Puerto Ayacucho

puerto ayacucho

Puerto Ayacucho am Orinoco, Venezuela, 1998. (Da „puerto“ schon Hafen heißt, wäre „der Hafen von Puerto Ayacucho“ doppelt gemoppelt.) Ich habe auf der Avenida Paseo gestanden. Auf der anderen Seite ist Kolumbien.

Ich kann mich übrigens erinnern, dass ich da zur Mittagszeit herumgelaufen bin, obwohl mich die Leute gewarnt hatten. Die Hitze machte mir nichts aus, aber plötzlich wurde ich von Myriaden winziger Fliegen überfallen, deren Stiche weh taten und sogar kleine Blutflecke hinterließen. Die waren kleiner als die gewöhnlichen Moskitos. Vermutlich waren es Sandmücken, mit denen ich schon in Belize 1979 heftig zu kämpfen hatte und die sogar durch die Maschen eines Moskitonetzes schlüpfen.




Warum zum Rio Meta?

elorza rio arauca

Noch einmal Uferpromenade des Rio Arauca in Elorza, Venezuela, fotografiert im März 1998. Der Junge ist der Sohn meiner Hängematten-Platz-zum-Aufhängen-„Vermieterin“.

Als einziger Ausländer in einem größeren Dorf war ich natürlich eine Attraktion, und für den Jungen sowieso. Abends, wenn ich nur spazieren ging, weil es sonst nichts zu tun gab, außer sich in den wenigen Spelunken mit fragwürdigem Publikum zu besaufen, folgte er mir auf Schritt und Tritt, weil er vermutlich neugierig war – und seine Mutter auch -, was ich eigentlich in dem Örtchen wollte.

Ich hätte es selbst nicht gewusst, weil ich von Palmarito aus irgendwie in den extremen Süden Venezuelas wollte und von dort aus zum Orinoco. Von Palmarito am Rio Apure aus gibt es aber keine Verbindung nach Süden ohne eigenen Jeep. Ich musste also weit nach Westen ausweichen, bis an die kolumbianische Grenze bei Guasdualito. Da erwischte ich dann einen Bus nach Elorza.

Ich hatte irgendwann wohl erwähnt, dass ich zum Rio Meta wolle. Auf dem hätte ich per Boot nach Puerto Carreno in Kolumbien reisen können und dann weiter per Straße auf der venezolanischen Seite nach Süden nach Puerto Ayachucho.

Das war mein ursprünglicher Plan, aber es kam alles anders, weil ich mit einem weißen Jeep der Katholischen Kirche quer durch die Llanos direkt von Elorza nach Puerto Ayacucho gefahren wurden und gratis dazu. Den Rio Meta habe ich dabei passiert und gesehen.

Den Jungen hat das Thema wohl beschäftigt. Irgendwann fragte er ganz plötzlich, als hätte er sich lange nicht getraut: „Gringo [so nannten mich alle], warum willst du zum Rio Meta?“

Was hätte ich antworten sollen? Ich hätte mit Philipp von Hutten entgegnen können, der am 31. März 1539 an seinen Vater schrieb: Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre ich nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen. Ich hätte „Indien“ nur durch „Rio Meta“ ersetzen müssen.




Museo Etnológico Monseño Enzo Ceccarelli

Museo Etnológico Monseño Enzo CeccarelliMuseo Etnológico Monseño Enzo Ceccarelli

Traditionelle Holzhäuser aus der Provinz Amazonas (die eigentlich vom Orinoco dominiert wird). Museo Etnológico Monseño Enzo Ceccarelli, Puerto Ayacucho, Venezuela 1998. Offenbar gibt es nur sehr wenige Fotos aus diesem Museum. Ich habe eine Sammlung auf einer russischen Website gefunden, die von Andrey Matusovskiy gemacht wurden und die aus diesem Jahr stammen, und ein Video auf TikTok.

Ich habe das Museum besucht, weil ich für meinen Roman „Die Konquistadoren“ recherchierte, wie die Bauten in Venezuela vor rund 500 Jahren ausgesehen haben könnten.




Warm und still (fast) [Update]

san fernando de atabapo

Ein stiller und sehr warmer Sonntagnachmittag in San Fernando de Atabapo am Orinoco (1998). Wait a minute. Still? Ganz hinten ist der Kirchturm der Parroquia San Fernando zu sehen. Ich stand also ungefähr zwei Blocks nördlich davon. Der Ort ist so klein, dass die Straßen keine Namen haben.

Ich wanderte so vor mich hin, als urplötzlich ein infernalisches Getöse über mich hereinbrach, so laut wie drei Techno-Partys gleichzeitig, nur in sehr schlechter Qualität. Der Pfaffe des Ortes hatte irgendwo an der Kirche eine Lautsprecheranlage angebracht, deren Klang vermutlich bis auf die andere Seite des Flusses nach Kolumbien reichte, um seine Schäfchen zum Gottesdienst zu bitten. Jeder wäre ohnehin aus seiner Siesta aufgeweckt worden. Es war grauenvoll und hörte auch für eine Weile nicht auf. Ich weiß gar nicht, ob es Musik war oder irgendwie muezzinmäßig.

Ich sehe gerade, dass Google jetzt einige Hinweise gibt, wo was ist. Ich erkenne meine Herberge von damals wieder – sie heißt Hotel Pendare, ist gestrichen und hat ein gemauertes zweites Stockwerk bekommen. 1998 hieß das Etablissement noch Cafe Orinoco und bot eine grandiose Aussicht auf die Flüsse Rio Atabapo und Rio Guaviare. Vor dem Eingang ist auch eines meiner Lieblingsfotos entstanden. Die Ausstattung der Zimmer war aber nur etwas für extrem hartgesottene Globetrotter. Ich wüsste gern, ob das Mädchen vom Lande sich noch an mich erinnert…

Man braucht nur vier Tage von Berlin bis Puerto Ayacucho, wenn alles gut geht. Aber dann weiter den Orinoco hinauf wird es extrem kompliziert – immer noch. „Verkehrstechnisch ist die Stadt durch einen Flughafen und einen kleinen Hafen angebunden“, behauptet das deutsche Wikipedia. Haha. Die Tide des Orinoco und seiner Nebenflüsse ist bei San Fernando zwar nicht 12 Meter wie des Amazonas bei Manaus, aber Bootstege kann man dort nicht bauen – die würden in der Regenzeit weggeschwemmt oder wären dann nur für U-Boote. Das spanische Wikipedia ist realistischer „El transporte fluvial en Atabapo está compuesto por 4 embarcaciones (llamadas coloquialmente voladoras) que prestan el servicio Samariapo-Atabapo-Samariapo: El Suricato, La Roca, Nautisa y Autana. Actualmente no existe ningún transporte con destino fijo a otro municipio del Estado Amazonas“.

