Generallinie oder: Die Vermeidbarkeit der Kriege im Imperialismus wird verkündet

generallinie

Ich dachte, ich besäße die Polemik über die Generallinie von Oberbaum-Verlag, aber sie blieb in meiner Bibliothek unauffindbar. Also musste ich eine neue Version besorgen, herausgegeben von irgendeiner irrelevanten maoistischen Politsekte, deren Namen ich schon vergessen hatte, bevor ich ihn las. Die Nachgeborenen werden denken, Oppa erzählte jetzt aus dem vorvorletzten Krieg, aber wir Ex-Maoisten ich behalte nur gern recht.

Das Original hat eine ganz großartigen Titel, stammt vom ZK der KP Chinas und wurde verlegt vom Verlag für fremdsprachige Literatur in Peking: Ein Vorschlag zur Generallinie der internationalen kommunistischen Bewegung – Antwort des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas auf den Brief des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vom 30. März 1963 (14. Juni 1963). Man schrieb sich damals gegenseitig ellenlange Briefe.

Die „Polemik über die Generallinie“ führte zum Bruch zwischen der Sowjetunion und der VR China, hatte also eine weltgeschichtliche Komponente. Als Linksradikaler zu der Zeit musste man sich entscheiden: Hielt man zur Sowjetunion, also auch zur DDR, wo man alles aus Moskau nachplapperte, oder zu China oder zu Jugoslawien, was immer zwischen allen lavierte, oder war man vorsichtshalber gegen alles und bewunderte zwangsweise – weil keiner mehr sonst übrig blieb – Albanien?

Der Jargon von damals ist schwer verdauliche Kost und pseudo-religiös verbrämte Sektensprache vom allerfeinsten – um eines höheren Wesens willen nicht lesen! Wenn ich das nicht vor einem halben Jahrhundert getan und diskutiert hätte, würde ich nach wenigen Zeilen und nach diesem Textbausteinbombardement der chinesischen Sprechblasenfacharbeiter entnervt aufgeben.

Bei der Ausarbeitung der konkreten Linie und der Politik der kommunistischen und Arbeiterparteien für das eigene Land ist es äußerst wichtig, strikt am Prinzip der Verbindung der allgemeingültigen Wahrheit des Marxismus-Leninismus mit der konkreten Praxis der Revolution und des Aufbaus im eigenen Land festzuhalten. Aber immer doch! Mit großem Vergnügen!

Auch das aktualisierte und/oder kommentierte Geschwurbel bleibt unlesbar. Worum ging es eigentlich? Die chinesische KP rief damals dazu auf, dass in den Ländern der so genannten „Dritten Welt“ sogar die „patriotisch gesinnte Bourgeoisie“ unterstützt werden müsse, solange diese gegen den US-Imperialismus kämpfe. Schaute man sich die Details in der Realität an, wurde es schnell extrem unübersichtlich. In manchen der erst kürzlich unabhängig gewordenen Ländern steht die patriotisch gesinnte Nationalbourgeoisie auch weiterhin mit dem Volk zusammen im Kampf gegen Imperialismus und Kolonialismus und führt gewisse Maßnahmen für sozialen Fortschritt durch. Das erfordert, daß die proletarische Partei die fortschrittliche Rolle der patriotischen Nationalbourgeoisie in vollem Umfang einschätzt und die Einigkeit mit ihr festigt.

Das ist bekanntlich überall schiefgegangen, vor allem in Afrika. Heute machen die Chinesen genau die gleiche Politik wie damals gegenüber Ländern der Dritten Welt, nur ohne Gefasel drumherum. Man unterstützt die, die einem den größten Vorteil versprechen, und winkt den unterdrückten Volksmassen huldvoll zu mit der Miene, das müsse so sein, wenn man an das große Ganze denke.

Die leninistische These, daß imperialistische Kriege unvermeidbar sind, solange es den Imperialismus gibt, wird über Bord geworfen. Dies wird so begründet: „heute hat sich die Lage jedoch von Grund aus geändert“ und „Die Marxisten müssen …dabei die welthistorischen Veränderungen berücksichtigen“. („Rechenschaftsbericht„, S.42) Es wird die Epoche des Friedens im Imperialismus verkündet.

