Drachenspiele oder Pampa, backstage

Halberstadt dom

Wie das Publikum schon zu Recht befürchtete: Jetzt Halberstadt. Pampa also known as Sachsen-Anhalt. Wir zäumen das Pferd von hinten auf – das Unwesentliche zuerst, das Schlimmste später (auch das Thema „Juden in Halberstadt“ wird auf bald verschoben). Erst nachdem ich wieder weg war, fiel mir ein, dass ich vor mehr als zwanzig Jahren (2003) schon einmal dort war und für einen geplanten, aber aus zahllosen Gründen nie geschriebenen Roman im Stadtarchiv recherchiert hatte. Ich kann mich merkwürdigerweise kaum noch daran erinnern…

Halberstadt fachwerk

Warum Halberstadt? Vorschau: Natürlich wegen des Domschatzes. Ist dort etwas, was wir weder in Essen (2021) noch in Quedlinburg (2019) gesehen und analysiert hatte? Oder wiederholt sich alles? Haben wir etwas vergessen, die Theorie der Magie betreffend? Nein, nicht heute, auch wenn ihr ungeduldig mit den Füßen auf dem Parkett scharrt!

Halberstadt dom

Halberstadt ist ungefähr so groß wie Unna, wo ich großgeworden bin. Ein Tag reicht, um alles gesehen zu haben, und den Stadtkern hat man ein einer halben Stunden erwandert. Halberstadt leidet an der touristischen Konkurrenz Quedlinburgs, die mehr Fachwerk hat und wo alles zentral und fremdenfreundlich auf den Markt zuläuft. Die „Realsozialisten“ wollten in Halberstadt alle alten Häuser verfallen lassen.

In der Mitte ist der riesigen Domplatz, den man immerhin nicht mit Autos zugepflastert hat, aber da findet der Wanderer kein Straßencafe noch sonst etwas, was zum Verweilen einlädt. Die drei für das Städtchen völlig überdimensionierten Kirchen sind wuchtige Klötze, aber es fehlt irgendetwas, was sie mit dem Rest verbindet. Man ahnt: Hier war mal mehr los, aber nicht in diesem Jahrtausend.

Halberstadt dom

Interessant wird es wie überall backstage und im Kleingedruckten. Was war am Drachenloch? Game of Thrones?

Im Drachenspiel wurde der Drache, der symbolisch den Winter darstellte und von jungen Männern dargestellt wurde, durch das Drachenloch aus der Stadt vertrieben. Diese Vertreibungen, die mit Prügelstöcken vorgenommen wurden, verliefen nicht selten blutig, weshalb das Drachenspiel später auch verboten wurde.

Das glaube ich nicht. Bischof Sigismund, der das Verbot im 16. Jahrhundert durchsetzte, war Lutheraner, und damals hatte eh niemand etwas gegen Prügel und Gewalt. Nein, der ahnte, dass sich hinter dem Drachen etwas uraltes Heidnisches verbarg, dessen sich vermutlich niemand mehr bewusst war. Die Katholiken integrieren Mummenschanz und Magie fremder Götter, die Protestanten vertreiben bilderstürmerisch, bis die Religion besenrein ist.

Halberstadt border=

Ich wusste nicht, dass die Täufer auch in Halberstadt waren. Wie mit denen umgegangen wurde, habe ich in Münster, wo ich studierte, jeden Tag gesehen. In Halberstadt metzelten die Rechtgläubigen die radikalen Protestanten nicht nieder oder hängten sie in Käfigen, bis sie elend verreckten, sondern ertränkten sie 1535 auf Befehl Albrechts, des „Apostolischen Administrators für das vakante Bistum Halberstadt“, in der Bode. „Du sollst nicht töten“, christliche Version. Erstaunlich, dass sich heute noch Verehrer höherer Wesen in diese Tradition stellen. (Die Leser werden wiedererkennend mit dem Kopf nicken, wenn sie nachsehen, wer in dieser Gemeinschaft christlicher Kirchen Mitglied ist.)

Halberstadt

Die Fenster mancher Fachwerkhäuser sind zugemauert oder sonstwie verschlossen. Wenn man dann hinter die Potemkinsche Fassade blickt, wird klar warum: Manche werden offenbar nur noch durch die Vorderfront in der Senkrechten gehalten und würden ohne Nachbarn glatt umfallen.

