Stillwater

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Ich habe mir – getrieben von der Logik der Algorithmen – Stillwater angesehen. Matt Damon als Hautdarsteller bedeutet, dass der Film nicht total beschissen ist. Die Rezensionen wie etwa im Tagesspiegel oder in der Süddeutschen referieren den Plot als „Vater, der Tochter aus Knast holen will“ („abgehalfterten Arbeiter, der versucht, seine Tochter aus einem französischen Gefängnis zu holen“). Zum Glück habe ich vorher nichts gelesen, sonst hätte mich gleich gähnend abgewendet. Nicht ohne meine Tochter usw..

Von Oklahoma nach Marseille? Warum nicht nach Neukölln oder Paris? Man ahnt: Der Held darf die Sprache nicht sprechen, weil das alles noch schwieriger macht (dann doch lieber gleich Kaldoaivi ödemarksområde!), und es muss irgendwie in den „Vorstädten“ spielen, damit der Held sich dort à la Vin Diesel fast und furious durchprügeln muss, um die wahren Täter zu finden. Aber nein, es ist ganz anders.

Was ich denke, worum es in „Stillwater“ (den Ort in Oklahoma gibt es wirklich) geht, taucht in gar keiner Rezension auf, noch nicht einmal in Ansätzen. Es spielt auch keine Rolle, ob irgendwie Amanda Knox inspiriert hat. Warum, so unsere erste Frage, muss es ein Arbeiter sein bei der „Mischung aus Sozialdrama und Krimi, vor allem aber das Porträt eines Mannes, der wieder Tritt zu fassen versucht im Leben“? Warum kein Lehrer oder Finanzbeamter?

Bill Baker (Matt Demon) ist auch kein klassischer Redneck, wie uns die Süddeutsche einreden will.…wird der Begriff Redneck auch verwendet, um Menschen ganz allgemein als eifernde konservative Reaktionäre zu bezeichnen, die der Moderne ablehnend gegenüberstehen. (…) Vorrangig bezeichnet er jedoch Weiße der Arbeiterschicht und/oder der ländlichen Bevölkerung, die über wenig Bildung verfügen und liberale Ansichten ablehnen.

Damit kommen wir der Sache schon näher. Bill Baker ist ein einfacher [wie nennt man denn die „nicht einfachen“ Arbeiter?] Bauarbeiter, zu seinem Job gehört das Demolieren. Früher hat er auf Erdölfeldern gearbeitet. Matt Demon stammt aber aus dem reichen Bilderungsbürgertum. Wie soll der wissen, wie sich ein Arbeiter verhält? Natürlich weiß er es, dazu ist er ein Schauspieler. Aber erkennt das auch der Rezipient des Films – und woran?

Jetzt müssen wir uns einen Helm aufsetzen, weil wir beinahe von Klischees erschlagen werden. „Arbeiter“ bedeutet: Immer ein Basecap mit Hooligan-Sonnenbrille tragen. Das ist nicht „liberal“. Holzfällerhemd ist gesetzt. Proleten können mit Theater nichts anfangen, erkennen aber, wie Bill Baker, dass Schauspieler dort nur komisch und „unnatürlich“ herumstehen. Proleten wählen Trump, aber – Vorsicht! Pointe! – Bill Baker ist vorbestraft und darf gar nicht wählen.

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Virginie (Camille Cottin) und ihre Tochter Maya (Lilou Siauvaud)

Proleten sind manchmal körperlich gewalttätig oder wissen, wie es geht, ungebildet und fromm und essen nur Burger. Spätestens hier merkt man, dass es darum geht, einen bestimmten Sozialcharakter zu entwickeln. So etwas funktioniert am besten, wenn der mit seinem genauen Gegenteil konfrontiert wird: Frankreich, gut essen und trinken, Schauspielerin, redet nicht mit Rassisten, traut sich nicht in die Banlieues, die fest in der Hand arabischstämmiger Clans Männer sind. Kann keine Toiletten reparieren und ruft einen Elektriker (der nie kommt), wenn eine Birne kaputt ist. Hat männliche Freunde, die einen Dutt tragen, auch sonst total hipstermäßig aussehen und ununterbrochen dummes Zeug faseln. Und schon haben wir Bill Bakers temporäre französische Freundin Virginie (Camille Cottin).

Das ungleiche Paar erzieht jeweils allein. Bill Bakers Tochter Allison (Abigail Breslin, Typ girl next door mit dem Mut zur Hässlichkeit) hat angeblich ihre Freundin umgebracht. Vattern war immer auf Montage und hat sich nicht um sie gekümmert. Der Rezipient kriegt die Botschaft per Holzhammer auf den Kopf geliefert. Die Tochter ist auch noch Lesbe. Das kommt davon, raunt das Publikum. Die heutigen Rednecks denken aber modern, so verlangt es Hollywood, und tolerieren das, auch wenn sie Tischgebete sprechen.