Aber klar doch. Das hat der Genosse Trotzki haben wir schon immer gewusst, nur nicht, dass Russland ein kapitalistischer Staat werden würde, der imperialistische Kriege führt. Das ist aber nur zu konsequent.

Lang lebe die Generallinie!

lang lebe die Generallinie
Nicht auf das Bild klicken! Außer ihr wisst nicht, was der Begriff „Generallinie“ bedeutet.

Aus der beliebten Serie: Der Kommunismus wird siegen! Auch wenn der sich nur als solcher kostümiert – aber wenn sogar das Zentralorgan der gefühlten Bourgeoisie das feststellt, kann ich ja nicht falsch liegen.

„Was vielleicht noch mehr überrascht, ist die Geschwindigkeit und Planmäßigkeit, mit der sich China aus der Bedeutungslosigkeit an die Weltspitze katapultiert hat…“ Nein, das überrascht niemanden, der sich ein wenig in der chinesischen Geschichte auskennt.

„Wenn es ein fortwirkendes kommunistisches Erbe gibt, dann ist es der weitsichtige und planmäßige Charakter der chinesischen Wissenschaftspolitik.“ Da ist wohl noch ein wenig mehr als nur ein „Erbe“. Natürlich darf man von deutschen Medien nicht erwarten, dass sie in China hinter die Kulissen schauen – dazu sind Journalisten hierzulande zu ungebildet und zu unwissend – und auch zu sehr desinteressiert. Das Publikum sollte aber wissen, dass die KP Chinas sowohl die seit der Kulturrevolution gestellte Frage unterdrückt, ob es im Sozialismus chinesischer Prägung noch Klassenkampf gebe und warum, als auch die Geschichte der Massenbewegungen in der Kulturrevolution in ihrem, das heißt ihre eigene Herrschaft legitimierenden Sinn uminterpretiert. Sie handelt ähnlich wie die polnische Regierung, die Geschichte des 2. Weltkriegs und der Shoa umschreibt, mit Denkverboten und sogar Klagen gegen Medien, die nicht der staatlichen Doktrin folgen.

Es sagt schon genug aus, wenn man weiß, dass jemand, der behauptet, in China gebe es noch eine herrschende Klasse und demnach auch Unterdrückte – was während der Kulturrevolution common sense war-, dort mit staatlichen „Maßnahmen“ bedroht wird.

Ceterum censeo: Ich finde aber die chinesische Politik, Religionen betreffend, sympatisch. Je weniger Religion, um so mehr Wissenschaft, um so mehr Fortschritt (das auch an unsere östlichen Nachbarn gerichtet.)

Jetzt zur deutschen Generallinie, den Kapitalismus betreffend, und wie sie von den Lautsprechern des Kapitals umgesetzt wird.

lautsprecher des Kapitals

In der Welt schreibt sich die „Chefvolkswirtin“ Dorothea Siems ihre Angst vor dem Verstaatlichen von der Seele (ceterum censeo: Marx hat vom „Vergesellschaften“ geredet, was nicht dasselbe ist). Ein Lehrbeispiel – obwohl als „Meinung“ fairerweise deklariert -, auf welchem – mit Verlaub – unterirdischen Niveau der Wirtschaftsjournalismus hierzulande herumkraucht. [Da es um Clickbaiting geht, hat die „Welt“ jetzt, da der Artikel offenbar häufig gelesen aka angeklickt wurde, einen inhaltlich ähnlichen Artikel von derselben Autorin einmal online gestellt: „Der Staat, das Supersozialamt“.]

Längst geht es nicht mehr um Hilfestellung in akuten Notsituationen, sondern um eine Neugestaltung der Volkswirtschaft, die dauerhaft auf den lenkenden und immer stärker umverteilenden Staat setzt.

