum Limbischen System gehört auch eine Gehirnregion, die Mandelkern genannt wird. Wenn der verletzt wird, zeigen sich merkwürdige Symptome: Der Mensch wird «fresssüchtig», er stopft alles, was nur einigermaßen verdaulich ist, wahllos in sich hinein. Außerdem denkt er ständig nur noch an «das eine», den Sex. Es ist noch nicht genau erforscht, ob dieser Kern direkt für die Drogenabhängigkeit bedeutsam ist. Es fällt nur auf, dass die Opiatsucht genau das Gegenteil von dem bewirkt, was die Wissenschaftler nach einer zufälligen Zerstörung des Mandelkerns beobachteten: Appetitlosigkeit und nur noch geringe Lust auf Fortpflanzung.

Auch der Nucleus accumbens, an dessen Rezeptoren Dopamin ebenfalls andockt, könnte eine Rolle bei der Opiatabhängigkeit spielen. Dieser winzige Kern beeinflusst sowohl den Streifenkörper als auch das Pallidium, das, ähnlich wie die Stammganglien, die Bewegungen des menschlichen Körpers steuert. Was man weiß, ist nur ein indirekter Schluss: Wenn die Rezeptoren des Nucleus accumbens blockiert sind, verspürt man – das weiß man nur von Tierversuchen – keine Lust mehr auf Drogen wie Heroin oder Kokain.

Diese verwirrende Berg- und Talfahrt durch das menschliche Gehirn macht eines deutlich: Heroin und andere Opiate wirken auf eine Vielzahl unterschiedlicher Körperfunktionen. Die psychische «Lust» an der Droge ist offenbar ein sehr differenziertes Bedürfnis. Auf «natürlichem» Wege, durch die Endorphine, wird der Körper für Gefahren- und Stresssituationen kurzfristig präpariert, Schmerz und Angst weniger stark zu empfinden und gleichzeitig auf «turbo»Betrieb umzuschalten, damit er das Geschehen auch meistern kann. Extern zugeführte Opiate suggerieren dem Körper, dass diese Situation permanent besteht.

Da alle wichtigen menschlichen Regungen wie emotionales Wohlgefühl, sexuelles Empfinden, Motivation, Schlafund Wachzustand beteiligt sind, kann man sich vorstellen, wie schwierig es für Opiat-Abhängige ist, auf dem einmal eingeschlagenen Weg umzukehren. Die Annahme, «Sucht» sei das bloße Verlangen nach einem Rauschzustand, geht völlig an der Komplexität des Problems vorbei.

Dazu kommt eine Beobachtung, die Hirnforscher machten, als sie Ratten für eine lange Zeit mit Morphin «behandelten»: Offenbar bildet sich die Endorphin-Produktion zurück, wenn sich der Organismus erst einmal an externe Opiate gewöhnt hat. Das ist auch beim Menschen so. Ein Junkie, der sich mühsam vom «Stoff» gelöst hat, kann für längere Zeit keine starken Lustgefühle mehr empfinden, weil das körpereigene Drogenlabor wegen der ständigen Heroin-Zufuhr zeitweilig «abgewickelt» worden ist.

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(1) Vermutet haben dies schon u.a. A./E. Torrance: Opium Addiction. Chicago 1929/30, und H. Isbell: Narcotic Drug Addiction Problems. Bethesda 1958. Neuere Forschungen: J. Platt/C. Labate: Heroin Addiction. New York 1976 (dt.: Heroinsucht, Darmstadt 1982), W. Harding: Kontrollierter Heroingenuss, in: G. Völger/K. v. Welck (1982), S. 1217ff, S. Quensel (1982), S. 156, Michael de Ridder: M. de Ridder (1991), passim, sowie eines der Standardwerke zum Thema: E. M. Brecher u. a.: Licit and Illicit Drugs, Boston 1972; ferner G. Obe u. a.: Mutagene und karzinogene Wirkungen von Suchtstoffen, in: W. Keup (1985), S. 38f
(2) Auf meine Nachfrage bei der betreffenden Kasse wurde mir erklärt, die Broschüre sei 15 Jahre alt und auf dem «damaligen Forschungsstand». Es habe sich aber noch niemand beschwert. Die Frage bleibt offen, wieso man verschweigt, dass Leberschäden und Hepatitis von unsachgemäßem Gebrauch herrühren und nicht von der Droge selbst. Eine aktualisierte Fassung, die mir prompt zugesandt wurde, verzichtete auf die Spalte «Langzeitfolgen bei Heroin-Gebrauch».
(3) A. Barth, zit. nach G. Grimm (1992), S. 180
(4) S. Scheerer (1982), S. 147
(5) Zit. nach G. Amendt (1992), S. 189
(6) Solomon Snyder von der Johns-Hopkins-Universität, Baltimore, Simon von der Universität New York und Terenius von der Universität Uppsala identifizierten die Rezeptor-Stellen; Snyder, Terenius, Goldstein von der Stanford-Universität in Kalifornien, John Hughes und Hans Kosterlitz (Universität Aberdeen) isolierten die Enkephaline.
(7) Diese Synthetisierung nennt man «proteolytischer Prozess». Vgl. Sidney Cohen: Neuester Stand der Heroinforschung, in: Völger, S. Sooff; Michael Wüster: Der neueste Stand der Opiatforschung, in: ebd., S. 76ff; Klaus Kuschinsky: Zur Pharmakologie von Opioiden (1981), S. 225ff; A. Herz: Das Suchtproblem in der Sicht der neueren Opiatforschung, in: W. Feuerlein (1986), S. 15 ff
(8) Vgl. U. Havemann/K. Kuschinsky: Opiatrezeptoren. Zur Frage der Trennung der analgetischen und suchterzeugenden Wirkungen, in: W. Keup (1985), S. 184f

Ein heroisches Hustenmittel

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Grüne Apotheke
Grüne Apotheke in der Berliner Chausseestraße, nach 1859. Source: Deutsche Apotheker-Zeitung

In den Jahrzehnten seit Sertürners Entdeckung des Morphins änderten sich die Produktionsbedingungen pharmazeutischer Produkte grundlegend. Die kleinen Apotheken, in denen Medikamente in handwerklichem Eigenbetrieb hergestellt wurden, konnten die massenhafte Nachfrage nicht mehr befriedigen. Aus ihnen gingen Fabrikbetriebe hervor, deren Nachfahren noch heute im Geschäft sind: Die kleine Engel-Apotheke in Darmstadt mauserte sich zum Pharmakonzern E. Merck & Co., die Grüne Apotheke in Berlin zur Chemischen Fabrik auf Actien, später Schering AG, die Merkur-Apotheke in Hamburg zur Beiersdorf & Co. AG. Daneben witterten die Drogengroßhandlungen den großen Reibach, wie Engelmann & Böhringer, ab 1859 C. F. Böhringer und Söhne in Mannheim.

Engel Apotheke
C. F. Boehringer & Söhne GmbH, Mannheim-Waldhof, Sandhofer Str.

Die Alkaloid-Chemie erlebte einen stürmischen Aufschwung und zog weitere, auch ökonomisch interessante Forschungsergebnisse nach sich. Bei der Produktion des Morphins bleibt eine Lauge zurück, die zahlreiche andere Stickstoffverbindungen enthält. Einige derer Namen erinnern an die Opium-Mixturen der Antike, Mekonium und Laudanin zum Beispiel. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Codein isoliert, das zu etwa einem Prozent in Opium vorhanden ist. Codein wirkt ähnlich wie Morphin, nur ungleich schwächer. Medizinische Indikation: vor allem Gastritis und Krampfleiden. Auch andere, zum Teil giftige Substanzen und Drogen wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts isoliert: Strychnin (1817), Coffein (1820), Nikotin (1828), Kokain (1887, kommerzielle Verwertung durch die Firma Merck aber schon seit 1862) und schließlich der Rauschstoff Mescalin (1896).

Lophophora williamsii
Der Peyote-Kaktus Lophophora williamsii enthält als Hauptwirkstoff Mescalin.

Hanf (Cannabis) gehörte ohnehin schon seit 100 Jahren zur Grundausstattung einer jeglichen Apotheke. Merck stellte ab 1880 Cannabis-Tinkturen her. Das Deutsche Reich gehörte zum drittwichtigsten Abnehmer indischen Hanfs: «charres» (Haschisch), «ganja» (Marihuana) und «bhang» (ein cannabishaltiges Getränk) hießen die Verkaufsschlager. Im Hamburger Freihafen wurden allein im September 1885 3,5 Tonnen Ganja, 12 Tonnen Bhang und 300 Tonnen Charres gelöscht.

Das Rennen in der Herstellung von Drogen machte schließlich die Teerfarbenindustrie, die man zunächst nicht mit pharmazeutischen Produkten in Verbindung bringt. Diese Unternehmen hatten die entsprechenden Laboratorien zur Verfügung. Ganze Forscherteams waren den Geheimnissen der Natur auf der Spur. Außerdem mangelte es weder an Geld noch dem ökonomischen Durchblick, um die gewonnenen Kenntnisse rasch zu verwerten. Der Startschuss für die Entwicklung dieses Industriezweiges war 1934 die Isolierung des gefährlichen Blut- und Nervengiftes Anilin, auch Aminobenzol genannt, aus dem Steinkohlenteer und seine Synthese. Als Grundstoff für die industrielle Produktion künstlicher Farbstoffe wurde Anilin für eine Reihe konkurrierender Firmen zum Erfolgsgaranten: die Farbenfabriken Friedrich Bayer et Comp. in Barmen (1863, seit 1878 Elberfeld), die Farbwerke Hoechst AG vorm. Meister Lucius & Brüning später Hoechst AG (seit 1862), Kalle & Co. aus Biebrich und die Badische Anilin- und Sodafabrik BASF in Ludwigshafen (seit 1865).

cannabis tinktur
Inserat zum Arzneimittel „Cannabin“ der Firma Merck um 1885, Darmstadt

Richtig begann das Wettrennen um die Produktion der Farben mit der ersten Synthese des natürlichen Farbstoffes Alizarin 1869 durch Karl Graebe und Karl-Theodor Liebermann. In kürzester Zeit schossen mehr als hundert Fabriken aus dem Boden, die Alizarin herstellten. Das Geschäft blühte: Allein zwischen 1883 und 1887 wurden 21 neue Farbstoffe entwickelt und, um das Geld richtig ins Rollen zu bringen, die Firma Bayer in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Auch andere Firmengründungen mit noch heute bekannten Namen fallen in die Zeit des «Farbrausches»: Der auf Anilinfarben spezialisierte Betrieb Kern und Sandoz tauchte 1880 in Basel im Handelsregister auf (heute Sandoz AG), schon 1859 begann bei Geigy (heute: Ciba-Geigy) in Basel die Produktion synthetischer Anilinfarben, zum Beispiel Fuchsin. Fritz Hoffmann (heute: Hoffmann La Röche) bildet das Schlusslicht. Er gründete erst 1896 einen Fabrikationsbetrieb für Drogerieartikel.