Virginies kleine Tochter Maya (Lilou Siauvaud) hingegen ist clever, hübsch und niedlich, und findet einen „echten Mann“ mangels sonstiger Vaterfigur klasse. Das ahnt man schon bei der ersten Begegnung. Dramaturgisch ist das keine faustdicke Überraschung.

Könnte man das auch anders machen – und warum nicht? In etwa: Bill Bakers Tochter ist eine bildschöne Blondine, und Virginies Tochter ist eine verzogenes und verlogenes Gör? Nein? Oder: Bill Baker ist ein französischer kommunistischer Arbeiter, der nach Oklahoma reist, weil seine Tochter ihren Freund ermordet haben soll, und trifft dort auf eine adipöse Farbige, bei der er wohnt, die eine ebenso verfettete Tochter mit Fastfood großzieht und Tischgebete spricht und Trump wählt?

Wenn man weiß, was nicht geht und warum, erkennt man auch die Moral von der Geschicht‘. Gesetzt: Töchter des Proletariats sind nicht attraktiv, und wenn doch, dann geht es um Sex. Fette Frauen, zumal Farbige, dürfen nur in Komödien mitspielen, in der alle Charaktere Karikaturen sind und über die die Mittelklasse, die auf keinen Fall Trump wählt, lachen darf – und nur die.

Arbeiter können Dinge, an denen Mittelklassemädels scheitern, weil man zuhause dafür Personal hatte oder das Geld, um Handwerker zu bezahlen. Sie können ihre Klasse nicht verlassen und sozial aufsteigen. Aber das versuchen sie gar nicht erst. Zurück in Oklahoma, ist für Bill Baker und seine Tochter alles wie vorher, außer den Erfahrungen, die sie gemacht haben.
Als beide eines Morgens auf der Veranda vor seinem Haus sitzen und Allison meint, es habe sich in Stillwater nichts verändert, sagt Bill: „Nein, Ally. Finde ich nicht. Alles sieht für mich anders aus. Ich kann kaum noch etwas wiedererkennen.“

Das stimmt eben nicht. Matt Demon spielt her nur den Plot des klassischen Entwicklungsromans herunter: Zentral ist dabei ein „fiktiv-biografisches Erzählen“, das je nach Subgenre entweder die harmonische Auflösung von (Identitäts-)Konflikten, die Desillusionierung des naiven Protagonisten oder die Illustration pädagogischer Konzepte zum Ziel haben kann [Im Gegensatz zu Wikipedia: Diese literarische Gattung gibt es erst seit der Entdeckung des bürgerlichen Individuums im 18. Jahrhundert und mitnichten im Feudalismus – das ist eine Projektion moderner Interpreten.]

Welches pädagogische Rezept? Außen (Ökonomie) bleibt alles beim Alten, nur Innen (Psychologie) entwickelt sich etwas. „Stillwater“ ist also ein klassischer Lehrfilm für die Mittelklasse: Er mahnt, wie schon Tacitus über die Germanen, dass die traditionellen Werte, die andere verkörpern (Germanen, das Proletariat) verkörpern (obwohl das schon seit Tacitus gelogen war), auch gut seien oder sogar besser, um mit dem Leben klarzukommen, ohne dass die Klassenschranken in Frage gestellt werden müssten. Überspitzt: Solange du Arbeiter bleibst und mir nicht zu nahe kommst, darfst du auch Burger essen und Tischgebete sprechen.

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Allison (Abigail Breslin

Die Kritiken auf Rotten Tomatoes ahnen irgendwie, dass man den Film nicht einfach als „Thriller“ nehmen kann, sondern dass die Klassenfrage eine Rolle spielt: „…when was the last time you saw a conservative blue-collar dad in a leading role?“

Dann gibt es natürlich noch die unvermeidlichen Woken: „It seems Marseilles’s immigrant population (…) are treated as mere casualties in Stillwater’s grand vision. If only that vision had some substance to it.“ Kann ja gar nicht sein, dass alle „Araber“ eines Films pöhse sind und auch gar nicht anders sein wollen oder nur als Staffage dienen…

Der Film lohnt sich allein wegen der ausnahmslos grandiosen Schauspieler.

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Kommentare

One Kommentar zu “Stillwater”

  1. lautenist am September 1st, 2023 8:58 am

    Ich habe den Film vor längerem gesehen und ihn als (gute) Unterhaltung empfunden.
    Einen tiefergehenden Anspruch hätte ich dem Werk allerdings nicht unterstellt.
    Aber ja: Die Schauspieler sind gut, die Geschichte banales Hollywood, bei der man sich fragt, wieso so viele gute Schauspieler gewonnen werden konnten.

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