No existe ningun. Kein Transport, nirgends. Also nur vier Boote für die ganze Region, die halb so groß ist wie ganz Deutschland, und von denen garantiert so viele oder so wenige schwimmfähig sind wie die bei der Bundesmarine. Damals gab es nur eins, und ob die Reise damit losging, hing davon ab, ob der Kapitän und Besitzer sich am Abend vorher mit Damen vergnügt und vollgesoffen hatte oder nicht. Das erzählten mir die Mitreisenden.

[Update] Ich habe noch ein Foto gefunden, dass ich bei dieser – oben erwähnten – Reise per Boot gemacht habe – in Samariapo. Dorthin hatte uns ein LKW aus Puerto Ayacucho gebracht und damit die unbefahrbaren Stromschnellen des Orinoco umgangen. Vermutlich habe ich das Foto unweit des Comando Fluvial Puesto Samariapo geschossen.

samariapo




Comercio oder: Die andere Grenze

puerto ayacucho9

Puerto Ayacucho am Orinoco, Venezuela, 1998. Ich bin von dort aus nach Süden nach Samariapo gereist, an die Grenze der „Zivilisation“, und von dort aus weiter bis zum Rio Atabapo.

Einheimische Quellen sehen das ähnlich: „Capital comercial de indígenas e inmigrantes“ (ökonomisches Zentrum von Indigenen aka „Indios“ und Immigranten). Ich fand den Ort zwar nicht schön, vor allem wegen der hässlichen Neubauten, aber sehr interessant. Man sah dort viele Leute, vor allem auf dem Mercado Indigena, die phänotypisch nichts ins Bild „passten“, also so aussahen wie Leute, die eigentlich im Urwald leben. Wikipedia liegt da ganz richtig: „Die Einwohner von Puerto Ayacucho sind zum Großteil Kreolen, daneben lebt in der Stadt eine Vielzahl von Indigenen, wie Yanomami, Baré, Piaroa (Vorsicht, Anarchisten!) und Guajibo“ aka Wayapopihíwi.

Ich kann mich noch erinnern, dass ich stundenlang herumgelaufen bin, weil niemand meine Travellerschecks eintauschen wollte, auch nicht die Banken. In einem Reisebüro hatte ich endlich Erfolg. (Ein Foto, das offenbar in der Nähe des obigen gemacht wurde, hatte ich am 03.03.2008 veröffentlicht.)




Räder müssen rollen

puerto ayacucho

Straßenszene in Puerto Ayacucho, Venezuela (Februar 1998)




Iglesia Auxiliadora und Perverse

Catedral de María Auxiliadora
Catedral de María Auxiliadora, Puerto Ayachuco, Venezuela (Februar 1998)

Ich schrieb vor sechs Jahren: „Ich sitze hinten im Jeep, der einem katholischen Pater aus Elorza gehörte, der aus Polen stammte und mit dem ich mich über die Situation der Guahibo unterhalten hatte – und der auch Klartext redete. Der Pater entschloss sich spontan, seinen Bischof in Puerto Ayacucho am Orinoco besuchen zu wollen, und ich wollte auch dorthin. Mit dem Flugzeug sind das nur 266 Kilometer, mit dem Auto aber mehr als 500 – wir waren den ganzen Tag unterwegs. Gekostet hat es mich nichts, und ein Mittagessen bekam ich auch ausgegeben.“

Chica
Mit dem Jeep der Kirche durch die Llanos zum Rio Meta

Puerto Ayacucho, 20.02.1998: Ein Ethnologe, mit dem ich ins Gespräch komme, sagt; Der „Vater“ sei nur eine öffentliche Funktion in Venezuela. Die Struktur der Familie werde durch die Frauen zusammengehalten. Wenn sich ein Mann zu sehr um die Kinder der Frau bemühe, die nicht die seinen seien, komme er in den Verdacht, „pervers“ zu sein. Die meisten Frauen machten ihre ersten sexuellen Erfahrung mit zwölf Jahren.

Ich notierte mir noch: Interessante Frage, wenn machismo bedeutet, dass die Familien irgendwie matrilinear sind…

Chica




Der gottverlassene Landstrich, revisited

Dieser Text erschien am 19.9.97 im Berliner Tagesspiegel – leider erheblich und sinnentstellend gekürzt.

San Fernando de Atabapo
San Fernando de Atabapo im venezolanischen Bundesstaat Amazonas (obwohl der Ort am Orinoco liegt).

Oberhalb der großen Katarakte fanden wir längs des Orinoco auf einer Strecke von 450 km nur drei christliche Niederlassungen, und in denselben waren kaum sechs bis acht Weiße, das heißt Menschen europäischer Abkunft. Es ist nicht zu verwundern, daß ein so ödes Land von jeher der klassische Boden für Sagen und Wundergeschichten war. Hierher versetzten einst Missionare die Völker, die ein Auge auf der Stirn, einen Hundskopf oder den Mund unter dem Magen haben. (Alexander von Humboldt)

Wuchtiger Granit, von der stillen Kraft der Strömung rund geschliffen, versperrt den Weg. Den Orinoco aufwärts, oberhalb der unpassierbaren Stromschnellen: Die Trockenzeit hat den Pegel so weit fallen lassen, daß schwarze Felsbrocken sich unerwartet dort auftürmen, wo man vor einigen Tagen noch ohne Mühe passieren konnte. Der indianische Kapitän strahlt über das ganze Gesicht: Er darf zeigen, daß er jeden Quadratmeter des Flusses kennt. Das Steuer abrupt nach links und rechts, Außenbordmotoren röhren, die Passagiere stöhnen auf, die Bugwelle klatscht an die vorbeihuschenden Felsen, gerettet.