Die erste Krise ließ nicht lange auf sich warten. Mitte der achtziger Jahre war der Markt mit künstlichen Farben überschwemmt, die Preise sanken, die Gewinne schrumpften. Die Herren von der chemischen Industrie grübelten, wie diesem misslichen Zustand zu begegnen sei. 1887 kam ihnen ein Zufall zu Hilfe. (1)

Zwei Assistenten einer Straßburger Klinik experimentierten mit fiebersenkenden Mitteln. Eines schien besonders gut zu wirken. Sie ließen es analysieren, und siehe da: Es entpuppte sich als das chemisch nur geringfügig modifizierte Anilin. Die Veränderung, die sogenannte Acetylierung, sah so aus, dass in das ursprüngliche Molekül der Substanz Essigsäureester eingefügt worden war. Das Endprodukt hieß Acetanilid und wurde bald – dieses Mal war das Unternehmen Kalle & Co. am schnellsten – als «Antifebrin» auf den Markt geworfen. Bayer zog im großen Stil nach. Anfang der neunziger Jahre gab die Unternehmensleitung grünes Licht für die Gründung firmeneigener Forschungslaboratorien. Unter der Leitung von Carl Duisberg stellte Bayer sein erstes Arzneimittel her, Phenacetin, das Pendant zu Kalles Antifebrin.

antifebrin

Die massenhafte Herstellung fiebersenkender und später auch anderer Mittel war technisch kein Problem, fielen doch die Grundstoffe für die Acetylierung gleich tonnenweise als Beiprodukte der Farbherstellung an. Es setzte eine wahre «Acetylierungsmanie» ein, der Medikamentenmarkt boomte. Acetanilid zum Beispiel hat, wie alle acetylierten Stoffe, bessere chemische Eigenschaften als der ursprüngliche Stoff Anilin bzw. Aminobenzol. Es wird im Körper langsamer gespalten und ist weniger giftig.

Anfang der neunziger Jahre probieren die Chemiker die Acetylierung auch an Morphin aus, um vielleicht einen Stoff zu finden, bei dem die Gefahr der Abhängigkeit geringer ist. Am 21.8.1897 schreibt der Erfinder des Aspirins (Acetylsalicylsäure) (2), der Chemiker Felix Hoffmann von den Elberfelder Farbenfabriken Bayer, einen Laborbericht „über das Diacetylmorphin“: „Um einen Ersatz für das Codein aufzufinden“, hätten er und seine Mitarbeiter „das Diazetat des Morphins dargestellt“ – also das Morphin acetyliert. Hoffmann: „Kocht man 10,0 Morphin mit 30,0 Essigsäureanhydrid in vier Stunden unter Rückfluß, so zeigt eine in Wasser aufgenommene Probe keine Morphinreaktion mehr. Man verdunstet die Essigsäure des Rückstandes, gießt in Wasser und versetzt unter Erkühlung mit Sodalösung. Die ausfallende kristallynische Masse stellt das Diazetat dar… Wie physiologische Vorversuche ergaben, liegt in dem Körper in der That eine dem Codein außerordentlich ähnliche Substanz vor.“

aspirin heroin
Braunes und weißen Heroin

Die Publikation Dresers verschweigt die Vorarbeiten anderer Kollegen. Offenbar wusste Dreser nicht, dass schon 1890 die beiden englischen Forscher Dott und Stockman eine «umfassende Untersuchung über die pharmakologischen Wirkungen des Morphins und seiner Derivate» veröffentlicht hatten, worauf sich eine Titelgeschichte der «Münchener Medicinischen Wochenschrift» aus dem Jahr 1899, geschrieben vom Hallenser Pharmakologen Erich Harnack, bezog.

Parallel zu Bayer experimentierte auch das Darmstädter Unternehmen Merck mit Morphin: 1899 erschien im Jahresbericht der Firma eine Mitteilung über Forschungen, die kurz zuvor stattgefunden hatten. Diacetylmorphin zeige eine «dem Morphin ähnliche, aber schwächere Wirkung», setze die Reflexe herab und beseitige den Hustenreiz. Gegen Schmerzen sei es «weit weniger wirksam als Morphin und für die praktische Verwendung nicht besonders geeignet, da die Substanz keine haltbaren und in Wasser löslichen Salze bilde.

Die Farbenfabriken Bayer waren da anderer Ansicht. Im Mai 1897 beantragte Bayer einen Wortschutz für das Warenzeichen des neuen Medikaments. Am 27.6.1898 wurde es in die Zeichenrolle des Reichspatentamtes eingetragen. Der Name des Produktes: Heroin. Heroin, ursprünglich also nur ein Warenzeichen für das Arzneimittel Diacetylmorphin (oder: Diamorphin), ist zu einem allgemein gebräuchlichen Begriff geworden, der sich ebenso eingebürgert hat wie etwa der Name Aspirin für das Produkt Acetylsalicylsäure. Man könnte sich heute auch eine andere Bezeichnung für die Substanz ausdenken, denn das Warenzeichen ist seit 1950 erloschen. (3)

heroin
Braunes und weißes Heroin aus Asien

Morphin und Heroin unterscheiden sich pharmakologisch nur geringfügig: Die euphorische, das heißt die spezifische Wirkung des Heroins ist der plötzlichen Besetzung bestimmter Rezeptoren im Gehirn geschuldet, die schmerzstillende ist die des Morphins, in das Heroin in kurzer Zeit im Körper umgewandelt wird. Der Phantasiename «Heroin» trifft aber die zweischneidigen Folgen des Konsums besser als «Morphin»: Es handelt sich nicht nur um eine Reise ins Reich der Träume. Michael de Ridder zitiert in seiner bemerkenswerten Dissertation über «Heroin – die Geschichte einer pharmazeutischen Spezialität» eine Definition der «heroischen Mittel», ein Ausdruck für besonders stark wirkende Medikamente schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese seien Substanzen, «die tief, unmittelbar und gewaltsam ins individuelle Leben eingreifen, die Fundamentalsysteme des Organismus heftig umstimmen und meist einen zweifelhaften Effekt haben, bei deren Anwendung augenscheinlich Gefahr ist, zu deren Gebrauch man sich nicht ohne herrische Kühnheit entschließen kann». Das sei, so de Ridder, «nicht unbedingt eine therapeutische Empfehlung». Die Namensgeber scheinen sich dieser Assoziation bewusst gewesen zu sein.

Die Bayer AG behauptete noch 1983, die These eines amerikanischen Senators, der Konzern habe Heroin an Werksangehörigen ausprobiert, sei falsch. Diese Behauptung der Firma ist eindeutig widerlegt: Schon vor 1898, bevor die erste Erprobung außerhalb des Unternehmensgeländes stattfand, habe Dreser Menschenversuche durchgeführt, schreibt de Ridder nach Durchsicht bisher unveröffentlichter Akten und Archivmaterialien. Vorher hatten Dreser und der Werksarzt Floret Heroin am eigenen Leibe ausprobiert. Zwischen März und August 1898 experimentierte Floret in der Poliklinik der Farbenfabriken «am lebenden Modell». Floret hielt Heroin für «ein außerordentlich brauchbares, prompt und zuverlässig wirkendes Mittel zur Bekämpfung des Hustens und des Hustenreizes sowie der Brustschmerzen in erster Linie bei Entzündungen, besonders bei der katarrhallischen, der oberen und unteren Luftwege.. . » Auch bei der Behandlung von Asthma und Tuberkulose sei Heroin erfolgreich gewesen.

heroin

Heroin wird nach der Zulassung zunächst als Pulver, dann als wasserlösliches Heroinum hydrochloricum, später auch als Zäpfchen, Mixtur, Pulver, Trank, nach 1921 in Tablettenform verkauft, ja es sind sogar heroingetränkte Tampons auf dem Markt. Nach Italien, Spanien und Portugal wird Heroin in Form von Sirup exportiert. Um die Jahrhundertwende war die Einzeldosis 0,005 mg für Erwachsene, die Hälfte für Kinder.

Im Sommer 1899 zieht die Unternehmensleitung Bilanz. In der Chefetage debattiert man über Heroin. Einer der anwesenden Herren schlägt vor, die Fälle, «in denen außerordentlich große Dosen Heroin aus Versehen gereicht wurden» und bei denen die Patienten trotzdem nicht gestorben seien, sollten zu «einem schönen Artikel» verarbeitet werden. Man dürfe nicht dulden, sagt der gute Mann, dass in der Öffentlichkeit behauptet würde, Bayer habe Präparate verkauft, «die nicht sorgfältig probirt sind». Ein Dr. Goldmann aus Berlin berichtet, dass «die Stimmung in unserem Bezirk keine besonders günstige» sei. Es sei ihm aber gelungen, das Krankenhaus Friedrichshain für Heroin zu interessieren. Bayer-Direktor König ist zufrieden. Zwar würde das Produkt wohl kaum ein Verkaufsschlager, immerhin sei es aber «eine schöne Bereicherung unseres Schatzes und auch eine Bereicherung unserer Reputation».

heroin

Eine weitere Konferenz findet im November statt. Heroin habe «ja viele Angriffe erfahren», meint einer der Anwesenden, «und wir haben uns auch bemüht, nach Möglichkeit kräftig den Angriffen entgegenzuwirken. Wir haben leider den Kardinalfehler begangen, daß wir das Produkt zu billig herausgegeben haben.» Ein Herr Engelcke sagt, in einigen Lehrbüchern würde vor Heroin gewarnt, dass man es nur mit Vorsicht anwenden dürfe. «Wir sollten daher versuchen, diese Herren zu beeinflussen, damit unsere Produkte eine andere Beurteilung finden, dies würde auch zur Erhöhung des Konsums beitragen.»

