Block der Gläubigen (I)

tel aviv
Tel Aviv, Allenby Road Yona Hanavi – das Cafe heisst Nabi Yuna

Nein, das Thema Israel ist nicht durch. Übrigens habe ich rund 700 Fotos gemacht; der Vorrat reicht noch eine Weile.

Ich wollte mir noch einmal meine Notizen ansehen zu Gilles Kepel: Die Rache Gottes – Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch“. insbesondere Kapitel 4: „Die Erlösung Israels“ (S. 203-267). Ich hatte das Standardwerk zur Religiotisierung zum Vormarsch der „Orthodoxen“ in allen monotheistischen Weltreligionen hier schon erwähnt. Kepels Buch ist 1994 erschienen, erklärt aber eigentlich alles, was in den letzten Jahrzehnten in Israel „innenpolitisch“ geschehen ist. Statt das noch einmal zu lesen, kann ich meine Stichpunkte auch hier verbreiten. Was man daraus schließt, bleibt jedem selbst überlassen.

tel aviv carmel markettel aviv carmel market
Carmel-Markt, Tel Aviv

1. Nach dem Krieg 1973 war die Gush-Emunim-Bewegung („Block der Gläubigen“) gegründet worden. Gegen einen Staat und eine Gesellschaft, die bis dahin kulturell von einem laizistischen und zum Sozialismus tendierenden Zionismus geprägt waren, machte sie sich zu Vorkämpferin der Rejudaisierung Israels. Mitglieder dieser Bewegung wurden 1984 verhaftet, weil sie verdächtigt wurden, arabische Studenten der Hebron-Universität ermordet und Attentate auf arabische Bürgermeister verübt zu haben. Sie hatten auch Pläne geschmiedet, den Felsendom und die AL-Aqsa-Moschee in die Luft zu sprengen.

Gush Emonim war eine religiös-zionistische Erneuerungsbewegung. „Religiös“ will offenbar die „sozialistische“ Idee, vor allem der Kibbuzim, beerben. (Das kann man vergleichen mit der Rolle der Muslimbrüdern in Ägypten unter Nasser.) Menachem Begin wurde von den Gush Emunim unterstützt. „Zionistisch“ meint also nicht mehr nur, einen Staat für Juden zu gründen, sondern dessen Grenzen nach den „Heiligen Schriften“ ausrichten zu wollen – also nach irrationalen Kriterien. In der Bibel gehört auch das Land Gosen zu Israel – also ein großer Teil des Nil-Deltas.

jerusalem panorama
Jerusalem – links (südlich) vom Felsendom ist die al-Aqsa-Moschee (dunkle Kuppel)

2. Neben der Gush Emunim fanden auch andere „ultraorthodoxe“ Gruppen – die so genannten Haredim – wieder neue Anhänger, vor allem unter den jüdischen Einwanderern aus arabischen Ländern.
Allgemein betrachtet, kann man sagen, daß die ganze jüdısche Welt in den siebziger Jahren eine Bewegung der Teschuwa (was soviel bedeutet wie »Rückkehr zum Judentum« und „Reue, das heißt Rückkehr zur strikten Einhaltung des jüdischen Gesetzes, der Halacha) erlebte. Die »Reumütig Zurückgekehrten« (Baalei Teschuwa) verschließen sich den Versuchungen der säkularen Gesellschaft, um ihr Dasein ausschließlich auf die Gebote und Verbote zu gründen, die sie heiligen jüdischen Texten entnehmen. Dieser Bruch fordert eine strenge Trennung von Juden und Gojim (Nichtjuden, Heiden), um so die größte Gefahr für den Fortbestand des auserwählten Volkes, die Assimilation, zu bekämpfen.

Ergo: Klassischer Klassenkampf in religiösem Kostüm, samt kompensatorischer Gratifikation. Wir wiederholen: Wer den sozialen Aufstieg plant, durch Ausbildung und das dazu passende internalisierte Verhalten, aber durch die real existierenden Klassenschranken (die sich auch als Rassismus äußern können) einer Gesellschaft daran gehindert wird, also scheitert, wird versuchen, diesen „Aufstieg“ dennoch zu erreichen, indem er sich einer Gruppe anschließt, die vielleicht sozial geächtet ist (ob eine religiöse oder eine politische Sekte macht keinen Unterschied), aber innerhalb der Gruppe einen „Aufstieg“ ermöglicht oder zumindest verspricht. Die Religiotisierung Religion verspricht den unteren Klassen (hier u.a.: die in Israel damals diskriminierten Sephardim, heute etwa die Juden aus Äthiopien) etwas, was die säkulare Gesellschaft ihnen nicht geben kann.