Was ist gegen Staatskapitalismus einzuwenden, wenn China doch ein Erfolgsmodell sein soll? Argumente finden wir nicht, nur dumpfe Gefühle à la Wirtschaftspolitik der FDP und den Glauben an die angeblichen Selbstheilungskraft der „Märkte“. Die bürgerlichen Volkswirtschafts-Esoteriker verschweigen uns sogar Keynes, der des Marxismus und des Stamokapisierens und anderer böser Dinge nun wirklich nicht verdächtig ist. Schon klar, wie Frau Siems behauptet, dass das alles nicht finanzierbar ist und auf Pump geschehen muss – aber sollten wir dann nicht auch über die kapitalistischen Überproduktionskrisen, die sich als „Finanzkrise verkleiden, oder den tendenziellen Fall der Profitrate diskutieren? Nein? So etwas gibt es nicht für Volkswirte und Volkswirt_*:Innen? Dann eben nicht, aber dann nehme ich euch auch nicht ernst.

Hybride Regime oder: Die verratene Revolution

sowjetunion
survey findingsThe map reflects the findings of Freedom House’s Nations in Transit 2021 survey, which assessed the status of democratic development in 29 countries from Central Europe to Central Asia during 2020. Freedom House introduced a Democracy Score—an average of each country’s ratings on all of the indicators covered by Nations in Transit—beginning with the 2004 edition. The Democracy Score is designed to simplify analysis of the countries’ overall progress or deterioration from year to year. Based on the Democracy Score and its scale of 1 to 7, Freedom House has defined the following regime types: Consolidated Authoritarian Regime (1.00–2.00), Semi-Consolidated Authoritarian Regime (2.01–3.00), Transitional/Hybrid Regime (3.01–4.00), Semi-Consolidated Democracy (4.01–5.00), Consolidated Democracy (5.01–7.00). (Credits: Freedom House)

Wir müssen über die Sowjetunion den russischen Kapitalismus reden. Wie unterscheidet sich dieser vom Kapitalismus „westlicher“ Prägung? Ist er weniger entwickelt? Oder ist er anders, weil er aus dem sowjetischen Staatskapitalimus geboren wurde? Schon die richtigen Fragen zu stellen, ist extrem kompliziert.

Dieter Segert hat das in einem Essay versucht: „Post-sowjetischer Kapitalismus als Gesellschaftsform – Russland und Ukraine im Vergleich.“

Als Ex-Maoist zuckt man natürlich bei Zitaten wie diesem zusammen: „Die Formierung der herrschenden Klasse bzw. der kapitalistischen Klassenfraktionen (…) begann im Zuge der Gorbatschowschen Perestroika“. Erst dann – und nicht schon viel früher? Wir meinten damals, dass die Sowjetunion nur dem Namen nach ein sozialistischer Staat gewesen sei. (Und ich meine heute, dass spätestens seit Stalin von „Sozialismus“ nicht wirklich die Rede sein konnte.) In der an Marx und Engels orientierten Geschichtswissenschaft war ein „Zurückentwickeln“ einer Gesellschaftsform aber nicht vorgesehen: Der Kapitalismus kann zum Beispiel nicht zurück zum Feudalismus. Was soll man also vom Zerfall der „sozialistischen“ Staaten halten? Und wie wird das alles enden?

Die Größe eines Landes ist irrelevant: Ob die Sowjetunion zerbröselt wäre oder nicht, wirkt sich nicht auf den Charakter der Ökonomie aus. Ob Luxemburg, Venezuela oder USA: Analytisch ist das alles der gleiche Kapitalismus. Heute muss man fragen, ob die Ökonomie Russlands prinzipiell anders ist als die in den Anrainerstaaten, die vorher zur Sowjetunion gehörten? Meiner Meinung nach nicht.

Segert schreibt: In Russland und der Ukraine bildete die Umwandlung von Staatsbetrieben durch Privatisierung den Kern des Übergangs zu einer Form des Kapitalismus. Die damit verbundene Entstehung einer Klasse von kapitalistischen Unternehmern und Lohnarbeitern kann auch mit dem Marxschen Begriff als (für diese Gesellschaften historisch zweite) ursprüngliche Akkumulation bezeichnet werden. In diesem Fall diente sie der Auflösung der nur formellen, staatlich-zentralisierten Einheit von Produzenten und Produktionsmitteln.