Wer von Puerto Ayacucho, der quirligen und stickigen Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, nach Süden reisen will, muß zunächst mit einem Lastwagen vorliebnehmen. Der bringt ihn an den Katarakten vorbei an den Oberlauf des Orinoco. Die Straße endet abrupt im Fluß. In einer Bretterbude verkaufen zwei Frauen gekühlte Getränke. Ein einsamer Ventilator surrt aufgeregt, aber vergeblich gegen die Hitze. Umsteigen in ein hoffnungslos überladenes Schnellboot. Die Fahrt nach San Fernando de Atabapo im tiefsten Urwald Venezuelas dauert vier Stunden.

Hier, inmitten des neuen Kontinents, gewöhnt man sich beinahe daran, den Menschen als etwas zu betrachten, das nicht notwendig zur Naturordnung gehört… Krokodile und Boa sind die Herren des Stromes; der Jaguar, der Pecarim, der Tapir und die Affen streifen durch den Wald, ohne Furcht und ohne Gefährde; sie hausen hier wie auf einem angestammten Stück Erde.

Das schrieb Alexander von Humboldt im April 1800, als er und sein Gefährte Bonpland im Auftrag der spanischen Krone die Region erforschten. Humboldt bewies, daß zwischen den größten Flußsystemen Südamerikas eine Verbindung besteht. Der Cassiquiare, den Humboldt als erster Europäer befuhr, zweigt vom Orinoco ab, östlich von San Fernando de Atabapo, und ergießt sich zwei Tagesreisen mit dem Kanu weiter südlich in den Rio Negro. Der wiederum mündet bei Manaus in den Amazonas. Das Gebiet am Oberlauf des Orinoco ist weitgehend unerforscht und gilt als letzte Heimstatt indianischer Völker, die sich dem Kontakt mit der Zivilisation weitgehend verweigern. Die Schilderungen Humboldts, ab 1805 unter dem Titel „Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents“ veröffentlicht, können noch heute als Reiseführer dienen.

Auf beiden Seiten lief fortwährend dicker Wald am Strome hin. Die Berge im Osten schienen immer weiter wegzurücken. Wir kamen an einer merkwürdig gestalteten Insel vorbei. Ein viereckiger Granitfels steigt wie eine Kiste gerade aus dem Wasser empor; die Missionare nennen ihn El Castillito.

Orinoco
„El Castillito“

San Fernando de Atabapo: ein verschlafener Ort mit 3000 Einwohnern. Eine Kirche. Ein Restaurant: der folgenlose Genuß des Tagesmenüs setzt eine tropentaugliche Darmflora voraus. Das einzige Hotel an der Plaza Bolivar: nur drei Zimmer, weit jenseits von mitteleuropäischem Standard und Komfort. Mittendurch eine Heerstraße für Ameisen und die in Volksliedern liebevoll besungenen Cucarachas. Am Abend schauen auch ein paar Kröten herein, die der kurze, aber um so heftigere Tropenregen unternehmungskustig macht. Hängematte und Moskitonetz gehörten zur Grundausstattung des Reisenden wie Toilettenpapier und Plastikfolie, um Papiere und Geld vor Feuchtigkeit zu schützen.

San Fernando de Atabapo

Das grandiose Panorama entschädigt: Eine Gewitterwolke dräut über dem satten Dunkelgrün des Urwalds, die letzten Sonnenstrahlen gleißen durch das kitschige Abendrot und lassen die Sandbänke weiß leuchten. Hier fließen drei Ströme zusammen: Guaviare, Atabapo und Orinoco. Der Guaviare, breiter als der Rhein, entspringt tausend Kilometer westlich in den kolumbianischen Anden und hat weißes Wasser, und der ganze Anblick seiner Ufer, seiner gefiederten Fischfänger, seine Fische, die großen Krokodile, die darin hausen, machen, daß er dem Orinoco weit mehr gleicht. Von Süden ergießt sich der Atabapo in den Guaviare. Wassertemperatur: erstaunliche 37 Grad. Der sonnendurchglühte Granit heizt den Fluß auf. Er ist dunkel wie schwarzer Tee, aber klar bis auf den Grund. Die Färbung rührt von Gerbsäure, die Insekten abhält, ihre Eier zu legen.

Für Individualreisende ist die Region östlich und südlich von San Fernando Sperrgebiet – zum Schutz der Indianer. Um hier zu reisen, benötigt man eine schriftliche Erlaubnis der Indianerbehörde im Kultusministerium, des Innenministeriums in Caracas und der Distriktsverwaltung in Puerto Ayacucho. Aber die Behörden sind weit, und Papier zählt weniger als der menschliche Kontakt. Am oberen Orinoco gibt es zwei Dutzend illegale Goldminen. Der Kommandant der örtlichen Guardia Nacional kann die genauen Standorte auf der Karte zeigen. Wichtige Honoratioren des Ortes sind daran nicht ganz unbeteiligt, und der Schmuggel nach Kolumbien ist ebenfalls einträglich. Übermäßiger Aktivismus der Sicherheitskräfte würden den regen Bootsverkehr nur unnötig stören. Auch die kolumbianischen Grenzposten auf der anderen Seite des Guivare beobachten den Fluß, manchmal. Was gringos tun, interessiert sie nicht. Jede zweite Nacht sind in der Ferne Schußwechsel zu hören. Die Guerilla, sagen die Venezolaner.

Orinoco
Der Autor in San Fernando de Atabapo

Clemente Guicho ist Curripaco – eine indianische Ethnie, die am Westufer des Atabapo lebt, aber äußerlich nicht von den Kreolen zu unterscheiden ist. Deshalb bleiben die Curripaco von Touristen auf der Suche nach Naturvölkern unbehelligt. Curripaco, ein Aruak-Dialekt, wird nur noch von 600 Menschen in rund dreißig Dörfern gesprochen. Guicho hat ein schnelles Boot, eine Vorliebe für amerikanische Dollar, kümmert sich nicht um Vorschriften und fährt gern den Atababo hinab, bis nach Javita kurz vor der brasilianischen Grenze.