Tatkräftig, wie Unternehmer nun mal sind, werden die Anregungen in die Praxis umgesetzt. Es erscheinen Sonderdrucke, die Arztpraxen werden mit Warenmustern überschwemmt, Artikel in Fachzeitschriften platziert. Die Kampagne hat Erfolg. Schon bald wird Heroin in über zwanzig Länder exportiert. 1902 macht der Gewinn aus der Diacetylmorphin-Produktion ca. fünf Prozent des Gesamtgewinns bei pharmazeutischen Produkten aus. Eine Rekordmenge produziert der Konzern im Jahr 1913: eine knappe Tonne reinen Heroins. Auf dem Schwarzen Markt wäre diese Heroinmenge heute mindestens 70 Millionen DM wert. Im Jahr 1926, als die Heroin-Produktion in den USA schon verboten war und die ersten internationalen Kampagnen gegen Opiate anliefen, produzierte das Deutsche Reich insgesamt 1,8 Tonnen, die Schweiz 3,9 Tonnen Heroin.

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(1) Vgl. Michael de Ridder: Heroin: Vom Arzneimittel zur Droge. Das Buch gab es damals noch nicht. Ich habe während der Recherche de Ritter interviewt und durfte auch seine Dissertation über Heroin („Heroin: die Geschichte einer pharmazeutischen Spezialität“, 1990), auf der das Buch basiert, per Microfiche einsehen.

(2) Die gebräuchliche Dosis dieses berühmten Schmerz- und fiebersenkenden Mittels liegt bei weniger als einem Gramm. Ca. 30 Gramm sind tödlich. Aber noch nie hat jemand Aspirin als gefährliche Droge bezeichnet.

(3) Wort-Bildmarke „Heroin“ vom 18. Mai 1898 mit Eintragung am 27. Juni 1898 in das „Waarenverzeichniß“ unter der Nr. 31650 (altes Aktenz. F 2456) für die „Actiengesellschaft Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld.“ Veröffentlicht im „Waarenzeichenblatt“, herausgegeben vom kaiserlichen Patentamt, im Juli 1898, V. Jahrgang, Heft 7 auf Seite 506.

Der Stoff, aus dem die Träume sind

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Das «Rauschgift» Opium in der Apotheke? Damit gab es im 19. Jahrhundert keine Probleme. Niemand wußte jedoch, welche Substanz des Mohnsaftes die eigentliche Wirkung ausmachte. Das hatte manchmal fatale Folgen, denn eine exakte Dosierung war unmöglich, das Medikament konnte tödlich wirken.

opiumtinktur - laudanum

Heute ist die Situation ähnlich, aber aus völlig anderen Gründen. In jeder Apotheke steht eine Flasche Opiumtinktur herum. Aber kaum ein Arzt traut sich, das Präparat zu verschreiben. Die Mediziner könnten sich informieren, tun es aber in der Regel nicht – aus Angst vor den strengen Auflagen des Betäubungsmittelgesetzes. Während in England ausführliche Forschungen zur pharmakologischen Wirkung der Opiate vorliegen, sind die deutschen Ärzte meistens schon bei simplen Fragen zum Thema völlig überfordert.

Dementsprechend «sachkundig» verlaufen auch die öffentlichen Diskussionen über Drogen, von der Kompetenz der Politiker und «Drogenbeauftragten» ganz zu schweigen. Dabei hat die Beschäftigung mit Papaver somniferum gerade hierzulande eine lange Tradition: Morphium und Heroin sind Erfindungen deutscher Apotheker und Firmen.
Natürlich wußte man im 19. Jahrhundert aus Erfahrung, daß Opium nicht nur alle möglichen Krankheiten kuriert, sondern daß man sich damit auch umbringen kann.

In Hessen war, schreibt Hans-Georg Behr, die «Frankfurter Hauptpille» auf dem Markt, ein Gemisch aus Opium und Zucker. Opiumhaltige Medikamente wie «Dr. Zohrers Kinderglück» und «Aachener Schlafhonig» wurden auch Babys zur Beruhigung und zum besseren Schlaf verordnet. Einige der kranken Kinder wachten jedoch nach der Einnahme des «Kinderglücks» nicht mehr auf. Der Arzt Dr. Heinrich Hoffmann sah sich angesichts der Todesfälle veranlaßt, nach einem unschädlicheren Ersatzpräparat zu suchen. Die von ihm entwickelten «Hoffmannstropfen» enthielten aber immer noch fünf Prozent Opium.

In England hieß das beliebteste einschlägige Mittel «Godfrey’s Cordial». «Die erste Untersuchung von Opiatvergiftungen an Kindern wurde 1843 in einer kleinen Stadt in Lancashire vorgenommen», schreibt Hans-Georg Behr. «Von knapp 2500 Familien kauften mehr als 1600 regelmäßig Godfrey’s Cordial. Die Kindersterblichkeit lag über 60 Prozent, und ein abruptes Absetzen der Droge überlebte nur jedes sechste Kind.»

Verschiedene Forscher experimentierten daher mit der Rohsubstanz Opium, um dessen unerwünschten Elemente zu beseitigen, die, wie vermutet wurde, zu den Nebenwirkungen führten. Das chemische Element Stickstoff, dessen Verbindungen – die Alkaloide – in Pflanzen vorkommen und das des Rätsels Lösung gewesen wäre, war noch nicht bekannt.

hoffmannstropfen

Im Jahr 1805 bekam eine Leipziger Zeitschrift, das Trommsdorffer «Journal der Pharmacie», merkwürdige Post. Der Paderborner Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner bot einen Artikel an, in dem er behauptete, er habe das «schlafmachende Prinzip des Opiums» entdeckt. Die Herausgeber des «Journals» überflogen den Bericht, schüttelten bedenklich ihre Köpfe, überdachten die Reputation ihres Blattes und lehnten dann Sertür-ners Ausführungen ab, da sie unseriös seien. Der Apotheker ließ nicht locker. Er schrieb einen Leserbrief, in dem er seine Experimente schilderte. Der wurde gedruckt, aber niemand beachtete ihn.

Dabei war der zwanzigjährige Pharmakologe auf dem besten Weg, der berühmteste Sohn der Stadt Paderborn zu werden, bekannter noch als der zu seiner Zeit in der Domstadt residierende Bischof. Sertürners Versuchsanordnung: Man laugt Opium mit destilliertem Wasser aus, bis alle Farbstoffe ausgeschieden sind. Die eingedampfte Lösung wird, wieder mit Wasser, verdünnt, dann mit Ammoniak übersättigt. Flüssiges Ammoniak war schon damals als gutes Lösungsmittel bekannt. Bei diesem Prozeß entsteht eine Substanz, die noch in vielen Hausapotheken als Salmiakgeist zu finden ist.

Spannend wurde es, als sich – als Resultat des Experiments kleine Kristalle bildeten, die irgend etwas mit der Wirkung des Opiums zu tun haben mußten. Sertürner verfütterte sie an einen bedauernswerten Hund, der zufällig an seiner Tür herumschnüffelte. «Nach Zufuhr des Stoffes stellten sich alsbald Schlaf und später Erbrechen ein. Bei erneuter Aufnahme wurde alles erbrochen; doch die Neigung zum Schlafe hielt mehrere Stunden an.» Somit war klar: Wenn die Kristalle die gleichen Symptome wie Opium hervorrufen, sind sie die eigentliche Grundsubstanz. Ein zweiter Tierversuch endete sogar tödlich, das Tier «taumelt schlafsüchtig und stirbt schließlich».

Sertürner, bewandert in griechischer Mythologie, nennt den von ihm entdeckten Stoff nach Morpheus, dem Gott der Träume, Morphium. Neugierig, wie er ist, probiert er ihn selbst aus, zusammen mit drei jugendlichen Freunden. Zunächst beobachtet er Übelkeit und einen betäubenden Schmerz im Kopf, dann, nachdem die Versuchspersonen die Dosis erhöhen – sie nehmen das Pulver zusammen mit Wasser und Alkohol ein -, «Ermattung und starke an Ohnmacht gränzende Betäubung». Sertürner glaubt an eine Vergiftung, schreibt er 1817 in den «Annalen der Physik», die in ihm eine «solche Besorgniß» auslöst, daß «ich halb bewußtlos über eine Viertelbouteille starken Essig zu mir nahm, und auch die übrigen dies thun ließ. Hiernach erfolgte ein so heftiges Erbrechen, daß einige Stunden darauf einer von äußerst zarter Constitution, dessen Magen bereits ausgeleert war, sich fortdauernd in einem höchst schmerzhaften, sehr bedenklichen Würgen befand».

1817 wird das Morphin in ein Arzneibuch eingetragen. Erst nach einer Würdigung durch den französischen Physiker Louis-Joseph Gay-Lussac erringt der junge Apotheker Anerkennung, die sich aber in Deutschland in Grenzen hält. Der neue Forschungszweig, zu dem er die Tür weit aufgestoßen hat – die Alkaloidchemie -, zeigt erst viel später seine Früchte.

sertürner

1826 beginnt der Apotheker Emanuel Merck im Laboratorium der Engel-Apotheke in Darmstadt mit der kommerziellen Herstellung des Morphiums als Schmerz- und Schlafmittel. Es ist bekannt, daß Morphin euphorisierend wirkt. Die Mediziner und Forscher diskutieren aber mehr darüber, wie sich die Nebenwirkung der oralen Einnahme – der obligatorische Brechreiz – vermeiden läßt. Man sucht eine Möglichkeit, den Weg durch den Magen zu umgehen.

Morphium wird, um eine Überdosierung zu vermeiden, auch als Salbe oder Öl verschrieben. Damit das Medikament schneller und intensiver wirken kann, empfehlen einige Mediziner das Katharindenpflaster, das eine Hautblase erzeugt. Die schützende Haut ist somit «ausgetrickst»: Auf die verdünnte Stelle, die Blase, kann die morphiumhaltige Salbe oder das Puder aufgetragen werden.