Obwohl die Entstehung des kapitalistischen Privateigentums in allen post-sozialistischen Staaten gleichermaßen stattfand, trug sie in den beiden betrachteten Staaten, in Russland und der Ukraine, spezifische Züge. Sie erfolgte in großem Umfang als Insiderprivatisierung, einem Direktverkauf an das Management der Unternehmen oder über den Umweg einer Voucherprivatisierung an die Belegschaften, wobei die Voucher später durch deren Besitzer weiterverkauft und in den Händen von Finanz-Industriegruppen konzentriert wurden. Verkäufe an ausländische Investoren spielten nur eine untergeordnete Rolle.

Diese Coupon-Privatisierung war selbstredend ein großer Betrug, der nur als Mäntelchen diente, den ausgebeuteten Klassen die Illusion zu lassen, sie besäßen irgendetwas. Am Ende hatte sich nur das Personal der herrschenden Klasse geändert, nicht aber der Charakter der Klassenherrschaft. Das kann man mit dem Übergang von der römischen Republik zur Kaiserzeit vergleichen: Beide Formen fußten (mehr oder weniger) auf der Arbeit von Sklaven, waren analytisch also identisch, aber die Herrschenden regierten anders: Der Senat als klassische Form, wie sich die Sklavenhalterklasse in der Republik organisierte, gab die Macht mehr und mehr ab an eine einzelne Person und deren Günstlinge. (Alle Vergleiche hinken.)

Der Besitz an Produktionsmitteln gruppierte sich nach der Privatisierung um „Clans“, die miteinander politisch konkurrierten, sowohl in der Ukraine als auch in Russland. Die beschriebene Transformation der Eigentums- und sozialökonomischen Verhältnisse wurde in Russland noch durch massiven Einsatz politischer Gewalt bewerkstelligt, sowohl durch den misslungenen Putschversuch eines Teils der politischen Klasse im August 1991 als auch durch die Gewalt, die der russische Präsident Jelzin im Oktober 1993 gegen das Parlament anwendete. In der Ukraine spielte Gewalt ebenfalls eine Rolle im Prozess der Entstehung des Kapitalismus, hier besonders in der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Fraktionen der nationalen Bourgeoisie. (…)

Die Entstehung kapitalistischer Wirtschaften in beiden Staaten war mit einem Abbau des in der staatssozialistischen Periode vorhandenen Systems sozialer Absicherung verbunden: einem Schutz vor Entlassungen, einer weitgehend kostenlosen Gesundheitsversorgung und einem entsprechenden Bildungssystem.

Letzeres halte ich ebenfalls für irrelevant: Auch im „westlichen“ Kapitalismus – etwa in den USA – ist es nur eine Frage lokaler Traditionen, ob sich der Staat sich um so etwas kümmert (bei uns wegen Bismarck), oder ob jeder selbst um sich sorgen muss und der öffentliche Schulsektor nur da ist, damit das Proletariat nicht vollkommen verblödet und damit für den Arbeitsmarkt ungeignet wird. Dito Gesundheitsvorsorge.

Die Ukraine gilt nach dem Nations-in-transit Index von Freedom House“ vom letzten Jahr als Hybrides Regime, also ein Regime, in dem es Elemente sowohl von Demokratie als auch Autokratie gibt, Russland als Konsolidiertes Autoritäres Regime. (siehe oben)

Die Kategorie „Regime“ halte ich für ungeeignet, um die Ökonomie und den Charakter eines Staates zu beschreiben. Aber analytische Tiefenschärfe erwartetet man von einem privaten US-amerikanischen Think Tank wie Freedom House natürlich nicht. Wir haben „ein Regime“ in Nicaragua, Afghanistan, Usbekistan, Brunei, Ägypten – und ist eine Monarchie wie Jordanien ein „Regime“?

