Unter Dichtenden und Sammelnden

gleimhaus halberstadt

Das Gleimhaus in Halberstadt ist „eines der ältesten deutschen Literaturmuseen, eingerichtet im Jahr 1862 im ehemaligen Wohnhaus des Dichters und Sammlers Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803)“. Ich bin da nur aus Neugier hineingeraten, weil das direkt neben dem Dom ist.

Gleim, ein Genie der Freundschaft, war mit vielen der bedeutendsten Schriftsteller seiner Zeit befreundet und versammelte sie in Bildnissen an seinen Wänden. So trug er die größte Porträtgalerie großer Geister des 18. Jahrhunderts zusammen, seinen sogenannten „Freundschaftstempel“. Lessing, Klopstock, Herder, Jean Paul, Anna Louisa Karsch, Elisa von der Recke und viele andere blicken den Besucher an.

gleimhaus halberstadt

Wir haben hier also soziale Medien des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Man nennt das Anakreontik. Diese literarische Stilrichtung „kreist um die Themen Liebe, Freundschaft, Natur, Wein und Geselligkeit.“

Es ist also alles schon einmal dagewesen, aber mit anderen technischen Mitteln, nur dass die Portraits natürlich besser aussehen als die meisten Selfies bei Instagram und dass weniger Katzen und nacktes Frauenfleisch vorkommen.

gleimhaus halberstadt

Ich muss gestehen, dass ich die meisten Namen nur schon einmal gehört hatte (außer Lessing und Mendelssohn natürlich), aber mir nichts darunter vorstellen konnte. Von den Frauen kannte ich keine. Anna Louisa Karsch, „die erste finanziell unabhängige Berufsschriftstellerin in Deutschland“? Die war offenbar erfolgreicher als ich, aber erst mit einem Schläger, dann mit einem Trinker verheiratet. Vielleicht hätte ich Gedichte statt Sachbücher schreiben sollen?

gleimhaus halberstadt

Gleim kannte angeblich rund 500 Leute, fast alle Intellektuellen und Künster im damaligen Deutschland, und hat mit allen korrespondiert. Die Zeiten sind aber vorbei, in denen man so etwas in Buchform veröffentlicht, wie etwa den Briefwechsel von Marx und Engels. „Einen weiteren Höhepunkt an Popularität erlangte Gleim während des Siebenjährigen Krieges als Verfasser von Preußischen Kriegsliedern, die auf der Fiktion basierten, es berichte ein Grenadier vom Kriegsgeschehen.“ Embedded Journalism, 18., Jahrhundert. Gleim würde heute sofort einen Job bei den öffentlich-rechtlichen Anstalten bekommen und würde über die Ukraine dichten.

gleimhaus halberstadt

Moses Mendelssohn „war ein deutsch-jüdischer Philosoph der Aufklärung. Er gilt als einer der wichtigsten Wegbereiter der Haskala, der jüdischen Aufklärung.“ Das Portrait von ihm im „Freundschaftstempel“ Gleims wurde nach der Machtergreifung der Nazis entfernt. Mendelssohn machte sich vermutlich heute in Israel auch nicht sehr viele Freunde. Dort schreitet die Religiotisierung ebenso voran.

Ich aber sage Euch: Es werden Zeiten kommen, da werde wir da geistige Klima der Aufklärung in Deutschland wieder herbeiwünschen. Oder die Zeiten sind schon da.

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Wenn man sich die Biografien der Frauen ansieht, überkommt einen das kalte Grausen. Kaum eine war glücklich verheirat. Die „Aufklärung“ erreichte offenbar nur eine sehr kleine intellektuelle Elite, and jenseits dessen waren nur finsterster Aberglaube und Religion.

gleimhaus halberstadt
Johann Gottfried Seume – einer der wenigen mit nicht-höfischer Frisur. Ihm wird „Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ zugeschrieben.

Der blasse Jüngling auf dem Boden liegt,
Welch grosser Anblick wird er allen seyn,
Die um ihn stehn! Dann wird der Patriot,
Der Menschenfreund, der Weise sagen: Ha!
Bey allen Göttern, er ist groß! Er ist
Beneidenswürdig, er ist Held, er hat
Dem allgemeinen Besten sich geweiht,
Ist für sein Volk gestorben! Wenige
Der Sterblichen sind so dahin gestellt
Auf unsrer Erde, Götter! daß ihr Tod
Das Leben vieler Tausenden seyn kann!