Die «hypodermatische Inokulation» kommt dem Spritzen schon ein wenig näher: Mit einer Nadel schiebt der Arzt kleine Mengen des Medikaments unter die Haut. Als Charles Gabriel Pravaz 1853 die Injektionsspritze erfindet – sein Kollege Alexander Wood hat zwei Jahre später die gleiche Idee -, nimmt die Sache ihren Lauf. Ein Badearzt in Schlangenbad spritzt einer Frau, die an «hysterischen Krämpfen» leidet, Morphium unter die Bauchdecke – mit dem Erfolg, daß ihre Beschwerden schlagartig verschwinden.

pravaz-spritze

Das spricht sich herum. In wenigen Jahrzehnten entwickelt sich Morphium – heute: Morphin – zum Heilmittel für alles und jedes: gegen Husten und Schmerzen, gegen Schnupfen, Krämpfe und Augenleiden. Wer sich nur glücklich fühlt, gilt als geheilt. Im Krimkrieg, in den Kriegen zwischen Preußen und Dänemark bzw. Österreich, im deutsch-französischen Krieg, im amerikanischen Bürgerkrieg: Überall wird Morphin gespritzt, was das Zeug hält.

Nur gibt es eine neue, ebenfalls unerwünschte Wirkung des Wundermittels: Wenn man es dem Patienten plötzlich vorenthält, läuft er Amok oder verfällt in tiefe Depressionen – was die Kampfmoral nicht gerade hebt. Militärärzte nennen die Symptome des Morphin-Entzuges die «Armee-» oder «Soldatenkrankheit».

Wer oder was an den Problemen der Morphin-Konsumenten schuld ist, bleibt unklar. Patienten, die an eine bestimmte Dosis gewöhnt sind, neigen zur Selbstmedikation und – das wird beobachtet – zur Dosissteigerung. Ärzte konstatieren eine «Zerrüttung des Nervensystems» – obwohl niemand genau weiß, inwieweit «die Nerven» von Morphin in Mitleidenschaft gezogen werden – und «schwere psychische Störungen» – Ursache oder Folge des vermehrten Konsums oder nur des zeitweiligen Absetzens? Auch das ist nicht erforscht. 1874 erklärt der erste Arzt den überhöhten
Morphingebrauch zur Krankheit sui generis.

Schon 1856 vermutet die Polizei, die staatliche Ordnung im allgemeinen und besonderen sei durch den Drogenmissbrauch in Gefahr. Der Polizeipräsident von Berlin erläßt eine Verfügung, daß Ärzte Morphium nur wiederholt abgeben dürften, wenn darüber ein schriftlicher Vermerk angefertigt würde. Von «Drogensucht» ist aber noch nicht die Rede.

Der Berliner Arzt Eduard Levinstein ist der erste, der die Begriffe «Sucht» und Morphium verklammert. In einer 1880 erschienenen Monographie unterscheidet er zwischen dem «Morphinismus», der eine Vergiftung sei, und der «Morphinsucht». Er versteht darunter die «Leidenschaft des Individuums, sich des Morphiums als Erregungs- oder Genußmittels zu bedienen, da dasselbe unvermögend ist, von dem Mittel ohne Nachtheil für das subjektive Wohlbefinden zu lassen, und den Krankheitszustand, der sich durch die mißbräuchliche Anwendung des Mittels herausbildet». Männer seien für die «Sucht» anfälliger, da sie im Berufsleben höheren Anforderungen genügen müßten. Morphinsüchtig seien fast ausschließlich Ärzte und Offiziere.

Bereits fünf Jahre zuvor hatte Levinstein über die Morphiumbegeisterung gewisser Kreise berichtet. In der «Berliner Klinischen Wochenschrift» vom 29.11.1875 heißt es dazu: «Aus der ersten Sitzung der inneren Medizin erfahren wir, daß das so alt bewährte Mittel, die Sorgen des Daseins in die Freuden elyseischer Träume zu verwandeln, bei uns von einer Mode bedroht zu werden anfängt, die diesmal nicht von Westen, sondern ausnahmsweise einmal von Osten ihren Einzug hält. Bisher schien es ein erprobtes Vorrecht des Muselmannes zu sein, sich mit Hilfe des Opiums hinüber zu schwingen in das Reich ungetrübter Genüsse. Glieder unserer gebildeten und höheren Stände, theilt uns Herr Sanitätsrath Dr. Levinstein mit, beginnen indes im Anschluß an den medicamentösen Genuß des Narcoticums ebenfalls des vom Koran verpönten Saftes der Rebe überdrüssig zu werden. Auch sie ziehen es vor, ihr Dasein mit Opium zu würzen, das sie zwar nicht wie der Türke mit gekrümmten Beinen dem Tschibuk entnehmen, aber ihrer höheren Kultur entsprechend gleich als reines Alkaloid sich mit oder ohne Zuhilfenahme der Pravazschen Spritze einflößen. Den antiquierten Alkoholrausch überlassen sie dem ‘gemeinen’ Mann, müssen aber mit ihm gewisse Folgen theilen, die dem Alhoholismus nicht ganz unähnlich sind, und von denen leider auch die Morphiumfreunde nicht verschont bleiben.»

levinstein morphinsucht

Die Zeitschrift bedient sich einer feinen Ironie, die zu wütenden Protesten aufgeregter Drogenpolitiker wegen «Verharmlosung» führen würde, übertrüge man die Aussagen auf heutige Verhältnisse: Die Heroin«freunde» wollen von der etablierten Saufkultur nichts wissen. Sie ziehen es vor, sich mit dem «alt bewährten» Opium zu berauschen. «Ihrer höheren Kultur entsprechend» essen oder rauchen sie es aber nicht – wie viele der «ausländischen Drogendealer» -, sondern injizieren sich das mit modernen chemischen Methoden hergestellte Derivat Heroin. Bedauerlicherweise» leiden auch sie, wie Alkoholiker, an unangenehmen Entzugssymptomen.

Morphin, so zeigt der Bericht Levinsteins, war – nicht als Medikament, sondern als Genussmittel – zunächst eine Modedroge der «besseren Kreise». Eine bestimmte Form des Gebrauchs, die Injektion, setzte die Konsumenten sozial von anderen. Drogenkonsumenten ab: Die intravenöse Applikation war ein Zeichen «höherer Kultur».

Heute gilt das Gegenteil: Wer Drogen spritzt, fällt unter die – abwertend verstandenen – Kategorien «Fixer» oder «Junkie» und muß mit den klischeehaften Vorverurteilungen wie «unzuverlässig», «heruntergekommen» und «kriminell» rechnen. Alkoholiker, die ihr Rauschmittel oral einnehmen und sogar in deutschen Parlamenten zu finden sind, gelten dagegen, solange sie nur ihren eigenen Körper ruinieren, als sozial unschädlich.

Alle Formen, die heute diskutiert werden, um Morphinabhängige zu behandeln, waren schon im vergangenen Jahrhundert bekannt. Ärzte schlugen den «kalten Entzug» vor, das abrupte Absetzen, was eine knappe Woche dauerte. Andere empfahlen, während des Entzugs Haschisch oder Marihuana zu rauchen. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud propagierte Kokain: «Freud selbst hatte Kokain seinem Freund Fleischl von Marxow verabreicht, der nach einer Daumenamputation morphinabhängig geworden war.» Beliebt war auch die Substitution durch Codein, die in den neunziger Jahren zum therapeutischen Standard gehörte.

Keine Evidenz oder: Wir, die guten Pinkswasher

genderwahn

Sehr hübsch: Das ehemalige Nachrichtenmagazin widmet eine Seite den Ergebnissen einer wissenschaflichen Studie, die belegt: „Das generische Maskulinum ist mehr als 1000 Jahre alt. Befürworter des Genders bringt das in Erklärungsnot.“

Falsch. Mit solchen Leuten kann man nicht argumentierten. Das ist wie mit Esoterikern, wie wollen, dass man Globuli fresse.

Aber beim Gendern gehe es um mehr als nur Sprache. Das demonstrative Bemühen um Geschlechtersensibilität sei längst zum „funktionalen Pride-Design“ geworden, sagt Ewa Trutkowski. Fernab der sprachlichen Realität weiter Teile der Bevölkerung biete es Unternehmen, Journalistinnen und Politikern eine bequeme Möglichkeit, sich als fortschrittlich, achtsam oder moralisch gut zu inszenieren. Solcherlei »Pinkwashing« funktioniere auch und gerade dort, wo Frauen für dengleichen Job schlechter bezahlt als Männer und die Verantwortlichen „bis zum Hals im Gender-Pay-Gap stecken“.

Vom Opium zum Heroin – Papaver somniferum macht Karriere

Vom Nepenthes zur Hexensalbe

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Marc Aurel, römischer Kaiser und Philosoph, war voll auf Turkey. Und das während eines Feldzuges gegen die barbarischen Markomannen und Quaden! Er fühlte sich hundeelend und war kaum imstande, den taktischen Erörterungen seiner Kommandeure zu folgen. Dabei gab es keinen Grund, besorgt zu sein: Die römischen Legionen, überlegen in militärischer Taktik und Logistik, eilten im zweiten nachchristlichen Jahrhundert im Einzugsgebiet der Donau von Sieg zu Sieg.

papaver somniferum

Der Leibarzt des Feldherrn, der Grieche Galenos aus Pergamon, untersuchte den kaiserlichen Patienten zum wiederholten Male. Die Symptome: eine triefende Nase, allgemeine Depressionen, Gliederschmerzen, Schlafstörungen, sporadisches Erbrechen. Die langandauernde Verstopfung, die den hohen Herrn schon seit Jahren plagte, war einem lästigen Durchfall gewichen. Galenos kannte das Gegenmittel – Theriak. Nur hatte man offenbar zuwenig davon aus dem fernen Italien mitgenommen.

Marc Aurel pflegte täglich eine Dosis in Bohnengröße zu sich zu nehmen, des Geschmacks wegen gemischt mit Wein, Wasser oder Honig. An die wichtigste Zutat des Medikaments, den Saft der Mohnkapseln – Opium -, war vor Ort schwer heranzukommen, nicht weil die Germanen schon damals ein rigides Betäubungsmittelgesetz gekannt hätten, sondern weil sie sich lieber mit Alkohol berauschten.