Siegert schreibt: Der Kapitalismus, der in den beiden betrachteten Staaten nach 1991 entstanden ist, unterscheidet sich von anderen Typen des globalen Kapitalismus. (…)

Wesentlicher war allerdings der steigende Einfluss eines ethnischen Nationalismus sowohl in Russland (hier besonders ab 2011, als es zu verstärkten Protesten der städtischen Mittelschicht kam) als auch in der Ukraine (v.a. mit der Präsidentschaft von Juschtschenko, 2005-2010). Der ethnische Nationalismus wurde vollends mit dem Krieg von 2022 zur alles beherrschenden Legitimationsideologie der politischen Macht. In Russland ist die nationalistische Ideologie mit einer imperialen Komponente verbunden, die sich in der Konzeption einer „russischen Welt“ äußert. Man kann dieses Konzept verschieden lesen, entweder als Grundlage für den Einfluss Russlands auf Staaten mit russischer Minderheit in der Bevölkerung oder als Formulierung direkter Gebietsansprüche über die Grenzen der heutigen Russländischen Föderation hinaus. Die ukrainische Variante des Nationalismus richtet sich dagegen auf eine ethnische Homogenisierung der Bevölkerung im Rahmen der Staatsgrenzen.

Der neue Kapitalismus in den ex-sowjetischen Ländern sucht sich also eine ideologische Legitimät zusammen und findet sie, wie gewohnt, im Nationalismus, der – auch wie gewohnt – stark rassistische Züge trägt, und irrational ist das sowieso. Russland besteht aus vielen Völkern, genau wie China – der herrschenden Klasse muss anders „argumentieren“ als in der Ukraine (oder auch in Polen), wo alles einfach unterdrückt wird, was nicht der fiktiven Idee des Staatsvolkes entspricht. In Russland wähnt man sich im Kampf gegen den Westen, eine Methode also, die alle arabischen Regime, der Iran und die Warlords der „Palästinenser“ benutzen, um ihre korrupte Herrschaft zu legitimieren – nur ist dort der Feind nicht der Westen, sondern Israel als pars pro toto.

Interessant ist Siegerts Fazit:
1. Die entstehende Unternehmerklasse erwuchs, zumindest in ihrer obersten Schicht, aus den Privatisierungen des vormaligen Staatseigentums. In gewissem Sinne hatte das Trotzki 1936 in seiner Schrift Die verratene Revolution vorhergesagt. Im Unterschied zu Trotzkis Prognose verwandelte sich jedoch nicht die Nomenklatura insgesamt in eine Kapitalistenklasse, sondern es waren Personen aus der Nomenklatura (Jelzin, Krawtschuk, Kutschma u.a.), die einer Gruppe von Managern von Staatsbetrieben oder ausgewählten Personen der intellektuellen Dienstklasse einen Aufstieg in die Klasse kapitalistischer Eigentümer ermöglichten.

Neben dem weltanschaulichen Kitt des Nationalismus spielt die Apathie der „Werktätigen“ eine Rolle:

2. Die im „Konsumsozialismus“ entstandene Lebensweise von Teilen der Bevölkerung unterstützte die Transformation in Richtung auf den Kapitalismus. Zudem wirkte sich ihre passive Orientierung gegenüber der Politik aus, welche aus den autoritären Strukturen des Staatssozialismus und der dadurch geformten politischen Kultur erwuchs. Dadurch erduldete diese Mehrheit der Bevölkerung die sozialen Verwerfungen der Transformationsperiode ohne aktiven Widerstand. So bildete sich der andere Pol des Kapitalverhältnisses, eine eigentumslose arbeitende Bevölkerung, die sich der Produktions- und Lebensweise anpasst.

Langer Rede kurzer Sinn: Der Kapitalismus in der Ukraine und Russland ist vergleichbar, nur die Legitimationsbasis der Herrschenden unterscheidet sich.

Mein Fazit: Die russisch-ukrainische Version des Kapitalismus ist eher eine, die keine Zukunft hat, weil sie vom Verkauf der Rohstoffe lebt, aber nicht flexibel genug ist, sich selbst zu reformieren. Das machen die Chinesen um Klassen besser. Und warum ist zum Beispiel das winzige kapitalistische Israel trotz ungünstigster Ausgangsbedingungen eine Start-Up-Nation? „In gewisser Weise hat Israels Wirtschaftsentwicklung das 20. Jahrhundert übersprungen, wodurch die klassischen Stützpfeiler anderer Industrienationen wie Kfz-Produktion, Maschinenbau, Chemische Industrie und Schwerindustrie fehlen.“

Russland und die Ukraine jedoch leben offenbar noch im 20. Jahrhundert und werden beide ihr Tafelsilber verkaufen müssen. Nur wird Russland länger durchhalten.