Unsere Piroge bleib ein paar Minuten lang zwischen zwei Baumstämmen stecken. Kaum war sie wieder losgemacht, kamen wir an eine Stelle, wo mehrere Wasserpfade oder kleine Kanäle sich kreuzten, und der Steuermann wußte nicht gleich, welches der befahrenste Weg war. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der starken Strömung auszuweichen, durch den überschwemmten Wald. Das Klima in Javita ist ungemein regnerisch.

Doch die Wettergötter haben ein Einsehen. Keine Wolke trübt den Himmel, und am Abend kann der Reisende die Hängematte unter freiem Himmel aufspannen. Das Kreuz des Südens steigt langsam zum Zenit.

Es war eine der stillen, heiteren Nächte, welche im heißen Erdstrich so gewöhnlich sind. Die Sterne glänzten im milden planetarischen Licht. Ein Funkeln war kaum am Horizont bemerkbar, den die großen Nebelflächen der südlichen Halbkugel zu beleuchten schienen. Ungeheure Insektenschwärme verbreiteten ein rötliches Licht in der Luft. Der dichtbewachsene Boden glühte von lebendigem Feuer, als hätte sich die gestirnte Himmelsdecke auf die Grasflur niedergesenkt.

Elorza am Rio Arauca, südliche Llanos. Selten verirrt sich jemand nach Elorza. Nur die Fiesta im März, die toros coleados, zieht venezolanische Touristen an, die die Wildwest-Atmosphäre genießen wollen: breitbeinige Männer mit staubigen Stiefeln und Cowboy-Hut, schmelzender Gesang, untermalt von Gitarre und Harfe, Reiter, die versuchen, einen Stier möglichst schnell am Schwanz zu Fall zu bringen.

Am Ortsrand leben knapp hundert Guahibos, eng zusammengedrängt unter einem Wellblechdach und umgeben von Müllbergen. Die Guahibos sind Nomaden, die Mehrzahl stammt aus Kolumbien. Sie nennen ihre Wohnstätte garpón, „großes Haus“, und erhalten Sozialhilfe; einige Männer sprechen spanisch und verdingen sich für ein Almosen als Gelegenheitsarbeiter auf den umliegenden Farmen. Das gibt böses Blut: der Wahlkampf steht vor der Tür, und Lokalpolitiker haben Parolen ausgegeben, die frei übersetzt lauten: „Guahibos raus!“ und: „Arbeitsplätze zuerst für Einheimische!“

Pater Christobal ist Pole und aus Ostpreußen gebürtig. Sein klimatisierter Amtssitz nimmt die ganze Breite der Plaza Bolivar von Elorza ein. Als öffentliche Person könne er zwar nicht immer laut sagen, was er denke, aber seine kirchliche Autorität geltend machen. „Vor fünfzehn Jahren haben Viehzüchter und ihre Handlanger ein Massaker an den Guahibos verübt“, erzählt er, „es gab siebzehn Tote, auch Frauen und Kinder. Einige Überlebende hausen im garpón. Sie haben heute noch Angst. Die Schuldigen waren bekannt, wurden aber nicht bestraft.“

Guahibos
Guahibo, auch Wayapopihíwi genannt, im Süden Venezuelas, irgendwo in einem winzigen Dorf ungefähr hier. Das Stammpublikum wird auch mich erkennen.

Man erfährt, daß der örtliche Automechaniker Roberto Para vor einigen Jahren eine Anthropologin aus Paris zu den nomadisierenden Guahibos gefahren hat, die irgendwo in der Savanne leben. Bis zum Rio Meta, der Grenze zu Kolumbien, sind es rund 200 Kilometer, aber es gibt in diesem gottverlassenen Landstrich nur zwei aufgegebene Gehöfte. Die kolumbianische Guerilla macht das Gebiet unsicher, attackiert die venezolanischen Grenzposten und erhebt bei nächtlichen Überfällen von den Viehzüchtern „Kriegssteuern“.

Fünf Stunden mit dem rüttelnden Jeep durch die Savanne (vgl. Foto). Der Boden zeigte überall, wo er von der Vegetation entbößt war, eine Temperatur von 48 bis 50 Grad. Die Ebenen ringsum schienen zum Himmel anzusteigen, und die weite unermeßliche Einöde stellte sich unseren Blicken als eine mit Tang und Meeralgen bedeckte See dar. Im Norden stehen Rauchsäulen am Himmel – die Rancher nennen das „Flurbereinigung“.

Ein schlammiger Fluß: der Rio Capanaparo. Ein alter Mann rudert den Reisenden schweigend an das andere Ufer. Wieder ein garpón. Aller Augen richten sich auf den chefe. Der erklärt in stockendem Spanisch: Das Feuer und die Viehzucht engen den Lebensraum der Guahibos immer mehr ein. Sie litten Hunger, weil sie nicht mehr jagen könnten. Die Regierung lobt sich im Ausland für ihre gut gemeinte, das heißt paternalistische Indianerpolitik. Sie bietet den Nomaden an, gratis in Reihenhaussiedlungen wohnen zu können wie die katholischen und assimilierten Indianer am Orinoco. Dort wären sie geschützt vor Übergriffen sowohl der kolumbianischen Guerilla als auch der Viehzüchter. Doch sie wollen nicht.

Kein Stamm ist schwerer seßhaft zu machen als die Guahibos. Lieber leben sie von faulen Fischen, Tausendfüßen und Würmern, als daß sie ein kleines Stück Land bebauen. Wir fanden daselbst sechs von noch nicht katechisierten Guahibos bewohnte Häuser. Sie unterschieden sich in nichts von den wilden Indianern. Ihre ziemlich großen schwarzen Augen verrieten mehr Lebendigkeit als die der Indianer in den übrigen Missionen… Mehrere hatten einen Bart; sie schienen stolz darauf, faßten uns am Kinn und gaben uns durch Zeichen zu verstehen, sie seien wie wir.

