Gegenwärtige Vergnügen für kurzlebige, schwache Geschöpfe

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Mit großem Vergnügen habe ich jetzt Lady Montagus Briefe aus dem Orient gelesen. Mary Wortley Montagu (1689-1762) war eine außergewöhnliche Frau, hoch gebildet, witzig, neugierig, kosmopolitisch, und gehörte zur intellektuellen Elite Europas im 18. Jahrhundert.

Ich finde das Gefühl seltsam, wenn man sich vorstellt, man könnte mit jemandem, der vor zweieinhalb Jahrhunderten gelebt hat, heute ohne Probleme diskutieren. Das denke ich auch zum Beispiel über den scharfsinnigen Lichtenberg. Was unterscheidet uns von denen? Sind wir gebildeter, wissen wir mehr über die wichtigen Dinge?

„Ich wohne an einem Ort, der vom Turm zu Babel eine rechte Vorstellung gibt: in Pera spricht man türkisch, griechisch, hebräisch, armenisch, arabisch, persisch, russisch, slowenisch, walachisch, deutsch, holländisch, französisch, englisch, italienisch, ungarisch, und, was das schlimmste ist, lady montagues werden zehn dieser Sprachen in meinem eigenen Hause gesprochen. Meine Stallknechte sind Araber, meine Bedienten Franzosen, Engländer und Deutsche, meine Amme eine Armenierin, meine Hausmädchen Russinnen, ein halbes Dutzend andere Bediente Griechen, mein Haushofmeister ein Italiener, meine Janitscharen Türken, so dass ich diese Vermischung von Lauten in einem fort höre. Bei den Eingeborenen bringt das hier eine seltsame Wirkung hervor, denn sie lernen diese Sprachen alle zur gleichen Zeit, ohne eine einzige genug innezuhaben, um darin zu lesen oder zu schreiben. Man findet hier wenig Männer, Weiber oder selbst Kinder, die nicht in fünf oder sechs Sprachen eine ganze Reihe Wörter wissen, Ich kenne selbst Kinder von drei oder vier Jahren, die italienisch, französisch, griechisch, türkisch und russisch reden. Letzteres lernen sie von ihren Ammen, die größtenteils aus diesem Lande sind, Dies scheint Ihnen unglaublich? Das ist es auch nach meiner Meinung, eines der seltsamsten Dinge eines Landes, und es vermindert das Verdienst unserer Damen sehr, die sich für außerordentliche Genies ausgeben, wenn sie in dem Ruf einer ganz seichten Kenntnis vom Französischen oder Italienischen stehen.“

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„Fast bin ich der Meinung, dass sie [die Türken] einen richtigeren Begriff vom Leben haben. Sie verbringen es im Garten, bei Musik, Wein und Leckerbissen, indes wir unser Gehirn mit politischen Entwürfen martern oder einer Wissenschaft nachgrübeln, die wir nie erfassen können, oder, wenn wir auch dahin gelangen, können wir die anderen nicht dazu überreden, denselben Wert darauf zu lesen wie wir. Gewiss, was wir fühlen und sehen, ist eigentlich unser Eigenes, wenn man das überhaupt von etwas sagen kann. Allein die Güter des Ruhmes, die Torheit des Lobes werden mühselig erkauft, und wenn man sie hat, bleiben sie immer eine arme Belohnung für Zeitverlust und Gesundheit. Wir sterben oder werden alt, ehe wir die Früchte unserer Arbeit ernten können. Venn man darüber nachdenkt, was für kurzlebige, schwache Geschöpfe die Menschen sind, gibt es dann für sie irgendein wohltätigeres Studium als das des gegenwärtigen Vergnügens?“