Aufstand der Anständigen, reloaded

Aufstand der Anständigen
Deutscher „Aufstand der Anständigen“ (Symbolbild)

Schon wieder ein Aufstand der Anständigen. Hört das denn nie auf? Oder wiederholt es sich in einem fünfjährigen Rhythmus?

Ich schrieb vor mehr als zwei Jahrzehnten und wiederholte es am 11.10.2019:

Der »Aufstand der Anständigen« ist gescheitert. Und schon wird es kompliziert: Kann etwas scheitern, das es nie gegeben hat? Das gute alte Wort »Aufstand«, das so gar nicht zur deutschen Leitkultur passt, legt nahe, die Untertanen stürzten soziale Hierarchien um, enteigneten die Herrschenden ihrer Produktionsmittel und schafften Raum für das Gute, Schöne und Wahre.

Der »Deutsche an sich«, steht er denn auf, versteht darunter jedoch etwas sehr Religiöses. Er zeigt seinen Mitmenschen Symbole, das eigene Gesicht oder heilige Tücher. Wenn er sehr erregt ist, spielt er mit dem Feuer, verbrennt Bücher und schaudert fromm unter den lodernden Flammen nächtlicher Fackelzüge oder Lichterketten.

»Anstand«: ein an sich nicht unsympathischer Begriff, aber ebenso typisch deutsch. Er suggeriert in diesem Zusammenhang, dass politische Meinungen auf moralischen Werten fußten. Eine kühne Idee, ist doch Politik letztlich nur eine Aushandlung von Regeln, damit die Untertanen sich nicht gegenseitig den Schädel einschlagen und um sie glauben zu machen, das sei zu ihrem Besten. Anstand ist ein Appell, sich so zu verhalten, wie es sich geziemt. Was sich geziemt, bestimmt der, der die Macht hat.

Einen »Aufstand der Anständigen« kann es somit gar nicht geben, denn ein Aufstand ist immer unanständig. In den Augen der Herrschenden jedenfalls. Und seit wann macht die Mehrheit einen Aufstand? Und gegen wen? Ein »Aufstand der Anständigen« ist so sinnig, als forderten die Scientologen die Kassenzulassung. (…)

Man stelle sich vor, der deutsche Bauernkrieg im 16. Jahrhundert, die Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts oder der antifaschistische Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft wären unter der Parole »Aufstand der Anständigen« initiiert worden! Sie wären nie weiter als in das Stadium embryonaler Flugschriften und Flugblätter gekommen. (…)

Profit im Kapitalismus jedoch hat nie eine Moral, darin sind sich Karl Marx und der Neoliberalismus völlig einig. Der angebliche Kampf »gegen Rechts« meint, eine bestimmte Sonderbehandlung der Einwanderer, praktisch durch Stiefel-, theoretisch durch Salonfaschisten, schade dem Profit und sei somit kontraproduktiv für das System. Dazu brauchte es keine Lichterketten und andere Spiele mit dem Feuer. Was dem System schadet, erkennen Kapitalisten gewöhnlich zuerst und am allerbesten. (…)

Es geht immer um den Versuch, über medientaugliche Begriffe politische Ideen in Herrschaft und politische Macht zu verwandeln. Wer sich empört, braucht ein niedriges, weil letztlich eigennütziges Motiv: den eigenen Vorteil und die Teilhabe am gesellschaftlichen Produkt. Eigennutz ist gut, weil er das stärkste Motiv darstellt. Deshalb sind rassistische und antisemitische Vorurteile resistent gegenüber Argumenten und Appellen. (…)

Eines der größten Hindernisse im Kampf gegen den Rassismus ist die Idee der »interkulturellen« Erziehung. Niemand, der als einigermaßen liberal gelten will, kann heute festgefügte kulturelle Identitäten im linken Diskurs straffrei vertreten. Die Gesellschaft für bedrohte Völker als sinnfälligstes Beispiel ist politisch heute dort angelangt, wo sie schon immer hingehörte, eben bei den Völkischen und denen, die die »Palästinenser« zu den Sudetendeutschen des Nahen Ostens stilisieren.

Ein »Volk« der Palästinenser gibt es ebenso wenig wie ein türkisches oder deutsches Volk. Und deshalb gibt es auch weder einen Dialog der Kulturen noch einen der Religionen. Das »inter« setzt etwas voraus, das es nicht gibt. (…)

Migranten, die keine hippe Argumentation vorweisen können, die sie dem linken Paternalismus sympathisch macht, wie etwa die »politischen« oder die »Armutsflüchtlinge«, fallen potenziell aus dem Raster der Aufmerksamkeit. Rumänische Schleuser oder vietnamesische Zigarettenhändler, die mit dem Gedanken spielen, sich in Berlin-Kreuzberg niederzulassen, müssten ihren Beruf verschweigen, um in den privilegierten Genuss zu kommen, von antirassistischen Initiativen bemuttert zu werden.

Um die Immigration ist es in der Debatte in Wahrheit noch nie gegangen. Die deutsche Diskussion über die Einwanderer, Gastarbeiter, Zwangsarbeiter, Saisonarbeiter, Flüchtlinge und Asylbewerber wird seit 120 Jahren mit immer denselben Fragen geführt. Aus dieser Perspektive erscheint auch das Thema »Neonazis« nur vorgeschoben. Das Thema war immer, Macht und Herrschaft zu sichern und denjenigen, die an die Futtertröge drängen, ein wenig Teilhabe zu versprechen. (…)