Halberstadt fachwerkHalberstadt fachwerk

Die gefühlte Hauptstraße Halberstadts ist die Vogtei, die in den Johannesbrunnen und die Dominikanerstraße übergeht. Dort hatte ich das ästhetisch erfreulichste Erlebnis. Nein, nicht den Fachwerk-Spaeti (Foto unten).

Halberstadt fachwerkHalberstadt Rösterei Café Löper

In der Trillgasse 2 ist die Kaffeerösterei Löper mitsamt einem gemütlichen Cafe auf zwei Etagen. Dort kann man nicht nur exquisit leckeren Kuchen essen, sondern zahlreiche Kaffeesorten kaufen und kosten. Ich wundere mich, dass sich so ein edler Laden in der Pampa hält. Als ich dort nachmittags saß, war es unten ganz voll und vor der Kaffeeverkaufstheke war immer eine Schlange. Und das sind auch keine Preise, die ein armer Mensch bezahlen könnte.

Apropos Ästhethik. Dort bediente eine hinreißend attraktive herrenmagazinkompatible MILF Dame, von deren Kurven der ich meine Augen gar nicht lassen konnte. (Ich habe sogar ein winziges Bildchen gefunden.) Ich hätte da noch länger sitzen und sämtliche Torten aufessen können… Jetzt höre ich aber auf, sonst wird es sexistisch, was den hiesigen Gebräuchen krass widerspräche.

Halberstadt

Am Abend wollte ich schon wieder etwas essen. Das gestaltete sich schwieriger als ich dachte. Die Olive war voll, was man mir in ziemlich robusten Tonfall mitteilte. Im Halberstädter Hof saß ich eine Viertelstunde und ließ mich von der Familienfeier nebenan beschallen. Dann geruhte das Personal mir mitzuteilen, dass es „sehr lange“ dauern würde, was ich als Aufforderung verstand, die Lokalität zu verlassen. Beim Chinesen war auch kein Platz mehr frei. Ich wanderte also niedergeschlagen und schon hungrig zum altmodischen gutbürgerlichen Restaurant Liebscher – und wurde fündig. Dort kümmerte man sich rührend um mich. Man kann das alles kitschig nennen, aber meine Roulade war großartig, die Kürbis-Ingwer-Suppe würde ich gern nachkochen und das Bier war gut temperiert. Gerne wieder.

Halberstadt

Als ich heute mittags im Zug saß, rauschte draußen die sachsenanhaltinische Pampa vorbei. Ortsnamen, die nie zuvor ein Mensch ich noch nie gehört hatte: Wegeleben? Hedersleben? Könnern? Das erträgt man nur mit guter Musik und guter Lektüre.

pampabahn

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Kommentare

9 Kommentare zu “Drachenspiele oder Pampa, backstage”

  1. Die Anmerkung am Februar 4th, 2024 9:00 am

    Leicht OT

    Da es in dem Post im Geraune und die Verehrung höherer Wesen geht. Auf dem Rötzer-Portal overton raunt ein Rob Kenius:

    „Der Begriff Kapitalismus ist und bleibt vage, er behindert das Denken über die realen Verhältnisse in der Finanzwelt, in Wirtschaft und Politik. Wer soziale Gerechtigkeit will, muss finanzielle Gerechtigkeit herstellen.“

    Ich dächte, Marx hätte hinlänglich beschrieben, was Kapitalismus ist und wie man ihm beikommt. Soweit ich mich erinnere, kam die Herstellung sozialer Gerechtigkeit in seiner Kritik des Gothaer Programms mit einem heftigen Hieb auf den Schädel der Sozen davon.

  2. Lollo am Februar 4th, 2024 10:37 am

    Lapuente schreibt unter einigen
    Pseus bei Overton. Es gibt Leute,
    die gibt’s gar nicht.

    „Wer soziale Gerechtigkeit will,
    muss die Eigentumsfrage stellen“,
    wollte er schreiben. Alles nur
    Tippfehler. Kein Grund zur Sorge.

    Die Sozenlösung gibts im Buch:
    Das Kapital im 21. Jahrhundert“
    von Pickeldy und Frederik.
    Pickeldy schreibt, dass 2% des
    weltweiten Überreichtums ( pathologischer
    Reichtum ) von oben nach unten
    geschaufelt werden müssen um weltweit sowas
    wie „soziale Gerechtigkeit“ herzustellen.
    Ganz schön viel, was die da oben haben,wenn
    sie 98% behalten dürfen sollen.

    Lothar Kenius hat da durchaus einen
    Nerv getroffen.

