Der Arzt der Geächteten


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diacetylmorphine –chaos 100 –s 750 –s 750

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Selbst der friedfertigste Mensch wird, wenn er die Praxis des Dr. med. Gorm Grimm in Kiel verlässt, sein Bedürfnis nach Harmonie und seine Abneigung gegen Streit überdenken. Ein Gespräch mit dem bundesweit bekannten «Drogenarzt» provoziert eine klare Stellungnahme, für oder gegen, schwarz oder weiß, ja oder nein. Entweder ist dieser schmächtige, weißhaarige Mann mit zarten Händen und leiser Stimme ein Scharlatan, dem sofort das Handwerk gelegt werden muss, oder die Verfechter der traditionellen deutschen Drogenpolitik sind allesamt inkompetent oder nicht ganz bei Trost.

Die Gegner des Gorm Grimm – Ärztekammern, eine Heerschar von hochqualifizierten «Suchtexperten», Politiker, Richter, Staatsanwälte, Krankenkassen, Drogenberater und Kollegen der medizinischen Zunft – verzichten auf vornehme Zurückhaltung, wenn sie auf das Thema angesprochen werden. Von «Monsterpraxis» ist die Rede, oder: «Das ist ein Psychopath.» Seine Anhänger, die Patienten, sind anderer Meinung. Auch ihre Stellungnahmen lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: «Der einzige, der mir geholfen hat», «Er hat mich vor dem Selbstmord bewahrt», oder: «Ich liebe diesen Mann.» Gorm Grimm dürfte der einzige deutsche Arzt sein, dessen Patienten für ihn auf die Straße gegangen sind: Im Frühjahr 1992 formierten sich rund hundert Drogenabhängige zu einem Demonstrationszug durch die Kieler Innenstadt, um ihren Doktor zu unterstützen.

Was macht Gorm Grimm, dass die Krankenkassen eine Lawine von Prozessen gegen ihn losgetreten haben, dass er wegen «fahrlässiger Tötung» und «Körperverletzung» angezeigt und dass seine Praxis von Kriminalbeamten durchsucht wurde, daß ihm mehrfach die Zulassung entzogen werden sollte? Gorm Grimm lächelt auf diese Frage nur schwach, als sei er müde, gewisse Dinge immer und immer wiederholen zu müssen. «Ich nehme den hippokratischen Eid ernst.» Dort sei davon die Rede, der Arzt müsse «die Gesundheit schützen und wiederherstellen, Leid verhindern und lindern». Aber dagegen könne doch niemand etwas sagen? «Da täuschen Sie sich. Ich praktiziere unter kriegsähnlichen Bedingungen.»

Das scheint ein wenig übertrieben, aber dennoch: Die Vehemenz und Hartnäckigkeit, mit der seine Gegner ihn mit juristischen Mitteln bekämpfen, lässt sich mit rationalen Argumenten kaum erklären. Gorm Grimm substituiert mehrere hundert HeroinAbhängige zum Teil seit über zehn Jahren mit Codein-Präparaten, die nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen und die in jeder Apotheke verkauft werden: Mit Remedacen, einem Hustenmittel, mit Codein-Kompretten (Markenname: Codeinum phosphoricum [forte] Compretten) oder Dihydrocodein-Saft. Dihydrocodein ist ein chemisch verändertes Derivat des Codein, das in geringen Mengen in Opium enthalten ist. Codein wird im menschlichen Körper, wie Heroin, zu Morphium umgewandelt und hat auch dessen Wirkung.

Drogen gegen Drogen? Codein ist ein Opioid und macht abhängig – genauso wie Methadon bzw. Polamidon. Eine Abhängigkeit werde durch eine andere ersetzt, die «Sucht» also verlängert, meinen die, die jegliche Ersatzdrogen ablehnen. Die erste Behauptung der Substitutions-Gegner ist richtig, die zweite nicht unbedingt.