Den Aufzeichnungen Galens, wie er später genannt wurde, verdanken wir die erste Krankengeschichte eines Opium-Abhängigen in der Antike. Ursprünglich hatte der Römerkaiser den Theriak, den sein Arzt mit rund vierzig Prozent Opium angereichert hatte, zur Immunisierung und prophylaktisch gegen allgemeine Beschwerden genommen. Da die Wirkung aber mit der Zeit nachließ, musste er die Dosis steigern – mit Auswirkungen auf seine Schreibtischtätigkeit. Aurel wurde bei der Arbeit des öfteren vom Schlaf ergriffen. Er habe, so Galen, daher angeordnet, das Opium vom Theriak zu trennen. Nun aber brachte der Kaiser die Nächte schlaflos zu und war gezwungen, nicht zuletzt, weil er «an den Mohnsaft gewöhnt war», diesen dem Theriak wieder zuzufügen. Immer wenn er von seinen Eroberungszügen heimkehrte, verlangte es ihn ausdrücklich nach der richtigen Zusammenstellung «nach alter Gewohnheit der kaiserlichen Leibärzte». (1)

sch langengöttin

In der Tat eine sehr alte Gewohnheit! Theriak war eine vereinfachte Variante des Mithridats, genannt nach dem König Mithridates VI. Eupator Dionysos von Pontus. Dieser hatte im zweiten vorchristlichen Jahrhundert nicht nur den Römern an der nördlichen Schwarzmeerküste erbitterten Widerstand geleistet, sondern sich durch medizinische Experimente mehr als eine Fußnote in der Geschichte gesichert: Auf der Suche nach einem Gegengift, vor allem gegen Schlangenbisse, mixte er ein halbes Hundert Ingredienzen zusammen. Er probierte dieses Gebräu an den Staatsgästen und seinem Freundeskreis aus, der sich schlagartig verkleinerte. Ein Fünftel des Mithridats bestand aus dem Milchsaft der Köpfe des Papaver selvaticum, heute bekannt als Papaver somniferum, zu deutsch Schlafmohn.

Diese Pflanze gehört schon mindestens seit dem zweiten Jahrtausend v. Chr. zum Kulturgut der Menschheit. Eine minoische Göttin, deren Statue bei Heraklion gefunden wurde, trägt auf dem Kopf einen Kranz aus Schlafmohnkapseln. Ihr Gesicht, wahrscheinlich um 1400 v. Chr. von einer unbekannten Künstlerin erschaffen, hat einen ekstatischen Ausdruck. Schon auf den ältesten babylonischen Tonzylindern finden wir Mohnkapseln als Attribute des Göttlichen.

Wir wissen nicht, ob Mithridates sich an stillen Abenden von den Gesängen der Odyssee erbauen ließ. Vielleicht suchte er nur nach dem Wundertrank Nepenthes, der in keiner Geschichte des Opiums fehlen darf: Die schöne Helena, davon berichtet das homerische Epos, habe den Wein, wovon die antike Männerrunde kostete, mit einem «Mittel gegen Kummer und Groll und aller Leiden Gedächtnis» gewürzt. Der Effekt der «künstlich bereiteten Würze» soll erstaunlich gewesen sein und gleicht dem des Opiums aufs Haar. Im vierten Gesang der Odyssee heißt es: «Dann benetzet den Tag ihm keine Träne die Wangen, War ihm auch sein Vater und seine Mutter gestorben, Würde vor ihm sein Bruder und sein geliebter Sohn auch Mit dem Schwerte getötet, daß seine Augen es sähen.»

Wer Nepenthes zu sich nimmt, bleibt cool, selbst dann, wenn die Liebsten dahingemetzelt werden. Dieser altgriechische Tranquilizer wurde so berühmt, dass Generationen von Ärzten versuchten, dem Rezept des Gebräus auf die Spur zu kommen.

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Öffentliche Theriak-Zubereitung in Venedig 1512.

Das Mithridat fiel dem römischen Feldherrn Pompejus in die Hände, der über dessen Wirkung offenbar so viel Gutes hörte, daß er es seiner Feldapotheke einverleibte. Spätere Militärärzte differenzierten zwischen Mithridat und Mekon rhoias (von Mekone, dem ersten Mohnanbaugebiet Griechenlands), das zum Teil aus Gartenmohn hergestellt wurde: Fünf oder sechs Köpfchen fein gestoßener Samen förderten, zusammen mit drei Bechern Wein, den Schlaf. Häufig findet man aber die Warnung, schon in Erbsengröße wirke die Droge hypnotisch, ein Übermaß führe zum Exitus. Mekonit, der Preßsaft der Köpfe und der Blätter, sei weniger stark als das durch Anritzen gewonnene Opium, Dakryon («Träne») genannt.

Der Leibarzt des Kaisers Claudius, Scribonius Largus, hinterließ in einem Rezeptbuch den Rat, man solle der Drogenmixtur Mekonium unbedingt «wirkliches Opium» hinzufügen, «welches nur aus dem Milchsaft der Köpfe und nicht aus dem Saft der Blätter von papaver selvaticum gewonnen wird, wie die Händler es tun, um bei diesem Gegenstand einen Profit zu haben. Ersteres [Opium] nämlich wird mit großer Mühe und nur in geringer Quantität hergestellt, dieses [Mekonium] dagegen mit Leichtigkeit und im Überfluss.»

Der Arzt Andromachus der Ältere, der sich um Claudius‘ Nachfolger Nero kümmern mußte, ließ dieses und jenes weg, streckte es mit anderen Substanzen und nannte das Gemisch Theriak, wahrscheinlich nach dem griechischen theriakos: «wilde, giftige Tiere betreffend». Nero soll täglich einen Viertelliter davon getrunken haben, schreibt Hans-Georg Behr in seinem Standardwerk Weltmacht Droge zum Thema. «Eine Dosis, die nur ein hochgradig Süchtiger zu überleben imstande ist.»

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Französisches Theriakgefäß (1782)

Auch Kaiser Titus konnte nicht damit umgehen und starb an einer Überdosis. Aus der Zeit Trajans ist überliefert, dass schon damals Opiate gestreckt wurden, neben harmlosen Stoffen auch mit unappetitlichen Substanzen wie natürlichem Gummi und Schmierfett. Zu Anfang des dritten nachchristlichen Jahrhunderts hatte man im kaiserlichen Palast mehr als 17 Tonnen Opium gehortet. Als Diokletian Höchstpreise für Drogen festsetzte, kostete eine Einheit Haschisch 80 Denare, Opium aber 150.

In der klassischen Antike war Mohn bzw. Opium aber weniger als Rauschmittel beliebt. Die medizinische Indikation überwog. Um sich in Ekstase zu versetzen, benutzten die Griechen das Nachtschattengewächs Bilsenkraut (Hyoskyamus oder Saubohne) (3) und die Alraune (Mandragora), mit der sich die Zauberin Circe die Männer gefügig machte. Die Alraune wuchs nach alter Legende auf der Insel Hypnos, einem Reich dunkler Träume, wo Mohn wuchert und «Mandragoren blühen, umflattert von stillen Schmetterlingen, den einzigen Vögeln des Landes» (2). Mandragora galt auch als eine Pflanze, mit der man sich in ein Tier verwandeln konnte: Der Rausch löste die Grenzen der bewussten Identität auf. Im Traum oder durch Halluzinationen kommunizierten die Drogen-Konsumenten mit der Götter- und Tierwelt.

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Gemeine Alraune (Mandragora officinarum)

Auch der legendäre Globetrotter Odysseus scheint seine Angst vor dem einäugigen Zyklopen mit Drogen betäubt zu haben: Bekanntlich wurden seine Gefährten in Schweine verwandelt – vielleicht ein diskretes Wortspiel mit dem Hinweis auf die Schweine- oder Saubohne. Die Gesänge des homerischen Heldenepos wirkten, was ihre Hinweise auf Drogengebrauch angeht, bis in die frühe Neuzeit. Noch 1648 nannten die Einwohner des französischen Toulouse ein Präparat aus Saubohnen bzw. Bilsenkraut und Opium thebaicum (das griechische Theben war ebenfalls ein wichtiges Anbaugebiet für Mohn) Nepenthes – nach dem Wundertrank der Helena.

Zweifellos war die tödliche Wirkung einer Überdosis Opium bereits im Altertum allgemein bekannt. Deshalb versuchte man, den Saft mit anderen, schwächeren Substanzen zu verfeinern. Gaius Plinius Secundus der Ältere (23-79 n. Chr.) listet die Risiken in seiner «Naturgeschichte» auf. Der Vater eines Konsuls, der an einer unheilbaren Krankheit litt, habe sich mit Opium umgebracht, worauf einige andere Bürger es ihm nachahmten. Gaius Plinius gibt auch konkrete Tips, wie man feststellt, ob die Droge Fremdsubstanzen enthält – mit der Flammenprobe. Das gilt heute noch: Den Unterschied zwischen Heroin mit hohem Reinheitsgrad, das geraucht werden kann, und gestrecktem Stoff, der nur für eine Injektion taugt, testen Fixer, indem sie ein Feuerzeug unter ein Stück Alufolie halten, auf dem sie das Heroin angehäuft haben. Knistert das erwärmte «H» oder verbrennt es mit schwarzen Rückständen, ist es verunreinigt.

Die arabischen Ärzte verordneten Opium, ebenso wie ihre römischen Vorgänger, vornehmlich gegen Husten, Schlafstörungen und Durchfall, aber in Kombination mit anderen Mitteln. Der Perser Avicenna Ibn Sina (980-1037) – bekannt aus dem Bestseller «Der Medicus» – hielt es für ein beruhigendes Hypnoticum, es bestünde aber aus Stoffen, die den Geist zerstören könnten. Damit hatte sein Zeitgenosse und Kollege mit dem schönen Namen Abu al-Rayhan Muhammed ben Ahmad al Biruni Erfahrungen. Ihm verdanken wir eine exakte Schilderung der Folgen des Opium-Missbrauchs: In Mekka hätten sich, so schreibt er, viele Leute an den täglichen Opiumgenuss gewöhnt, um Kummer, Verzweiflung und die Auswirkungen der Hitze besser ertragen zu können, sich einen längeren und tieferen Schlaf zu verschaffen und um Ausschweifungen zu verhindern (!) sowie Stimmungsschwankungen zu beheben. Sie begännen mit kleineren Dosen, die sie allmählich bis zu tödlichen steigerten.