Die ersten Weißen, die die Guahibos kennenlernten, waren Deutsche – im 16. Jahrhundert. Die Konquistadoren Georg Hohermuth von Speyer und Friedrich von Hutten zogen 1535 im Auftrag der Welser von Coro an der Küste nach Süden, bis in das Quellgebiet des Guaviare im heutigen Kolumbien. Mehrere hundert deutsche und spanische Landsknechte durchstreiften monatelang die Savanne, ausgemergelt vor Hunger und vergeblich auf der Suche nach einem Paß in die Anden, in das Land der Muisca, zum legendären El Dorado. Die Muisca zahlten mit Gold für die Kinder der Guahibos, erfuhren sie.

Fiengent ain Cassicquen oder Obersten, ßo sagt, er wer auff der andern Seitten des Birgs gewest, gab uns groß Zeittung von Reichtumb. Vermochten aber mit den Pfferden nit hynuber… berichtet der fränkische Edelmann Philipp von Hutten am 30. Oktober 1538 aus Coro an den kaiserlichen Rat Matthias Zimmermann in einem der ersten Briefe, den ein Deutscher aus Südamerika geschrieben hat.

coro
Plaza von Santa Ana de Coro, gegründet 1527 vom Spanier Juan de Ampiés, der sich dazu die Erlaubnis des Kaziken Manaure holte. Die kleine Kathedrale, dem heiligen Franziskus geweiht, war noch im Bau, als Georg Hohermuth von Speyer und Philipp von Hutten 1528 auf diesem Platz standen.

Coro, im Nordwesten Venezuelas. Auf einem Platz, inmitten liebevoll restaurierter Kolonial-Architektur, steht ein Glaskasten. Darin ein schlichtes Holzkreuz. Die Legende sagt, hier sei 1528 die erste Messe der Stadt gelesen worden, und das Holz stammte von dem Baum, unter dem sich der spanische Konquistador Juan de Ampiés und der Caquetio-Kazike Manaure zum ersten Mal trafen. Ein Jahr später kam Ambrosius Dalfinger aus Ulm, um im Auftrag der Welser einen schwunghaften Handel mit afrikanischen und indianischen Sklaven aufzuziehen. Ganz privat suchte er El Dorado. Ihm folgten deutsche und spanische Glücksritter und die Pocken, die die Indianer dezimierten.

Eine Geschichte, die sich in Südamerika Dutzende Male in verschiedenen Variationen ereignet hat. Warum also das flaue Gefühl des Autors im Magen, auf der Plaza Bolivar zu stehen, vor der eintürmigen Kathedrale Coros? Hans Hauser ist eine literarische Figur, die zum Glück und zu Recht vergessen worden ist. „Mit den Konquistadoren ins Goldland“ hieß das Buch, erschienen im Jahr 1958 in Stuttgart, von einem ebenso vergessenen Autor: Blonde deutsche Männer sorgen in fremden Landen für Ordnung, bekehren heidnische wilde Indianer und erleben prächtige Abenteuer. Der Held ist frei erfunden, nicht jedoch die Nebenfiguren: der leutselige Ambrosius Dalfinger, der tapfere Georg Hohermuth von Speyer, der stolze Philipp von Hutten und der finstere Nikolaus Federmann, Gründer von Bogota.

„Was so durch kindliche Eindrücke, was durch Zufälligkeiten der Lebensverhältnisse in uns erweckt wird, nimmt später eine ernstere Richtung an, wird oft ein Motiv wissenschaftlicher Arbeiten, weiterführender Unternehmungen.“ Das schreibt Alexander von Humboldt über das Motiv seiner Reise. Und Philipp von Hutten schrieb am 31. März 1539 an seinen Vater: Weiß Gott kein Geitz Gelds hat mich bewegt, diese Reiß zu thun dann allein ein sonderlicher Lust, so ich vor langer Zeit gehabt, dünckt mich auch, wäre ich nicht mit Ruhe gestorben, wo ich Indien nicht erst gesehen.

Die Zitate Alexander von Humboldts (kursiv) sind entnommen aus: „Eine südamerikanische Reise“, hg. v. Reinhard Jaspert, Berlin 1979, einer Auswahl u.a. aus Humboldts Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, (Reise in die Äquinoctial-Gegenden des Neuen Kontinents), 36 Bände, 1806ff., (Nachdruck bei Brockhaus 1970).

Die Zitate Philipp von Huttens aus: Eberhard Schmitt und Friedrich Karl von Hutten: Das Gold der Neuen Welt. Die Papiere des Welser-Konquistadors und Generalkapitäns von Venezuela Philipp von Hutten 1534-1541, Hildburghausen 1996.




Cinquenta y un mil quinientos veinticinco

51000

Puerto Ayacucho, Venezuela (1998). Die Summe hätte ich gern in Euro…. Mein Name war für die immer die Höchststrafe.




Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse für die Freiheit in Venezuela

Puerto Ayacucho

Das Foto habe ich 1998 in Puerto Ayacucho in Venezuela gemacht – auf dem Mercado Indígena. Dort hatte ich etwa gegessen.

America21.de über die „Opposition“ in Venezuela, die von den USA finanziert wird:
Welche Gruppen in Venezuela unterstützt werden, wird seit 2010 in den öffentlichen Jahresberichten der NED und des US-Außenministeriums nicht mehr ausgewiesen. Damals waren die hauptsächlichen Empfänger unter anderem das „Institut für Presse und Gesellschaft“ (IPYS) und die Gruppe „Führung und Vision“ (Liderazgo y Visión), die Beschäftigte des öffentlichen Sektors im Bundesstaat Carabobo agitierte. Bezuschusst wurden ebenso das „Zentrum zur Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse für die Freiheit“ (CEDICE Libertad), ein neoliberal ausgerichteter Think Tank, sowie die Organisation „Súmate„, der die rechtsgerichtete Ex-Parlamentarierin María Corina Machado angehört.

„Führung und Vision“ ist vergleichbar mit der hiesigen Content-Mafia und setzt sich „für den Schutz des Privateigentums“ ein. CEDICE Libertad hält Venezuela für „kommunistisch„. Alejandro Plaz, der Gründer von Súmate, „is a Venezuelan engineer and management consultant, who holds three Master’s degrees (two from Stanford University), and was a Senior partner for McKinsey & Company in Latin America“.