Natürlich ist so etwas heute grauenhafter Kitsch. Im heutigen Russland dürfte man das nicht sagen, wenn einem der patriotische Quatsch zu Ohren käme.

gleimhaus halberstadt

Ich fand die Atmosphäre interessant. Aber wen wird das in einem halben Jahrhundert noch interessieren? Unsere muslimischen Neudeutschen? Denen muss man den Begriff „Ausklärung“ vermutlich erst buchstabieren. Und Juden würden die auch wieder abhängen.

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Kommentare

11 Kommentare zu “Unter Dichtenden und Sammelnden”

  1. Jorg am Februar 11th, 2024 6:28 pm

    „Ich aber sage Euch: Es werden Zeiten kommen, da werde wir da geistige Klima der Aufklärung in Deutschland wieder herbeiwünschen. Oder die Zeiten sind schon da.“

    Sollte es nicht „da werden wir das geistige Klima der Aufklärung in Deutschland wieder herbeiwünschen. Oder die Zeiten sind schon da.“

    Siehst du sie schon da oder nicht?Ich sehe tatsächlich eher immer mehr Irrationalität, Kirche, Freiprediger, Finanzberater, Esoteriker und andere verkappte Religioten.

  2. Godwin am Februar 11th, 2024 6:55 pm

    Wiki sagt
    „Aufklärung und Barock, die oft als Gegensätze gesehen werden, entwickelten sich über Jahrzehnte zeitgleich im gleichen geografischen Raum.“

    „Die „Aufklärung“ erreichte…“
    zum Thema „Öffentlichkeit“ in der frühen Neuzeit hatte ich mal was, aber finde ich natürlich jetzt so auf die schnelle nicht mehr wieder…
    aber vielleicht als Anregung:
    https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-121479

    zu den Frauen
    https://www.bpb.de/themen/gender-diversitaet/frauenbewegung/35252/wie-alles-begann-frauen-um-1800/
    und
    https://de.wikipedia.org/wiki/Ob_die_Weiber_Menschen_seyn,_oder_nicht%3F

  3. blu_frisbee am Februar 11th, 2024 8:13 pm

    „die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ [Marx]
    Die Kritik der Ökonomie entdeckt in der Kraft des Geldes Gegenstände einander austauschbar zu verzaubern eine eigene Religion.

    Mit Gödel geht Plan nur wenn radikal vereinfacht.
    Bei Marx heißt das durchschaubar.
    Sein Programm ist Aufklärung.

    Selbsternannte Kommunisten schmieren Bibliotheken über Wert und Plan zusammen wie Theologen.
    Blöderweise kann man kapitalistisch nix ausrechnen.
    Der Krieg wurde durch Befehlswirtschaft gewonnen.

    Religion, Nation, Identität machen Leute blöd.

  4. Jens am Februar 12th, 2024 1:24 am

    „Gleim kannte angeblich rund 500 Leute, fast alle Intellektuellen und Künster im damaligen Deutschland“
    … multipliziert mit der aktuellen Einwohnerzahl der BRD wäre gleich die Anzahl der erlaubten/freigeschalteten Social-Media-Accounts — und die Welt wäre ein bisschen besser.

    Nur so als Idee.

    Gruß
    Jens

  5. ... der Trittbrettschreiber am Februar 12th, 2024 8:09 am

    Zur Frau Karsch:

    – Gar lustigst, zu erfahren, wie alten Jahren

    – Dichtende mit schleimigem Gebahren

    – Fuersten lobhuldigten,

    – und auf diese Weise, ihrer Zeit sehr weit voraus,

    – die Zukunft brilliant beschrieben, denn

    – heut schleimt ein jeder in des andren Arsch

    – gibt sich empoert und ganz woke barsch

    – und das mit kuenstlich genderierten Haaren.

    Das war ein sogenannter Zischreim …hx.