Imperiale Weltordnung oder unter маски персонажей

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Trotzdem zogen jene den Krieg dem Frieden vor, weil sie die teure Freiheit über alle Not stellten. Dieser Menschenschlag ist nämlich hart und scheut keine Anstrengung; gewöhnt an die dürftigste Nahrung, halten die Slawen für ein Vergnügen, was unseren Leuten als arge Schinderei erscheint. (Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae, verfasst vor 965 n. Chr.)

Bisher hatte ich noch keine Analyse gefunden, die die Interessen der herrschenden Klasse in Russland erläutert. (Hat jemand „Lenin!“ gerufen?) Jetzt las ich von Erhard Crome den Artikel: „Krieg um die neue Weltordnung„.* Und von Felix Jaitner: „Russland: Von autoritären Umbrüchen bis zum Krieg [online!].“ Dort gibt es erste und interessante Antworten.

Denkt man über die Ziele des herrschenden Klasse Russlands nach, muss man unweigerlich die Frage beantworten, wie es dazu kam, dass der „Staatssozialismus“ der Sowjetunion sich „zurückentwickelte“ zu einem ganz normalen Kapitalismus. So etwas war im parteioffiziösem „Marxismus“ gar nicht vorgesehen. Vorwärts immer, rückwärts nimmer usw.. Lenin hatte mit religiöser Inbrunst verkündet: „Die Ungleichmässigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist. Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen, würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen.“

Das ist bekanntlich nicht so geschehen. Crone weist darauf hin, dass die Frage, ob der Sieg des Sozialismus in nur einem oder wenigen Ländern möglich sei, immer ausgeklammert wurde. Trotzki hatte das ganz anders gesehen. Crone schreibt: „Die Rücknahem der Revolution in eine kapitalistisches Russland nach dem Ende der Sowjetunion, das einige Attribute des westlichen Parlamentarismus und die Wahl des Präsidenten – statt eines Zaren, der sein Amt qua Geburt ausübt – übernommen hat, machen deutlich, das Russland von 1917 bis 1991 am Ende den längstmöglichen Umweg des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus zurückgelegt hat. (…) Nach dem Ende der Sowjetunion und des Realsozialismus im Osten Europas befinden wir uns wieder in einer Epoche des Imperialismus… (…) russland ist ein „normales“ kapitalistisches Land in der nun wieder „normalen“ imperialistischen Welt.“

Das ist eine originelle Theorie – der Staatssozialismus als „Umweg“ auf dem Weg vom Feudalismus zum Kapitalismus! Ich weiß noch gar nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht sollte man die Chinesen fragen.

Jaitner (Vorsicht! Genderdoppelpunkte!) unterteil die Geschichte Russlands nach Jelzin in mehrere Phasen:
1. Die Politik der ersten Putin-Administrationen (2000-2008) war eine Reaktion des Machtblocks auf die spezifischen Dysfunktionalitäten des unregulierten neoliberalen Kapitalismus der 1990er-Jahre in Russland und verfolgte das Ziel, die Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zu verbessern.

2. Die ersten beiden Amtszeiten Wladimir Putins fielen mit einer wirtschaftlichen Aufschwungsphase zusammen, die in erster Linie auf einer intensivierten Rohstoffausbeutung (vor allem Öl und Gas) beruhte. In diesem Zeitraum ging der Bevölkerungsanteil mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum von 43,8 Millionen (30 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf 19 Millionen (13,5 Prozent der Gesamtbevölkerung) zurück. Dadurch entstand eine städtische Mittelschicht, die sich als wichtige Stütze der oligarchisch-etatistischen Ordnung erweist. (…) Die kurzfristige Profitorientierung der privatisierten Öl- und Gasunternehmen sowie die intransparenten institutionellen Rahmenbedingungen verhinderten umfassende Investitionen und damit eine Steigerung der Öl- bzw. Gasproduktion. Diese sank dementsprechend in den 1990er Jahren kontinuierlich und erreichte im Jahr 1996 ihren historischen Tiefpunkt.