Das waren noch Zeiten, als die USA direkt einmarschierten. Heute machen sie es anders. Die Terminologie ist ähnlich wie in der Ukraine, ein Bürgerkrieg oder ein Militärputsch sind aber noch nicht in Sicht. „Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse für die Freiheit“ könnte auch mit „Volkswirtschaftslehre“ übersetzt werden oder mit „das Land für die westlichen Märkte öffnen“.




Am Rio Meta

rio meta

Das Foto (1998) zeigt den Rio Meta auf der venezolanischen Seite, nicht weit von Puerto Carreño in Kolumbien. Ich sitze hinten im Jeep, der einem katholischen Pater aus Elorza gehörte, der aus Polen stammte und mit dem ich mich über die Situation der Guahibo unterhalten hatte – und der auch Klartext redete. Der Pater entschloss sich spontan, seinen Bischof in Puerto Ayacucho am Orinoco besuchen zu wollen, und ich wollte auch dorthin. Mit dem Flugzeug sind das nur 266 Kilometer, mit dem Auto aber mehr als 500 – wir waren den ganzen Tag unterwegs. Gekostet hat es mich nichts, und ein Mittagessen bekam ich auch ausgegeben.

Wenigstens in meiner Phantasie muss ich mich von dem verlogenen Mist, den ich ständig in den Medien lese, erholen. Ich gäbe etwas darum, jetzt am Rio Meta zu sein…




Venezuela: eine gute Wahl

OrinocoOrinocoBarinasBarinasGuahiboGuahiboGuahiboPuerto AyacuchoamanavenstockfischPuerto Ayacuchomarienerscheinung

Edward Snowden kann also in Nicaragua oder Venezuela Asyl bekommen – nur wenige Länder scheinen der USA nicht in den Allerwertesten zu kriechen. Nicaragua ist aber zu nah an der USA und auch zu klein, deshalb empfehle ich Snowden dringend Venezuela. Man weiss zwar nicht, was die nächsten Wahlen dort bringen, aber es ist ja noch eine Weile hin.

Venezuela ist sicher eines der schönsten Länder der Welt, wegen der Vielfalt der Landschaften oder auch wegen der unglaublich schönen Menschen Frauen. Für Hetero-Männer ein ästhetisches Vergnügen, wenn man weder auf den Charakter noch auf die landesüblichen Erwartungen schaut, was die Geschlechterolle angeht (für aufgeklärte Europäer einfach grauenhaft!).

Von oben nach unten und links nach rechts: Blick auf die Raudales (Wasserfälle) des Orinoco während der Trockenzeit, nach Süden, ungefähr von hier aus. Eine junge Frau aus Puerto Ayacucho, auf einem Boot auf dem Orinoco. Ein Schuster aus Quibor im Westen des Landes – übrigens eine der ältesten Städte Lateinamerikas, von einem Spanier aus der Truppe des deutschen Konquistadors Georg von Hohermuth gegründet. Ein Taxi aus Barinas, Bundesstaat Lara. (Ich sollte mal meine Fotos auf Wikipedia hochladen, die haben ja rein gar nichts darüber.) Die nächsten drei Fotos: Guahibo, auch bekannt als Wayapopihíwi, in der Nähe des Rio Capanaparo. Eine junge Frau aus Puerto Ayacucho am Orinoco. Blick vom kleinen kolumbianischen Fischerdorf Amanaven auf das venezolanische San Fernando de Atabapo am Zusammenfluss von Orinoco, Ria Atabapo und Rio Guaviare (Wieso ist da auf Google Maps nichts zu sehen? Haben die das abgerissen?). Ein Fischer aus Amanaven zeigt mir Stockfisch (Trockenfisch); ich habe ihm den abgekauft und später zubereitet und gegessen. Straßenkreuzung in Puerto Ayacucho. Wandmalerei in der Kathedrale Maria Auxiliadora in Puerto Ayacucho, die in meinem Geburtsjahr gebaut wurde.




Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents

OrinocoOrinocoOrinocoOrinocoOrinocoOrinocoOrinoco

Alexander von Humboldt schrieb 1865:

Wir blieben nur einen Tag in San Fernando de Atabapo, obgleich dieses Dorf mit seinen schönen Pihiguao-Palmen mit Pfirsichfrüchten uns ein köstlicher Aufenthalt schien. (…) Am 27. Mai kamen wir von San Fernando mit der raschen Strömung des Orinoco in nicht ganz sieben Stunden zum Einfluß des Rio Mataveni. Wir brachten die Nacht unter freiem Himmel unterhalb des Granitfelsens el castillito zu, der mitten aus dem Flusse aufsteigt und dessen Gestalt an den Mäusethurm im Rhein, Bingen gegenüber, erinnert.

Ich bin 1998 der Route des genialen Erforschers gefolgt, nur in umgekehrter Richtung. „El Castillito“ sehen die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser auf dem vierten Bild von oben – die Schilderungen Humboldts kann man immer noch als Reiseführer benutzen.

Ich bin damals von Puerto Ayacucho (wir fuhren mitten in der Nacht los; ich sitze da vor meiner Pension und warte – eines der wenigen Bilder, das meinen Rucksack zeigt) mit einem Lastwagen zum Orinoco gefahren (3. Bild von oben) und dann weiter mit einem kleinen Schiff bis San Fernando de Atabapo am Zusammenfluss von Orinoco, Rio Atabapo und Rio Guaviare (Bild ganz unten). Das gegenüberliegende Ufer ist schon Kolumbien.




An der Grenze zur grünen Hölle

San Fernando de AtabapoSan Fernando de AtabapoSan Fernando de AtabapoSan Fernando de AtabapoSan Fernando de AtabapoSan Fernando de AtabapoSan Fernando de Atabapo

Vor acht Jahren habe ich das hier schon einmal gebloggt, heute kann ich die Bilder in besserer Qualität anbieten. Auch die Links sind aktueller.

Das ist das Ende der Welt: San Fernando de Atababo, der letzte Ort am oberen Orinoco, den man noch mit „öffentlichen“ Verkehrsmitteln erreichen kann – sogar in der Trockenzeit nur per Boot. „Man sollte allerdings bedenken“, schreibt der Reiseführer, „dass solche Touren auf eigene Faust nicht ganz ungefährlich sind, man bewegt sich hier schon am Rande der „zivilisierten“ Welt. Gen Süden und Westen gibt es nur noch selten Orte – den Casiquiare aufwärts ist das Gebiet fast menschenleer.