  6. ... der Trittbrettschreiber am Februar 12th, 2024 8:48 am

    @blu_frisbee

    „Religion, Nation, Identität machen Leute blöd.“

    Was aber, so moechte ich hier von unten, bottom up sozusagen fragen, was macht die Bloedheit mit den verbloedeten Menschen – werden die noch religioeser(Klimagendern, Ampeln oder Hydrogentechnik) oder befinden die sich in einer Transformationsphase, in der sie wie eh und JEVERpassen, es mal so richtig zischen zu lassen?

    https://www.youtube.com/watch?v=eF0ZqmL6lfU

  7. blu_frisbee am Februar 12th, 2024 6:06 pm

    Geframte verwechseln Argument in der Sache mit Dominanz im Rang,
    subjektiv gefühlte Wahrheit mit objektiver Wirklichkeit.

    Es gibt 1 Wirklichkeit (das was wirkt¹).
    Es gibt subjektive Modelle davon.
    Wenn Bild der Sache nicht treu gibts nen clash.
    Momentan ist viel bullshit unterwegs.
    ¹ Bei Realität sind die Kräfte nicht drin.

    Der Eintrag des Louis Capot zum 14.07.1789 in sein
    Jagdtagebuch lautete „Rien“.

    Hinterher wird man schlau aber es nutzt nix mehr.
    Momentan sagen die vom Klima-doomsday der tipping point kommt (wies aussieht unvermeidlich).

    Die Wirtschaftspolitik will mit viel Geld das Kapital anspornen aber die Pferde saufen nicht.
    Seit dem 15.Jhdt sinkt der Zins, Paul Schmelzing.
    Kapitalismus ist ewig weil Privateigentum Natur.
    Sagt die Kirche des rechten Glaubens.
    Muß also wahr sein.
    Weizenbaum, Kurs auf den Eisberg.

  8. blu_frisbee am Februar 12th, 2024 6:52 pm

    Ähmm: Der Mann hieß Louis Capet.

    Gesellschaft wird als Gemeinschaft misverstanden,
    sowohl von „Demokraten“ wie Faschisten.
    Der Staat ist kein Schutzherr mit Auftrag
    sondern eine Räuberbande.
    https://www.youtube.com/shorts/fF0xSS7nHZk
    Der deutsche Lebensstandard geht nur mit Ausbeutung anderer Länder.

  9. Hlawsa am Februar 13th, 2024 12:07 am

    Netanjahu ist der Elephant im Raum!!!

    Burkspille: „Die Araber sind unser Unglück“!!!

    Hlawsa

  10. ... der Trittbrettschreiber am Februar 13th, 2024 10:35 am

    @blu_frisbee

    Ich dachte, die Lenins, Baaders und Dutschkes waeren laengst von den Fluten der reaktiven Langeweile weggespuelt worden – und nun Dein aufschlussreicher Link. Danke dafuer. Sollten diese Neo-Nichtsalsbehauptungen-Herauswuerger m/w/d/x wieder mehr Gehoer bei den durch die journalistischen Peitschenhiebe in grenzwertige Erregung versetzten Bahnkunden und KlimagegnergegnerInnen finden, bleibt mir nichts anderes uebrig, als die unterirdischen Bestaende meines fluessigen, und deshalb stets schwindenden Eigentums voller Hopfen markt- und nationalismusfoerdernd zu erhoehen.
    Ein Dilemma…hx?

    https://www.youtube.com/watch?v=SeIsyuoNfOg

  11. blu_frisbee am Februar 15th, 2024 3:51 pm

    Im Kapitalismus kann man nix planen. Mit Gödel: Sobald ein System so komplex ist daß es nützlich wird dann auch unberechenbar. Das hatten die Bolschewiki misverstanden.¹
    Kapitalismus ist zusätzlich suizidal.

    ¹ Die Kritik der Bolschewiki am Kapitalismus war daß es den Proleten damit schlecht geht. Das kann man auch von Gerechtigkeitsgläubigen hören die ständig ein ‚wir‘ und Gemeinschaft beschwören wie der Pfaffe den Gott.

    Wenn Lenin ‚dem Wertgesetz Geltung verschaffen‘ wollte durch Kapitalismus + Plan wirds Mangel von ner anderen Sorte. Im Kapitalismus zählt nicht wer kein Geld hat. Das ist der unsichbare Elefant.

    Es hatte Gründe warum die russischen Proleten den Kapitalismus nimmer aushalten wollten. Der Grund war nicht die falsche Idee.
    Der Fehler war was die nach der Revo draus gemacht hatten.

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