3. Gestützt auf das Öl-getriebene Wachstum konnte die Putin-Administration die aus den 1990er-Jahren herrührenden Widersprüche des extraktiven Entwicklungsmodells (soziale Polarisierung, regionale Entwicklungsunterschiede) eindämmen. Darüber hinaus stabilisierten Maßnahmen zur Konsolidierung des produktiven Sektors (Konzentration von Hochtechnologiefirmen in der Atom-, Flugzeug- und Rüstungsindustrie sowie im Agro-industriellen Komplex unter staatlicher Führung) die Wirtschaft, änderten jedoch wenig an der bestehenden Abhängigkeit vom Rohstoffexport. Die 2008 einsetzende Wirtschafts- und Finanzkrise verschärfte vielmehr die multiplen Widersprüche des extraktiven Entwicklungsmodells. Die russische Regierung setzte zur Bekämpfung der Krise auf eine angebotsorientierte Politik, nur 10 % der bereitgestellten Mittel wurden zur Stimulierung der Binnennachfrage eingesetzt.

[Conclusio] Zur Stärkung der produktiven Sektoren fordern national-konservative Kräfte in Staat und Regierung sowie mit ihnen verbundene binnenorientierte Kapitalfraktionen eine Re-Industrialisierung des Landes im Rahmen einer staatlich koordinierten Importsubstitutionspolitik. Damit einher gehen Forderungen nach neuen außenpolitischen Bündnissen. Die Westorientierung, so die Kritik, zementiere den semiperipheren Status Russlands als Rohstofflieferant für die kapitalistischen Zentrumsstaaten, während eine Ausrichtung auf den postsowjetischen und asiatischen Raum neue Expansionsmöglichkeiten biete und ein politisches Gegengewicht zur US-Hegemonie bilde. Und:

Die Schwäche der jungen russischen Bourgeoisie, die gesellschaftlichen Umbrüche durch ein hegemoniales Projekt abzusichern und damit ihre Klassenherrschaft zu festigen, setzt sich daher bis heute fort und ist ein wichtiger Grund für die zunehmend aggressive Außenpolitik.

Realistisch wäre also, die Abhängigkeit von Rohstoffexport zu verringern. Vermutlich hat Russland aber ein ähnliches Problem wie das Dritte-Welt-Land Venezuela: Die herrschende Klasse ist zu sehr in die Profite involviert, als dass sie mal einfach eine neue „Industrialisierung“ aus dem Boden stampfen könnte – und wollte. Die Chinesen sind da auf Nimmerwiedersehen enteilt und lachen sich vermutlich ins Fäustchen.

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* Vgl. seinen Aufsatz 2003: „Imperiale Weltordnung?“ Darin bestätigt er, was „Maoisten“ schon immer über die Sowjetunion und ihre Vasallenstaaten gesagt hatten: „Statt dass eine ausbeutungsfreie Gesellschaft entstand, hatte sich mit der Partei-Nomenklatura eine neue herrschende Klasse ausgebildet“. Wenn das stimmte, beantwortete diese These die Frage, ob es im – wie auch immer gearteten – Sozialismus Klassenkampf gebe. Das war auch die zentrale Ausgangsfrage der chinesischen Kulturrevolution und ist der zentrale Streitpunkt zwischen der heutigen offiziellen Lehrmeinung der KP Chinas und ihrer Kritiker von „links“.

Definitiv falsch ist Cromes damaliges Fazit: „Die territoriale Aufteilung der Welt unter die imperialistischen Großmächte ist abgeschlossen; der Kampf um die Neuaufteilung führt zu imperialistischen Kriegen“ (aus Lenins Imperialismus-Theorie). Das war gestern. Das kapitalistische Weltsystem hat die Entkolonialisierung überstanden, und mit neuerlichen Kriegen zwischen den Zentren des internationalen Kapitalismus ist weder aus militärischen (siehe die militärische Potenz der USA) noch aus Profitgründen zu rechnen.“ Offenbar doch! Warum das nicht so sein sollte, erklärte Chrome damals nicht – und China hatte er auch nicht auf dem Plan, was der typischen Blindheit derjenigen geschuldet ist, die in der DDR als Wissenschaftler ausgebildet wurden. Gleichzeitig widerlegt der russische Krieg gehen die Ukraine auch Kautskys „Ultraimperialismus“-Theorie.