Opium fehlte in keiner Apotheke des Mittelalters als Heilmittel. Die populäre Pappelsalbe (Unguentum populeon) zum Beispiel enthielt Papaver. Eine der bedeutendsten pharmazeutischen Formelsammlungen, die bis ins 18. Jahrhundert gültig war, die «Antidotarium Nicolai» aus der Mitte des 12. Jahrhunderts, beschreibt 29 Opiumpräparate und eine große Zahl weiterer Rauschmittel – bei insgesamt 140 Mitteln. «Über ein Drittel aller Präparate», so der Arzneimittel-Spezialist Heinz-Josef Kuhlen (2) in einem umfangreichen Buch über die Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel, «beinhalten also zumindest eine der Drogen mit narkotischer oder das Zentralnervensystem beeinflussender Wirkung.»

Doch nicht nur Mediziner und Pharmazeuten benutzten die heilsamen Wirkungen des Mohns, sondern auch diverse Finsterlinge. Aus dem Jahre 1376 stammt eines der ersten Rezepte für «K.O.Tropfen»: Das Schlafpulver benutzten «Gesellen, um Pilgrimen, wenn sie eingeschlafen sind, ihr Silbergeld zu rauben.» Enthalten waren in der Mixtur Samen von Bilsenkraut, Taumellolch, schwarzer Mohn und die Wurzel von Gichtwurz «zu gleichen Teilen» – die Wirkung des Gebräus muß durchschlagend gewesen sein. «Von diesem Pulver gib ihm in seine Suppe oder in seinen Trunk, und er wird alsdann schlafen, ob er will oder nicht, einen ganzen Tag oder mehr.»

Zivilisiertere Zeitgenossen nahmen das Opium für friedliche Zwecke. Ein Weinkenner des 15. Jahrhunderts empfiehlt einen «dollen drangk», mit Mohnsaft, den man mit «eyner guder quarten wyßen weyns» vermischen solle. «So giff dem menschen gegen eynen glaiß voll drincken, so wirt er von stund an slaiffen.»

laudanum

Ein Medikament, das bis in die Neuzeit beliebt blieb, war Laudanum. Es findet sich noch in der Hausapotheke des Geheimrates Johann Wolfgang von Goethe, der dieses opiumhaltige Präparat regelmäßig zu sich nahm. Goethe setzte auch dem angeblichen Erfinder des Laudanums ein literarisches Denkmal: Sein Dr. Faustus trägt Züge eines Drogendoktors, der im 16. Jahrhundert von sich reden machte: Philipp Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541).

Paracelsus, ein gebildeter Mann mit einem geschäftsfördernden Hang zur Scharlatanerie, reiste quer durch Europa und schwatzte Fürsten und Ratsherren seine Wundermittel gegen dieses und jenes auf – natürlich gegen harte Devisen. Seine beeindruckendste Behauptung war eine Vorwegnahme der Frankenstein-Geschichte im Bonsai-Format: Durch Destillation seines eigenen Spermas könnte er einen künstlichen Menschen, den Homunculus, erschaffen. Viele seiner Ratschläge und Rezepte schlugen allerdings nicht an. In vielen Städten wurde er als unerwünschter Vagabund ausgewiesen.

Eines seiner Medikamente aber kurierte auch hoffnungslose Fälle: «Ich habe ein archanum, heiß ich Laudanum», sagt Paracelsus, «ist über das alles wo es zum tot reichen will.» Will sagen: Das heilt selbst Todkranke. Die Legenden, die Paracelsus um seine eigene Person und über seine Wunderdroge schon zu Lebzeiten verbreitete, lebten weiter, auch in den medizinischen Lehrbüchern bis zur heutigen Zeit. Immer wieder wird behauptet, sein Laudanum habe den Saft der Mohnkapseln enthalten. Das ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Paracelsus hat zwar ein Opiumpräparat verordnet, das er specifico anodia nannte. Die einzige überlieferte Vorschrift über die Zubereitung des Laudanums enthält aber kein narkotisierendes Mittel. Wahrscheinlicher ist, daß erst Nachfolger und Epigonen des genialen Aufschneiders und Drogendoktors darauf bestanden, zum Allheilmittel Laudanum gehöre auf jeden Fall eine kräftige Beimischung Opium.

Bis zum ausgehenden Mittelalter lagen die medizinischen Kenntnisse weitgehend in den Händen von Frauen, die in literarischen Quellen als «Kräuterweiblein» oder «Hexen» auftauchen. Sie waren in der Anwendung einer Vielzahl natürlicher Rauschmittel bewandert, ein Wissen, das den Zeitgenossen ebenso faszinierend wie unheimlich erschien. So kannten sie die Macht der Tollkirsche, die auf den Kreislauf wie Speed wirkt und die Pupillen vergrößert («Belladonna»). Mit dem Extrakt der Mandragora (Alraune) konnten sie psychedelische Halluzinationen auslösen. Sie wußten mit dem Stechapfel umzugehen, der das berauschende Skopolamin enthält, das in zu hohen Dosen, wie mehrere hundert Jahre später erforscht, zeitweilig die Symptome der progressiven Paralyse hervorruft. Und sie konnten mohnhaltige Präparate so dosieren, daß der Patient «zugeknallt» war oder einfach nur gut schlief.

belladonna
Gabriel von Max, Atropa Belladonna, 1887

In Shakespeares «Othello» heißt es: «Nicht Mohn und nicht Mandragora noch alle Schlummersäfte der Natur verhelfen dir zu dem süßen Schlaf…» Vielleicht hätten die «Kräuterweiblein» in diesem offenbar schweren Fall von Schlaflosigkeit Schierling verordnet, der zwar, wie auch Taumellolch, in kleinen Mengen lüstern macht, aber zusammen mit Mohn und Eisenhut (Akonit) schnell ins Reich der Träume, wenn nicht gar ins Jenseits führt. Die heilkundigen Frauen wußten auch, welche Dosis Cannabis richtig anturnt. In den deutschen Märchen haben die bösen Hexen rote Augen und können nicht weit sehen – diese körperlichen Symptome tauchen nach der Einnahme einer kräftigen Prise Bilsenkraut auf. Wenn die Gebrüder Grimm genauer recherchiert hätten, wäre ihnen aufgefallen, dass Hexen häufig mit Kopfschmerzen und trockenem Mund aufgewacht sind – eine Nachwirkung des in Nachtschattengewächsen wie auch in Bilsenkraut enthaltenen chemischen Wirkstoffs Atropin.

Die alleinseligmachende Kirche mit ihrem Monopol auf Seelen- und anderes Heil unterdrückte seit dem Spätmittelalter alle Methoden, Kranke ohne religiöse Mittel zu kurieren. Sie hielt mehr vom Gesundbeten. Die «althergebrachten schamanistisch-magischen seelsorgerischen Praktiken der weisen Frauen» waren eine unliebsame Konkurrenz, die es auszuschalten galt.

Dieser Feldzug gegen heilkundige Frauen, der im Hexenwahn mündete, hatte alle Charakteristika des heutigen «Krieges gegen das Rauschgift»: Zuerst sucht man eine griffige Bezeichnung für die Angehörigen der gesellschaftlichen Gruppen, die diskriminiert werden sollen. In der Kollektivbezeichnung «Hexe» fließen Elemente des volkstümlichen Gespensterglaubens ein – die bösen Dämonen fliegen durch die Luft, können sich in Tiere verwandeln und verursachen durch Zauberei allerlei Schaden. Die Vorstellung, daß sich Hexen mit dem Teufel einlassen, stammt aber von mittelalterlichen Theologen, die ihre Projektion von einer subversiven Drogen-Subkultur mit sexuellen Phantasien anreichern. Die Angst vor der Sexualität der Frauen schlägt in Haß und Verachtung aller weiblicher Magie um.

Dann verkehrt die kirchliche Propaganda das reale Machtverhältnis in sein Gegenteil. Die Minderheit, die unter Verfolgung, Elend und Folter durch die Herrschenden leidet, ist plötzlich gefährlich für die braven Bürger, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten: Die Hexen sind unser Unglück. Ist «die Hexe» als «Problem» definiert, das wie eine Flut über die Gesellschaft hereinbrechen könnte, ertönt unweigerlich der Ruf, diesem «Problem» mit stärkerer Polizeipräsenz zu begegnen – vor und zu Paracelsus‘ Zeit in Gestalt der Inquisition.

hexenhammer

1484 beauftragt Papst Innozenz VIII. die Dominikaner Heinrich Institores und Jakob Sprenger, gegen «Zauberer und Hexen» vorzugehen. Sprenger veröffentlicht 1485 eine präzise Folteranleitung, den berüchtigten «Hexenhammer». Seit dem 14., vor allem aber 15. und 16. Jahrhundert gibt es eine Welle von Hexenverfolgungen.

Ein damals wie heute beliebtes Argument hatte der Wormser Bischof Burchard schon im Jahre 1025 in die Diskussion eingebracht: Kinder und junge Menschen würden von der weiblichen Drogen-Subkultur beeinflußt, mißbraucht und seien in großer Gefahr. Das Motto: Wer Drogen nimmt, verführt auch andere dazu. Burchard, von dem eines der ersten Betäubungsmittelgesetze überliefert ist, behauptete, die Hexen würden junge Frauen für ihren Regenzauber benutzen. Ein unschuldiges Mädchen würde entkleidet, dann müsse es Bilsenkraut mit der rechten Hand ausreißen und an die kleine Zehe des rechten Fußes binden. Altersgenossinnen führten es dann zum nächsten Fluß und besprengten es mit Wasser. Schon bald würde es regnen.

Die Fähigkeit der heilkundigen Frauen, sich mit Rauschmitteln in Trance zu versetzen, ist, so die kirchliche Propaganda, nicht ihrem Wissen um die pharmakologischen Eigenschaften der Pflanzen geschuldet, sondern ihnen vom Teufel eingeflüstert worden. Die Substanzen, die sie verabreichen, sind gesundheitsschädlich und gefährlich. Man muß deshalb einen Bogen um die Drogen machen.
Vom Autor des «Hexenhammers» stammt das Rezept einer «Hexensalbe», das ihm angeblich eine Hexe «verraten» habe: Die Angeklagte habe nach eingehender Befragung zugegeben, sie würde mit einer Salbe aus den gekochten Gliedern von Kindern ein Stück Holz bestreichen, auf dem sie dann fliegen könne.