Die Trennung der Gruppe nach „Innen“ und „Außen“ ist eine Methode, Kontinuität zu erzeugen – bei Sekten funkioniert das bekanntlich sehr gut.

4. Die Teschuwa ist also eine Rektion auf und das Gegenteil der jüdischen Aufklärung, der Haskalah im 19. Jahrhundert. Die Teschuwa setzt die Wiederherstellung geschlossener Gemeinschaftsstrukturen voraus, die vor der materialistischen und korrupten Gesellschaft schützen..

Schon wieder: reaktionäre Rebellion gegen den Kapitalismus, der das Individuum auf dessen isolierte Existenz als Warenproduzent zurückwirft und alle anderen sozialen „Bande“ zweitrangig werden lässt.
In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw., die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör einer bestimmten, begrenzten menschlichen Gruppierung machen. (Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 615)

siedler Oelberg
Ein Haus jüdischer Siedler auf dem Ölberg, der zu Ostjerusalem gehört.

5. Vor einem halben Jahrhundert waren die meisten Juden, vor allem in den USA, so genannte Reformjuden, die sich um rituelle Gesetze wenig scherten.
Diese Bewegung der »reuevollen Rückkehr« hat mit dazu beigetragen, dass sich das Erscheinungsbild des Judentums in der ganzen Welt nach 1975 verändert hat. Bis dahin hatten sich die orthodoxen und ultraorthodoxen Strömungen – die Haredim – nur noch in wenigen Familien halten können, die sich gegenüber dem gesellschaftlichen Umfeld weitgehend abschotteten. Die Jugendlichen befreiten sich immer mehr aus diesen Fesseln und praktizierten einen zwangloseren Glauben, der die verschiedensten Gestalten annehmen konnte.

In einer Gesellschaft ohne Religion ist es aber schwierig, eine wie auch immer geartete „jüdische“ Identität aufrechtzuerhalten. In Frankreich waren sehr viele säkulare Juden Teil der Studentenbewegung im Mai 1968, oder, wie Kepel es ausdrückt: Es war ein offenes Geheimnis, dass zahlreiche führende Linksradikale Juden waren.

Für diese Linken war der Staat Israel nur der Brückenkopf des Imperialismus im Nahen Osten, den man zerstören musste, um an seiner Stelle ein weltanschaulich neutrales Palästina zu errichten, in dem Juden und Araber in bestem sozialistischem Einvernehmen leben sollten.(…) skandierten die jüdischen Linken im Chor mit ihren »heidnischen« Gesinnungsgenossen: »Palästina wird siegen« – bis das Blutbad, das Palästinenser bei der Olympiade in München 1972 unter israelischen Sportlern anrichten, eine tiefe Verstörung auslöst. Das ist der Anstoß für eine Distanzierung vom linken Aktivismus und, für viele, für eine Wiederentdeckung ihrer jüdischen Identität. Dieses Ereignis war eine der Ursachen für die Selbstauflösung der proletarischen Linken, die die »Sponti«-Fraktion der französischen Maoisten darstellten. Ihr wichtigster Führer sollte einige Jahre später mit der gleichen Intensität, mit der er sich für den Marxismus-Leninismus engagiert hatte, seine Rückkehr zum Judentum vollziehen und in Straßburg eine ultraorthodoxe Jeschiwa gründen, in der sich neben einigen jüdischen Konvertiten zahlreiche seiner ehemaligen politischen Weggefährten einfanden.

6. Nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973, der ähnlich traumatisch war wie der 7. Oktober diesen Jahres, wurde Israel von den Großmächten dazu gezwungen, sich aus vielen eroberten Gebieten zurückzuziehen und die US-amerikanische Idee „Land für Frieden“ zu akzeptieren. Die innere Krise, die dem Krieg folgte, ließ die bis dahin unangefochten regierende Arbeiterpartei erodieren. Die „Orthodoxen“ reagieren, indem sie fordern, den Begriff Staat Israel durch das biblischen „Land Israel“ (Eretz Israel) zu ersetzen.
Das bedeutet zunächst einmal, sich jedem israelischen Rückzug aus den besetzen Gebieten zu widersetzen und dort Siedlungen zu errichten, um den Fortbestand der jüdischen Herrschaft über das Gelobte Land zu sichern. Die „Gush-Emunim“ betritt die politische Bühne in einem Augenblick, wo die israelische Gesellschaft in einer tiefen Orientierungskrise steckt. Die Führer der regierenden Arbeiterpartei wurden von der arabischen Offensive völlig überrascht und verloren dadurch ihre Legitimität (…) Sie können sich nicht mehr damit brüsten, die unfehlbaren Wegbereiter der Zukunft Israels zu sein.

tel aviv