  3. Albert Rech am Februar 4th, 2024 10:58 am

    Was wäre jetzt so schlimm gewesen wenn die Deutsche Demokratische Republik auch den Rest der Fachwerkhäuser beseitigt hätte?
    Eine neue, bessere Gesellschaft lässt sich nur schaffen wenn man die Reste der alten vernichtet und jede Erinnerung daran auslöscht.
    Sicher ist es dabei nötig diese neue Gesellschaft auf ein wissenschaftliches Fundament wie den Marxismus zu stellen, allerdings sollte auch die Spiritualität des Menschen berücksichtigt werden.
    Hierbei kann der Islam helfen, der als einzige Religion mit dem Klassenkampf des historischen Materialismus und dem Solidaritätsgedanken des Marxismus kompatibel ist.
    Es wäre sinnvoll durch mehr Zuwanderung die weisse, deutsche, christliche Mehrheitsgesellschaft allmählich durch Diffusion von braunen & schwarzen muslimischen Menschen fremder Kulturen zu Zerschlagen um auf ihren Trümmern eine bessere Gesellschaft zu errichten.
    Ist diese erst einmal auf dem Gebiet das jetzt als Deutschland definiert ist errichtet kann diese Gesellschaft mittels Dschihad (Anstrengung) im restlichen Europa wie z.B. Polen, Dänemark, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich verbreitet werden.

  4. /dev/null am Februar 4th, 2024 11:37 am

    OT:

    Gibt es heute einen Artikel über Bukele in El Salvador?

  5. Godwin am Februar 4th, 2024 1:00 pm

    Gab es denn gar keine Demo „gegen Rechts“?

  6. .... der Trittbrettschreiber am Februar 4th, 2024 1:31 pm

    @Albert Rech

    Mich ueberkommt es auch oft, alte Gebaeude als Leichenteile zu sehen, Schalen laengst verwester Weichwesen. Wenn ich durch ein altes Schloss schreite (in Salzburg oder Detmold), ein zum Verkauf stehendes, zerbroeselndes Fachwerkhaus oder ein Museum, das dermassen herausgeputzt wurde, dass nichts vom Geist des Vergangenen mehr in den Raeumen weht, dann, ja dann sehne ich mich nach den guten neuen, von intelligenten Baubachelors und biokreativen Architktinnen errichteten Holzplattenbauten mit vertikalen landwirtschaftlichen Flaechen, an denen feinster Hopfen blueht. Erst wenn diese Sehnsucht verflogen sein wird, wie der Duft eines aegyptischen Oels im Flakon aus edelstem Glas, dann werde ich hoeheren und niederen Wesen zuprosten mit den unserem Zeitgeist huldigenden Worten:
    jahimiherrgottsakramentefixhalelujamilexamarschscheissglumpfverex…hx.

    …und aus irgendeinem Keller wird ein Zischen in getragenem Adagio gleich einem Gemeinschaftsfurz einer von brennenden Brandmauern gewaehlten Ampel einem Ploppen weichen, das in einem droehnden Crescendo ueber die weiten Grenzen unserer Milchstrasse hinaus rezipierbar sein wird, damit es niemand JEVERwiderlichen kann…hx.

    https://www.youtube.com/watch?v=kyp_QxWXqe4

  7. blu_frisbee am Februar 5th, 2024 12:23 am

    Gerechtigkeit ist Transzendentalie im moralischen Weltbild, ein https://de.wikipedia.org/wiki/Essentially_Contested_Concept wo sich jeder unter dem Wort was subjektives vorstellen möchte.

    In der UZ schreibt Manfred Sohn (der darf das!) und barmt daß die Gesellschaft¹ auseinanderfliegt.
    Wo Kommunisten draufsteht sind keine mehr drin.
    Das froschigste Gesicht seit Hermann Axen grinst.
    https://www.youtube.com/watch?v=KGDO_w2kVl8

    ¹ Er setzt in eins Gemeinschaft und Gesellschaft.
    Marx wär das nie passiert.

  8. Sascha P. am Februar 5th, 2024 1:51 am

    @ Albert Rech
    laufen Deine Beiträge irgenwie unter Comedy/Satire, oder meinst Du derartigen Müll wirklich ernst?

  9. Jens T. am Februar 7th, 2024 4:24 pm

    Du bist etwas zu früh heim gefahren und hast ein Ereignis der Musikgeschichte verpasst: https://www.classicfm.com/composers/cage/as-slow-a-possible-aslsp-germany-organ-chord-change/ Aber es sind ja noch 615 Jahre Zeit, sich den Rest des Werks anzuhören.

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