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Die Substitution hat nicht das Ziel – wie irrigerweise immer wieder behauptet wird -, eine illegale Droge nur durch eine legale zu ersetzen. Ganz im Gegenteil. Langfristig sollen die Drogensüchtigen «clean» werden. Nur, um diesen Schritt wagen zu können, müssen die psychischen und sozialen Voraussetzungen stimmen. Daher geht die «maintenance-to abstinence»-Therapie (von der Erhaltung zur Abstinenz) schrittweise vor. Die extrem euphorisierende Droge Heroin wird durch ein schwächeres Opiat ersetzt – wie Codein. Der Effekt: Abhängige, die substituiert werden, beginnen nach einer Eingewöhnungsphase, sozial unauffällig und «normal» zu leben, ihr Umfeld stabilisiert sich in der Regel, sie können einem Beruf nachgehen. Erst dann kann der Schritt zur Abstinenz mit Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden.

Dagegen ließe sich kaum etwas sagen. Und die positiven Erfahrungen etwa in den USA seit 1982, wo 85.000 Drogensüchtige Methadon erhalten[1993], sollten eigentlich für sich sprechen. Die Verfechter der klassischen Abstinenz-Therapie, des «Alles oder Nichts», können nur deshalb von ihrem völligen Scheitern ablenken, weil die Öffentlichkeit so gut wie nichts über Substitution weiß – und ebensowenig über Opiate.

«Drogenabhängige gelten als psychisch krank», sagt Gorm Grimm, «als hemmungslos, gefühllos, bindungslos, verwahrlost, asozial, kriminell und gefährlich, sogar als antisozial und staatsfeindlich. Ihre psychische Krankheit mache sie unzurechnungsfähig, was sich z. B. in ihrer Uneinsichtigkeit in die Behandlungsbedürftigkeit äußere. Von ihnen gehe eine Art Ansteckungsgefahr aus, ihre Sucht sei eine der schwersten bekannten Krankheiten, deren Ausbreitung mit allen Mitteln verhindert werden müsste.» (1)

So sieht das ideologische Fundament aus, auf das die Abstinenz-Philosophen bauen können. Ihre Antwort auf «Verwahrlosung» und «Suchtcharakter» ist immer noch dieselbe, die der deutsche Ärztetag in Danzig schon 1928 formuliert hat: Die «einzig richtige Behandlung eines Süchtigen», hieß es schon damals, sei «die sofortige Entziehung und anschließende langfristige Entwöhnung», in der eine «Persönlichkeitsveränderung» erreicht werden müsse. Die Behandlung sei «nur stationär» durchführbar.

Immerhin hat einer der Väter der «Suchtbekämpfung» durch Abstinenz, Prof. Wolfram Keup, zugegeben, dass die Praxis dieser Art der «Entwöhnung» ein Desaster ist: «In der Bundesrepublik Deutschland mögen derzeit etwa fünf Prozent der Abhängigen motiviert sein. Von ihnen scheinen nur etwa 30 Prozent, also 1,5 Prozent aller Fixer, ein Entwöhnungsprogramm erfolgreich zu durchlaufen.» (2) Keup spricht von einer «katastrophalen Situation in der Motivation Heroinabhängiger zur Therapie». Doch woran liegt das? Ist der Käufer schuld, wenn ihm das Produkt nicht gefällt? Oder sollte man über eine Verbesserung des Angebots nachdenken? Gorm Grimm kommentiert Keups Äußerung mit dem schlichten Fazit: «Also: 98,5 Prozent aller Drogensüchtigen verbleiben in der kriminellen Drogenszene oder zeitweise im Gefängnis.» (3)

Das weiß auch die Abstinenz-Lobby, und deshalb wagt es auch niemand, dem Kieler «Drogenarzt» Misserfolge oder das Scheitern seiner Therapie vorzuwerfen. Schließlich sprechen die Fakten für ihn: Ein großer Teil seiner heroinabhängigen Patienten, die mit schweren Verwahrlosungserscheinungen zu ihm kamen, war nach einer gewissen Zeit psychisch und sozial stabilisiert, trotz ihrer Abhängigkeit von Ersatzdrogen. Das gilt sogar für Alkoholiker und Medikamentenabhängige, die auch zu Grimms Klientel gehören.

Die Vorwürfe, die gegen Gorm Grimm erhoben werden, sind heute eher Rückzugsgefechte, mit denen man wenigstens das Gesicht wahren will. Grimm verschreibe «indikationswidrige Mengen» und kontrolliere nicht die Einnahme durch die Patienten.