In kaum einer kirchlichen Veröffentlichung über Hexensalben fehlt deshalb der Hinweis, die Heil- und Drogenmixturen seien mit Körperfett von Babys oder Leichen gestreckt oder enthielten ekelerregende Zutaten wie Kröten – was noch Shakespeare in «Macbeth» überliefert. Wenn die Hexen trotz Strafandrohung von ihrem schändlichen Treiben nicht ließen, müsse man sie einkerkern, bekehren, und, falls sie sich therapieunwillig zeigten, zu Tode foltern oder verbrennen.

Das Ergebnis der kirchlichen Hetze gegen die unliebsamen Konkurrentinnen: Die Merkmale, die sich im Bewußtsein der Bevölkerung als die Charakteristika «der Hexen» festsetzen, sind so allgemein, daß alle mißliebigen Elemente damit diskriminiert werden können. Paracelsus‘ Beschreibung der Hexen-Subkultur erinnert an die heutige Presseberichterstattung über die Heroin-Szene: Die Hexen, die laut Paracelsus die Männer haßten, seien mißtrauisch, lügnerisch und verschlossen. Sie fielen durch einen regellosen Tagesablauf unangenehm auf, vernachlässigten die Haushaltsführung und achteten wenig auf Körperpflege. Sie fühlten sich, meint Paracelsus, nur zu Gleichgesinnten, insbesondere Frauen, hingezogen, aber auch zu Outsidern und Künstlern, zwielichtigen Gestalten wie «Magici», Landfahrern, Gauklern, Schauspielern und Taschenspielern. Außerdem trügen die Hexen außergewöhnliche Körpermale, die «signa», und übten sich in zauberischen, den Uneingeweihten unverständlichen Ritualen.

Der venezianische Priester Girolamo Tartarotti sagt noch im 18. Jahrhundert über Hexen, diese seien «ungebildete, einfältige Leute vom Lande», abgemagert, entstellt, mit stechenden Augen, von gelber Gesichtsfarbe, verschlossen und eigensinnig.1 Das Ergebnis der Unterdrückung und Verfolgung, die Verelendung, wird «den Hexen» zum Vorwurf gemacht und der Öffentlichkeit als abschreckendes und warnendes Beispiel vor Augen geführt.

Das gleiche Klischee gilt für heutige Heroin-Konsumenten. «Fixer bilden eine exklusive Gruppe, zu denen Außenstehende keinen Zutritt haben.» Ein «charakterliches Merkmal» für Drogenmissbrauch, so die Polizei, seien «häufiges Lügen» und «Vernachlässigung der Körperpflege». (4) Fixer lebten nur in den Tag hinein, von «Schuss» zu «Schuss», von einer «geregelten Haushaltsführung» ganz zu schweigen. Außergewöhnliche Körpermerkmale seien «blasses, ungesundes Aussehen, starke Gewichtsabnahme, extrem erweiterte oder verengte Pupillen, Reizhusten, Händezittern sowie erhöhte Berührungs-, Schmerz- und Lichtempfindlichkeit.»“ (5) Das Ritual des Fixens ist Außenstehenden fremd und hat die Aura des Geheimnisvollen, sei für Unkundige sogar lebensgefährlich.

Sogar die Vorschläge, wie man mit der Drogen-Subkultur umzugehen habe, sind seit den Zeiten des Paracelsus die gleichen geblieben. Johannes Wiehr alias Johannes Weyer, im 16. Jahrhundert Leibarzt eines niederrheinischen Herzogs, schlug für Hexen eine religiöse Therapie vor. Ursache ihres «Wahns» seien depressive Veranlagungen. Die Hexen versuchten sich, so Heinz-Josef Kuhlen, «über ihre Stimmungsschwankungen, ihre Hilflosigkeit und das elende Alltagsleben hinwegzutrösten», wobei sie «oft zu Betäubungsmitteln griffen». Diese Gründe werden noch 400 Jahre später als die angesehen, die angeblich zu Drogenabhängigkeit führen.

Die Verdammung der «Hexen» und ihrer Heilkunde hat auch für viele Kranke schmerzhafte Folgen: Im 17. Jahrhundert weigern sich Ärzte, bei Schmerzen oder vor chirurgischen Eingriffen Drogen wie Opiate oder Nachtschattengewächse zu verordnen. Da das Wissen um die richtige Dosierung verlorengegangen ist, haben sie Angst vor Todesfällen. Außerdem fürchten sie wegen der zum Teil halluzinatorischen Nebenwirkungen bei den Patienten, sie könnten der Hexerei angeklagt werden.
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(1) Zitiert nach Margit Kreutel: Die Opiumsucht, 1987
(2) Zitiert nach Franz-Josef Kuhlen: Zur Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel in Mittelalter und früher Neuzeit, 1983
(3) Der Volksmund hat die Wirkung von Bilsenkraut auf Haustiere überliefert: Die Pflanze heißt bei Bauern «Hühnertod».
(4) Berliner Zeitung, 15.06.1992, S. 10
(5) bd. Die Symptome beschreiben genau das Gegenteil, nämlich den Entzug («Turkey»), also den Zustand, wenn ein Abhängiger kein Heroin zur Verfügung hat. In spanischen Zeitungen hat der Autor die Behauptung von Journalisten, die «lange» recherchiert hätten, gefunden, Junkies brauchten Ascorbinsäure, um die Einstichstellen zu desinfizieren – in Wahrheit dient es zum Aufkochen des Heroins.

Sluts

space sluts

Dem edlen Spender A. N. gewidmet!

„Gemeine Doppelbödigkeit“

„In Polen werden die doch gleich geklaut“, sinniert Lisa Eckhart über einen möglichen Weg deutscher Panzer in die Ukraine.

LMAO.

Old Farts of Space

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nal season
Credits: Alle Screenshots Amazon

Ja, ich folgte Fefes Rat: „In die neue Serie Picard habe ich kurz reingeschaut und war dann massiv enttäuscht. Das war Modern Trek, nur noch schlimmer. Offensichtlich von Leuten gemacht, die nicht mit Star Trek aufgewachsen sind, die anscheinend auch einen Dreck auf die Werte gaben, um die es bei Trek früher ging. (…) Warum schreibe ich das alles? Weil die 3. Staffel von Picard den ganzen Scheiß über Bord geworfen hat. (…) Ich kann mich ehrlich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal der nächsten Episode einer Trek-Show entgegen gefiebert habe. Muss bei DS9 gewesen sein oder so. Bei Picard Season 3 habe ich das wieder. Das ist der erste gute Trek seit 25 Jahren.“

star trek final season

Genau so ist es: Optisch fast auf dem Niveau von The Expanse. Die Schauspieler sehen besser und charaktervoller aus, weil sie real älter als in der Original-Serie sind. Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert wurde 1987 ausgestrahlt. Patrick Steward als Jean-Luc Picard war damals 47 und ist jetzt 83. Er bringt eine körperliche Präsenz ein, die man vom alten Sean Connery kennt.

star trek final season

Offenbar hatte man ein Einsehen, dass es nichts bringt, wenn man ständig neue Charaktere einführt, wie in Staffel eins und zwei der „Picard“-Serie, die vermutlich ein Publikum bedienen sollten, dass man aus anderen Genres herüberziehen wollte – wie einen Schwertkämpfer, der eher zu The Witcher passte.

star trek final season

Jetzt versammeln sich alle old farts (Hey? Seit wann kriegen Androiden graues Haar?), die man so kennt und die zum Bildungskanon der Popkultur gehören.

By the way: Ich hätte gern auch ein Remake von Star Trek: Enterprise, obwohl ich Scott Bakula aka Jonathan Archer nicht ausstehen kann, weil er langweilig aussieht, wie aus einem Groschenroman der 50-er Jahre, und, wenn er mit jemandem redet, dem immer den Rücken zuwendet und im Raum unmotiviert und nervtötend herumlatscht. Der wahre Grund wäre natürlich, Jolene Blalock wiederzusehen. Aber die müsste man schon sehr aufbrezeln, damit sie so wirkte wie damals. Ausserdem schauspielert sie nicht mehr.

star trek final season

Lustig ist natürlich, dass man vorher schon weiß: Zwei alte weiße Männer? Dann muss der Rest durchdiversifiziert werden. Alle Helden, auch die weiblichen, waren schon in der 80-er Jahren politisch korrekt: Ein paar wenige Quotenneger Farbige, eine Asiatin usw. Man könnte das chaotisieren und das Publikum verblüffen: Warum nicht ausschließlich Japaner Chinesen – neben den old farts? Ist doch ohnehin realistisch im wasweißichwievielten Jahrhundert. Und nur farbige Lesben. Aber vielleicht kommt das noch.

Fazit: Gut, optisch ansprechend und spannend (ich habe erst einige Folgen gesehen).

star trek final season

Im Augenblick des Kampfes

tagebuch aus bergen-Belsen

„Und noch etwas lernte ich, was nicht vernachlässigt werden darf, nämlich: Im Augenblick des Kampfes, der Aktion, soll man immer mit einem ärgerlichen, hartnäckigen Hindernis rechnen, das von der typischen Haltung kleinlicher, prinzipienloser Leute mit gemeinen Anschauungen und geringer Vorstellungskraft herrührt, dıe nicht nur unfähig sind, eine positive, kollektive, soziale Sache durchzuführen, sondern auch unfähig sind, sie zu begreifen, dıe immer bereit sınd, die anderen zu verwirren, Misstrauen zu verbreiten, den Gang der Dinge zu behindern. Das sınd vor allem die kleinpürgerlichen Typen, verdrießliche, rohe Naturen, die nichts zugeben und begreifen wollen, wenn die beabsichtigte Sache ihnen nicht erlaubt, unmittelbar persönlichen Vorteil daraus zu ziehen. Das sind die korrupten Naturen, die manchmal auf die Korruption schimpfen, aber nur aus Neid, denn sie sind bereit zu schweigen, wenn man ihnen gestattet, am Spiel teilzunehmen. Diese moralische Fäulnis ist ein idealer Nährboden für die Entwicklung reaktionärer Elemente in einer Gesellschaft.“ (Hanna Lévy-Hass).

Ich habe Ende der 70-er Jahre ihre Tochter kennengelernt; sie wohne eine Zeit in unserer WG in Berlin. Vielleicht kann ich sie in Israel treffen…

Immer schön sauber bleiben oder: Abgegrenzt gegen Unglauben und Fremdheit

washing hands
Eine Politikerin der „Linken“, die sich einer Demonstration, auf der auch Wagenknecht zu sehen war, auf weniger als 100 Meter genähert hatte (Symbolbild).