Nur zwei Tagesreisen östlich, und man ist auf dem Territorium der Yanomami. Ein italienischer Ethnologe hatte mir aber in Puerto Ayacucho mit Augenzwinkern erzählt, die Yanomami seinen die „Drosophila“ der Ethnologie – kaum ein Volk sei besser erforscht. Und die Erforschten wüssten das und verhielten sich dementsprechend. Das bedeutet: Gringos wie Rüdiger Nehberg denken, deren Lebensart sei „ursprünglich“. Die „Indianer“ hätten ganz andere Probleme: Goldsucher schürften in ihrer Gegend, es gäbe zahlreiche illegale Minen. Bei der Goldsuche fiele Quecksilber ab, und die Quellflüsse des Orinoco seien schon vergiftet. In dieser gottverlassenen Region leben noch andere Völker, um die sich kaum jemand kümmert, und die kämpften schlicht ums Überleben. Der Ethnologe warnte mich: Wer dort allein reiste, per Boot, dem könnte es geschehen, dass ihm Pfeile um die Ohren flögen, weil man für einen Goldsucher oder einen Sekten-Missionar gehalten würde, etwa vom berüchtigen fundamentalistischen Summer Instituts of Lingustics. Und die Indianer könnten verdammt gut mit Pfeil und Bogen umgehen…

Ich wusste, dass ich nicht genug Zeit und Geld hatte, um diese Tour zu machen – wenn ich das nächste Mal nach Venezuela fahre, weiß jeder, der dieses Weblog liest, wo ich dann zu finden bin: Entweder im Jeep irgendwo nördlich des Rio Meta in den Llanos (nicht in der Regenzeit), oder im Flussdreieck Orinoco – Casiquiare – Rio Atabapo, in Sichtweite der majestätischen Tafelberge, den Tepuis.

In einer Story über meine Reise („Der gottverlassene Landstrich“, Tagesspiegel 19.9.1997) schrieb ich: „San Fernando de Atabapo: ein verschlafener Ort mit 3000 Einwohnern. Eine Kirche. Ein Restaurant: der folgenlose Genuss des Tagesmenüs setzt eine tropentaugliche Darmflora voraus. Das einzige Hotel (Bild links oben) an der Plaza Bolivar: nur drei Zimmer, weit jenseits von mitteleuropäischem und Komfort. Mittendurch eine Heerstraße für Ameisen und die in Volksliedern liebevoll besungenen Cucarachas. Am Abend schauen auch ein paar Kröten herein, die der kurze, aber um so heftigere Tropenregen unternehmungskustig macht. Hängematte und Moskitonetz gehörten zur Grundausstattung des Reisenden wie Toilettenpapier und Plastikfolie, um Papiere und Geld vor Feuchtigkeit zu schützen.“

Es war viel netter: die hübsche Hausgehilfin des Hotels (Bild oben rechts), natürlich alleinerziehende Mutter, drückte mir eine Schaufel in die Hand, nachdem ich lange auf sie eingeredet und ihr eine Menge Komplimente gemacht hatte. Angeblich war das „Hotel“ voll. Aber ich durfte dann doch das einzige leere Zimmer (Bild oben links) vom Müll befreien. Es war, vom Globetrotter-Maßstab aus gesehen, recht komfortabel. Die junge Dame brachte mir, verlegen lächelnd, sogar einen Ventilator. Draußen eine Terrasse mit Tisch und Stuhl, allerdings standen überall leere Bierkästen und anderes Gerümpel herum. Ich rückte den Stuhl an die kleine Mauer mit Blick auf den Zusammenfluss von Atabapo und Guaviare, warf meinen Ofen an und kochte mir eine heisse Suppe, die erste Mahlzeit seit vier Uhr morgens. Brot hatte ich auch noch. Während ich meine Mahlzeit löffelte, sah ich direkt nach Westen und ließ die Gedanken schweifen. 1982 hatte ich an demselben Fluss gestanden, weit im Westen, in den kolumbianischen Llanos

Das grandiose Panorama entschädigt für die Müllkippe des Ortes in Reichweite – im Gestrüpp zwischen Flussufer und Hotel. Eine Gewitterwolke dräut über dem satten Dunkelgrün des Urwalds, die letzten Sonnenstrahlen gleißen durch das kitschige Abendrot und lassen die Sandbänke weiß leuchten. Hier fließen drei Ströme zusammen: Guaviare, Atabapo und Orinoco. Der Guaviare, breiter als der Rhein, entspringt tausend Kilometer westlich in den kolumbianischen Anden und hat, so schreibt Alexander von Humboldt, weisses Wasser, und der ganze Anblick seiner Ufer, seiner gefiederten Fischfänger, seine Fische, die großen Krokodile, die darin hausen, machen, daß er dem Orinoco weit mehr gleicht. Von Süden ergießt sich der Atabapo in den Guaviare. Wassertemperatur des Rio Atabapo: erstaunliche 37 Grad. Der sonnendurchglühte Granit (Bild linke Reihe, 2.v.o.) heizt den Fluss auf. Er ist dunkel wie schwarzer Tee, aber klar bis auf den Grund. Die Färbung rührt von Gerbsäure, die Insekten abhält, ihre Eier zu legen.

