Idiotische Streitereien unter Verschiebenden

inca trail
Ein Treffen der Moetzes Agudas Yisroel (February 2013)

Ich weiß jetzt, warum Israel keine Verfassung hat. Hier ein Zitat aus Tom Segevs: Die ersten Israelis: Die Anfänge des jüdischen Staates (1986):

„»Schon die Existenz einer religiösen Partei«, schrieb er [Ben Gurion] einmal zornig, »bedeutet, ob sie es beabsichtigt oder nicht, dass der Versuch unternommen werden soll, dem Land rabbinische Gesetze und Traditionen aufzuzwingen. Die Religions- und Gewissensfreiheit, die die religiöse Partei für sich fordert, ist sie weder bereit noch fähig, auch anderen zu gewähren.«(1) Dies war eine sehr realistische Einschätzung und zeugte davon, dass ihm bewusst war, dass es zwischen den Religiösen und den Säkularen im Grunde keinen Kompromiss geben konnte. Nicht alle hatten dafür Verständnis. (…)

Nachdem er den Boden für eine Kooperation zwischen dem religiösen und dem weltlichen Lager bereitet hatte, meinte Ben-Gurion, es sei nun an der Zeit, die ideologischen Grabenkämpfe zu vertagen. »Gegenwärtig besteht kein Grund, Fragen der Meinungen und der Überzeugungen zu lösen, in denen wir noch für lange Zeit gespalten bleiben werden«, schrieb er. Unversöhnliche Auseinandersetzungen über die Stellung der Religion im Staat Israel könnten zu einem »nationalen Pulverfass« werden, fürchtete er.(2) In einer Rede vor seinem Parteivorstand erklärte er, solche Streitereien seien »idiotisch«.

Nach einer der faszinierendsten Debatten, die die Knesset jemals erlebte, wurde beschlossen, auf die Ausarbeitung einer Verfassung für den Staat zu verzichten und sich zunächst mit so genannten Grundgesetzen zu begnügen, die im Laufe der Zeit zu einer Verfassung weiterentwickelt werden sollten, wodurch aber nur ein unzureichender Schutz der Bürgerrechte erreicht wurde. Vielleicht war dies auch beabsichtigt, aber wenn man sich entschieden hätte, eine Verfassung auszuarbeiten, hätte man sich zwischen zwei völlig konträren Grundauffassungen entscheiden müssen. »Als Sozialist und Atheist könnte ich niemals ein Programm unterstützen, das ein religiöses Staatsmodell beinhaltet«, erklärte ein Mapai-Abgeordneter. »Nur das Gesetz der Thora und die Überlieferung sind maßgebend im Leben Israels«, erwiderte ein Abgeordneter von Agudat Israel. Rabbi Itzhak Meir Levin sprach sich aus denselben Gründen und fast mit den gleichen Worten wie Ben-Gurion für eine Verschiebung der Verfassungsdebatte aus.

Also entschied man, keine Entscheidung zu treffen, und das Land erhielt infolgedessen keine Verfassung. Auf diese Weise ließ sich der von allen befürchtete Kulturkampf vermeiden.“
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(1) Ben Gurion: Netsah Israel (נצח ישראל), Jerusalem 1954, S.20
(2) ebd., S. 23

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Kommentare

One Kommentar zu “Idiotische Streitereien unter Verschiebenden”

  1. ... der trittbrettschreiber am August 6th, 2023 4:51 pm

    warum muessen selbtverstaendlichkeiten immer wiederholt werden – sind gebildete menschen so vergesslich oder haben die einfach zuviel JEVER getrunken? dann hx!

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