Im kanonischen Verständnis der Ethnologie ist Religion eine Unterkategorie der Kultur. In der globalistischen Perspektive auf Panmixie lösen sich beide Begriffe auf. Gleichsam als vorsichtige Rechtfertigung der zugegebenermaßen unpräzisen Kategorien Religion und Kultur möchte ich ihren gemeinsamen Grund beleuchten, der zwischen Disziplinierung und Lebenshilfe verortet werden kann. Rückbindung an ein Urgeschehen vereint alle Religionen, das Streben nach Reinheit alle Kulturen. Wie dort das Wissen und Erinnern durch Ritus und Mythos am Leben erhalten werden muss, beharren Kulturen ungeachtet ihres synthetischen Aufbaus auf Alter und Authentizität. Die unverzichtbare, d. h. für ein Zusammenleben notwendige Gemeinsamkeit beider Sinnsetzungen liegt in der Disziplinierungsleistung. Religion wie Kultur schaffen Verbindlichkeit, reduzieren Unsicherheit im zwischenmenschlichen Verkehr, sanktionieren Abweichungen und erlauben, ja erzwingen Abgrenzungen gegen Unglauben oder Fremdheit – Qualitäten, die die einmal gestiftete Vertrauenslandschaft bedrohen. (Bernhard Streck: „Bindung und Reinheit – Zum gemeinsamen Grund von Religion und Kultur“)

Meine These ist, dass die Purifikationsrituale der Gefühlslinken in Deutschland nicht politisch, sondern massenpsychologisch erklärt werden können. Man kann mit den Sektierern, die schon beim Erscheinen von Wagenknecht „Querfront“ murmeln, natürlich nicht diskutieren. Ein ethnologischer Blick auf Rituale setzt aber voraus, dass man von sich selbst eine Art Metatheorie hat, was aber gleichzeitig alle festgefügten Weltbilder ins Wanken bringt.

Beispiel: Ich bin als Kind in einer christlichen Sekte großgeworden. Als Student war ich in einer maoistischen Politsekte. Hat das Zweite mich vom Ersten geheilt? Mitnichten. Die Sektiererei hatte sich nur anders kostümiert.

Die Masse der Gläubigen versammelt sich in einem Saal. (Version religiös, Version politisch) Draußen ist der Feind (Version religiös, Version politisch). Die Gemeinde singt ein Lied (Version religiös, Version politisch). Die Prediger schreiten durch die Mitte der wartenden Masse nach vorn. Die Prediger haben die heiligen Bücher (Version religiös, Version politisch). Nur sie können sie richtig interpretieren. (Version religiös, Version politisch) Der Masse wird erklärt, wie sie „rein“ bleiben kann und das Böse außen vor lässt (Version religiös, Version politisch).

Will man aber einem Sektierer erklären, dass es in ähnlichen Gruppen wie der seinen vergleichbare Rituale gebe, die auch einen ähnlichen Zweck erfüllen, wird er das weit von sich weisen, da ja die seine eigene Lehre die einig Wahre ist (und sein muss) und alles andere das Gegenteil, also Lüge. Ich habe beide Versionen ausgekostet, ein drittes Mal kann es nicht geben. Deswegen kamen mir viele der „Parteiveranstaltungen“ der DDR, von denen mir erzählt wurde, „unheimlich“ bekannt vor: Abweichler mussten sich erklären und widerrufen, und die Masse blieb stumm. Ein ähnliches Gefühl hatte ich bei Shtiesel – ich konnte diese erdrückende geistige Enge in der Zwangsgruppe irgendwann nicht mehr ertragen und habe die Serie nicht bis zu Schluss angesehen. זה לא כיף. Auch das kannte ich irgendwie alles aus meiner Kindheit.

Nach dem Thema muss ich mich erholen und etwas darüber lesen, wie Fauda in der Realität aussieht.

The future is getting weirder

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Credits: Jojo’s Photo Studio

Der Fotograf schreibt zu den Fotos: „These photos look like they were taken at a real party. They’re actually images of a house party full of people that don’t exist…. because they’re A.I. generated images. The more you look at them, the more unsettling they are. The future is getting weirder.“

Ich habe für das sechste Foto auch eines in Original-Größe hochgeladen, damit man erkennt, dass die „Intelligenz“ von Computern mit Fingern schlechter klar kommt als Albrecht Dürer vor einem halben Jahrtausend. Warum, weiß nicht nicht. Ich dachte immer, Gesichter seien schwieriger zu „fälschen“ als Hände.

Fauda oder: Aufklärungseinheit Kirsche 

fauda 4

Wo nicht weiser Rat ist, da geht das Volk unter; wo aber viele Ratgeber sind, findet sich Hilfe. (Sprüche 11,14)

Die vierte Staffel von Fauda (Trailer) habe ich jetzt fast ganz angesehen, bis auf die letzte Episode, die, so berichten die Qualitätsmedien, als Cliffhanger enden soll. Man braucht denjenigen, die die ersten drei Staffeln gesehen haben, diese nicht empfehlen, sie werden sie ohnehin anschauen.

Ich kenne merkwürdigerweise niemanden, dem „Fauda“ nicht gefallen hat, außer den üblichen Verdächtigen, die aber angesichts des großen – auch internationalen – Erfolgs jetzt zaghaft zurückrudern (Paywall): „‘Fauda’ Season 4 Captures the Israeli Zeitgeist“.

Vermutlich liegt das auch daran, dass Israel-Hasser und andere Antisemiten sich die Serie gar nicht erst ansehen, weil sie immer noch von einem „Palästinenser“-Staat träumen und etwas Positives wie israelische Spezialeinheiten nicht ertragen können weil die nicht gendern, weil ihre geliebten „Palästinenser“ dort nicht gut wegkommen, ja sogar manchmal erschossen werden, wenn sie wieder mal herumterrorisieren. „‘Fauda’ Isn’t Just Ignorant, Dishonest and Sadly Absurd. It’s anti-Palestinian Incitement“, schreibt ein „Palestinian living in the occupied territories“ im Leib- und Magenblatt deutscher Medien.

Man hat so seine Lieblingsschauspieler. In den ersten Staffeln war ich mir nicht sicher, ob mir Lion Raz alias Doron gefällt. Die Kerle benehmen sich in meinem Sinne orientalisch, Affektkontrolle ist nicht so verbreitet, und manchmal sind sie so erregt, dass sie sich prügeln – die Guten! Von Arabern erwarte ich nichts anderes. So was findet ich immer lächerlich, aber man kann nicht alles haben.

In der vierten Staffel kommt das zum Vorschein, was offenbar schon immer ein Teil des Plots war: Wie Krieg Menschen deformiert, bis sie es nicht mehr aushalten, wenn sie denke können. „Doron“ hat den Charme eines Bulldozers. Man merkt, dass er als Bodyguard gearbeitet hat und bei Verdächtigen nicht lange fackelt. Erst draufhauen, dann fragen. Außerdem hält sich nicht an Befehle. Er war in einer Spezialeinheit und weiß, wie es dort zugeht. Wie aber will man professionell arbeiten, wenn jeder tut, was er will? Sein übergroßes Misstrauen geht allen auf die Nerven, aber am Ende behält „Doron“ recht.

Gleichzeitig sieht man auch, dass er leidet. Nicht zufällig hat die Hauptfigur nur eine Ex-Frau. Es ist schwer, mit ihm auszuhalten, nicht wegen des Charakters, sondern wegen der ständigen Anspannung, unter der er steht. Das ist recht gut und einleuchtend gespielt.

Meine heimliche Lieblingsheldin ist aber Meirav Schirom, nicht nur wegen ihres grandiosen Aussehens und ihrer Ausstrahlung. Sie habe ein Herz aus Stein, sagen die Kollegen im Film, aber es gibt Szenen, in denen sie die Einzige ist, die fordert, man müsse Alternativen finden, anstatt Leute um des höheren Zwecks willen zu opfern. Wenn wie weinen muss, dass macht sie das heimlich.

Die Frauenfiguren machen den Unterschied zu vielen Hollywood-Produktionen aus. Von israelischen Produktionen erwartet man, dass die Damen alle wie Supermodels aussehen und auf mannigfaltige Weise exotisch schön sind. In „Fauda“ ist das nur manchmal so, aber das mag auch an meinem individuellen Geschmack liegen. Die Araber oder meinetwegen die „Palästinenser“, die es zum Beispiel mit „Dana“ (Meirav Schirom) zu tun bekommen – vor allem bei Vernehmungen -, haben nichts zu lachen. Solche Frauen nenne ich „emanzipiert“. Sie sind das exakte Gegenteil der arabischen Damen, die immer mit Hijab herumlaufen und sanft gucken und die Männer aufmuntern, wenn sie nicht genug Terror machen. (In israelischen Filmen haben alle Frauen lange Haare und alle Männer kurze, da sind sie ganz „old school“.)

Fauda setzt Standards, was das atemberaubende Tempo angeht. Dagegen ist „Outlander“ mit seinen unendlich vielen Staffeln eine Serie in Zeitlupe, obwohl da auch ständig etwas geschieht, mehr als in deutschen Kriminalfilmen. Ich merke das an meinem Sehverhalten: Es gibt selten Filme, bei denen ich nicht zwischendurch herumzappe. Bei Fauda mache ich das nicht, andererseits zwinge die unerträgliche Spannung manchmal zu Pausen. „Doron“ ist wie üblich undercover unterwegs und ständig in Gefahr, entdeckt zu werden, und ständig sind ihm die Häscher auf den Fersen. Man wünscht sich manchmal mehr Sex, nur zum Erholen.

Sheldon Kirshner schreibt: „Fauda gets off to a slow and somewhat confusing start, but gains traction and momentum and achieves greater audience appeal by the third or fourth episode. The casting is exemplary, with the Jewish and Arab actors giving realistic performances. To its credit, Fauda neither romanticizes nor glosses over the uglier aspects of the Israeli commandos’ role in confronting Israel’s enemies. A viewer is left with the sober impression that Israel and the Palestinians are locked in perpetual strife.“

Ergo: Absolut sehenswert, wie alle anderen Staffeln auch.

fauda 4
Lior Raz, Meirav Shirom und Moran Rosenblatt (Photo: Rafi Deloya)

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