In den folgenden Tagen ging ich jeden Tag zum Fluss, die Sandbänke tauchten wie schneeweiße Fische aus dem Wasser auf. Das Wasser war wirklich, so wie Humboldt es beschrieben hatte, wärmer als in einer Badewanne und, abgesehen von der dunkelbraunen Farbe, glasklar. Ich setzte mich in den warmen Sand ins Wasser, und tausende winzige und glitzernde Fische schwommen um mich herum, als hätten sie keine natürlichen Feinde. Die mächtigen Bäume am Ufer zeigten alle Schattierungen der Farbe grün, der Himmel war wolkenlos und dunkelblau – mir schien es, als sei ich in eine Kitschpostkarte hineingeraten. Und ich war ganz allein. Warum ist hier sonst niemand? habe ich mich damals gefragt. Ich habe, bis auf Grenada in der Karibik, nirgends einen besseren Sandstrand und schöneres Wasser gefunden. Nun gut, es gibt weder ein Restaurant, das diesen Namen verdiente, noch ein Hotel… Aber von Berlin aus braucht man nur drei Tage, wenn alles gut geht…




Geistiger Dünnschiss und Gülle in Mogelpackung

Cybergirls

Ein sehr geschätzer Kollege (keine Ironie!) schrieb mir heute morgen: „als Blogger bist Du ja noch so einigermaßen zu ertragen. Aber Deine derzeitige ‚Second Life Märchenstunde‘ ist mal ganz diplomatisch ausgedrückt geistiger Dünnschiss. Und da wunderst Du Dich noch, dass Dir diese Gülle keiner abgekauft hat.“

Recht hat er – aber keine Ahnung. Text und Fotos sind nicht besser oder schlechter als andere Fotostrecken, Bilderserien und pseudojournalistische Berichte über die „Gesellschaft“ in anderen großen Medien, die bekanntlich allesamt nur für die Klickraten gedacht sind. Und halt: Meine Fotos aus Second Life sind erheblich besser als die, die man zur Zeit auf deutschen Websitea finden kann. Man schaue sich nur die grottenmäßigen und statischen Fotos bei der Süddeutschen an, die ein nettes Interview mit Second-Life-Gründer Philip Rosedale illustrieren sollen. Ja, ich hatte irrig gedacht, originelle Bilder würden jemanden interessieren. Aber weit gefehlt: Stattdessen kommt immer dasselbe schlechte Foto. Kein Wunder, dass man sich gähnend abwendet.

Ähnlich langweilig ist auch die „Kritik“ des Kollegen Harald Taglinger Mogelpackung in 3D in Telepolis über ExitReality, eine 3D-Erweiterung für enen Browser. Das Thema wurde auf Burks‘ Blog schon im September behandelt. Taglinger formuliert über „Second Life, der müden Stehparty, die viel verspricht, aber wenig hergibt.“ Lieber Kollege, du hast keinen blassen Schimmer (und vermutlich auch keinen Avatar, der länger als zehn Minuten inworld war).

Nehmen wir einmal zur pädagogisch wertvollen Erläuterung die Entwicklung des World Wide Web: Wer hat es vorangetrieben? Wer hat die fortgeschrittensten und gleichzeitig fiesesten Features eingesetzt? Wer hat zuerst Nutzer ausgespäht und den Boden für die Kommerzialisierung bereitet? Wer ist immer die technsiche Avantgarde gewesen, wenn es um Kopfkino geht? Richtig – im bigotten Mediendiskurs Deutschland will es niemand so recht aussprechen, aber jeder weiß es: Die Porno-Industrie. Wer sich bei diesem Thema in Second Life nicht auskennt, sollte sich einfach ruhig in den Wohnzimmersessel setzen und ein Jahr lang die Klappe halten.

Warum ein Jahr? Ganz einfach: Weil ich hier und heute einen neuen Medienhype über Second Life im Frühjahr 2010 prophezeie. Ihr könnt mich gern darauf ansprechen, wenn ich bis dahin nicht nach Santa Marta (Landschaft, Geschichte, schöne Frauen, Musik), Dangriga (Karibik, Musik), Tarabuco (Landschaft, Indios), nach Puerto Ayacucho (Urwald, schöne Frauen) oder nach Coro (Architektur, schöne Frauen, Geschichte, Musik und Tanz, Politik) ausgewandert bin, weil ich das hiesige Gefasel einfach nicht mehr ausstehen kann. Aber ich schweife ab.

Im Herbst 2009 kommt der nächste technische Spring in Second Life. Wer etwas davon im Beta-Stadium sehen will, schaue sich bei YouTube „Second Life 2.0“ an oder „Battle Tech 2.0“ (Sound nicht vergessen!). Avatare und Ambiente werden dann fast fotorealistisch sein. Einen ersten Eindruck soll auch der obige Screenshot eines schwedischen Künstlers mit dem Pseudonym „Master Epsilon“ verschaffen. Ich habe mit ihm von Avatar zu Avatar gechattet: Seine (hier nicht, aber in Second Life schon) pornografischen Fotos von Avataren, die es live so erst in einem Jahr geben wird, sind nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch sehr anspruchsvoll. Wer von einer „müden Stehparty“ redet, hat auch heute schon einfach nicht hingeschaut und vor allem – weil es in Second Life primär um Kommunkation geht – nicht hingehört.




Venezuela | wahr und falsch

Puerto Ayacucho

Über Venezuela schreibt Spiegel Online wahr und falsch. Wahr: „Ohne die Arbeitskraft der kolumbianischen Immigranten wäre der Ölstaat wirtschaftlich am Ende: Wenn überhaupt etwas in dem relaxten Karibikstaat funktioniert, ist das meistens einem fleißigen Kolumbianer zu verdanken.“ Ja, das ist ein Witz, den sogar die Venezolaner erzählen. Ich mag die Kolumbianer, sie sind in der Regel ziemlich agil und fit, leider manchmal auch bei den falschen Themen. Und schon Alexander von Humboldt stellte wertfrei fest, dass in Venezuela (das es damals so noch nicht gab) niemand arbeiten wolle.

Falsch: „Venezuela ist traditionell friedfertig und musste noch nie einen Krieg gegen ein Nachbarland ausfechten.“ Was hier verschwiegen wird, ist, dass Venezuela fast die Hälfte seines östlichen Nachbarlands Guyana für sich beansprucht (vgl. „Guyana 2 – die Rebellion der Rancher“, spiggel.de, 23.08.2003). Beim klitzekleinen „Bürgerkrieg“ 1969 in Guyana haben die Venezolaner wohl kräftig indirekt mitgemischt.

Guahibos

Das obige Bild zeigt eine Straße in Puerto Ayacucho, Bundesstaat Amazonas, Venezuela. Ich bin in einem LKW mitgefahren. Das untere Bild zeigt mich bei Guahibo-Indianern, ungefähr hier am Rio Capanaparo im Süden des Bundesstaats Apure.