In einem Verfahren, das die Ärztekammer Schleswig-Holstein gegen ihn anstrengte – mit dem Ziel der «Feststellung, dass der Beschuldigte zeitweilig oder dauernd berufsunwürdig ist» – wurden Vorfälle aus fünf Jahren penibel aufgelistet. Das Berufsgericht, bestehend aus drei hochrangigen Medizinern, sprach ihn frei und erlegte der Ärztekammer die Kosten auf. In der Begründung hieß es — ein sarkastischer Unterton ist unüberhörbar: Es sei bewusst auf die Befragung von Experten verzichtet worden, «weil der wissenschaftliche Streit um die Ersatzdrogentherapie Heroinsüchtiger weithin einem Glaubenskrieg gleicht und von Sachverständigen über das in bisherigen Veröffentlichungen und Anhörungen hinaus Gesagte nichts Neues mehr zu erwarten war».


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Aus der «Fülle der bisherigen Meinungsäußerungen» ergäbe sich nur zweierlei, so das Gericht, «nämlich dass es weder einen eindeutig festmachbaren Grund für das Entstehen der Sucht beim einzelnen Abhängigen gibt, noch eine einzelne Behandlungsmethode, die den Erfolg auch nur andeutungsweise garantiert». Die Bekämpfung der Drogenabhängigkeit sei «ein derzeit noch ungelöstes medizinisches Problem». Deshalb, so folgerten die Richter erstaunlich konsequent, gebe es auch bei der Behandlung von Heroinabhängigen «keine anerkannten Regeln der ärztlichen Wissenschaft, von denen abzuweichen einen ärztlichen Kunstfehler bedeutet».

Doch halt: Wenn das so ist, warum verschreiben nur ein paar Dutzend Ärzte in Deutschland Codein? Warum ist diese Methode der Substitution bisher nur in Hamburg offiziell anerkannt? Warum informieren die meisten Drogenberatungsstellen nicht über diese Möglichkeit, obwohl der Kieler Arzt eine erstaunliche Erfolgsquote vorweisen kann? Warum weigern sich die Therapie-Einrichtungen und die Drogenexperten standhaft, das Thema auch nur zu diskutieren?

Ganz einfach: Wir sind in Deutschland, und da geht es ums Prinzip. Und das heißt: Abstinenz. Dazu kommt, dass sich die Ärzte auf staatliche Stellen, Polizei, Justiz, Gesundheits- und Sozialbehörden und die Berufsgruppen verlassen können, die vom Abstinenz-Dogma profitieren. Die Junkies werden der Abstinenz-Therapie mit allen Mitteln «zugeführt». Für Gorm Grimm fußt der ärztliche Umgang mit Drogenabhängigen in Deutschland auf der «gelungenen Einschüchterung (fast) aller Mediziner», er ist «das Ergebnis» einer «im internationalen Vergleich beispiellosen deutschen Ärzte-Disziplinierung».

In dem Bescheid eines Gerichtes, das am 30.10.1985 ein Verfahren gegen Gorm Grimm einstellte, heißt es: «Auch der Hinweis des Beschuldigten, dass die ‘Substitutionstherapie’ in der internationalen Literatur positiv beurteilt werde, kann nicht dazu führen, die Behandlungsmethode des Dr. Grimm nicht als Verstoß gegen die ärztliche Heilkunst anzusehen.» (4) Und: Es könne den Beschuldigten nicht entlasten, wenn in der internationalen Literatur Reduktionsprogramme und Erhaltungsprogramme diskutiert würden. Mit anderen Worten: Wenn in anderen Ländern gute Erfahrungen mit der Substitution gemacht werden, heißt das noch lange nicht, dass deutsche Ärzte und Juristen deshalb auf ausländische Experten hören müssten.

Trotz dieser seltsamen Logik: Das Verfahren wurde eingestellt. Juristisch haben sich die Gegner Gorm Grimms bisher nicht ein einziges Mal durchsetzen können. Er gewinnt alle Prozesse.

Die offenen Anfeindungen, deren er sich seit Jahren erwehren muss, haben ihre Spuren hinterlassen. Der «Drogenarzt» teilt so kräftig und grob aus, wie er einstecken musste. Er schätzt auch das «Suchtpotential» des christlichen Glaubens relativ hoch ein: Die durch ekstatische religiöse Erlebnisse bewirkte Euphorie sei «nicht empfehlenswert» und der Droge Crack gleichzusetzen. «Wenig empfehlenswert» sei auch die «Droge Macht». Auf nur knapp zwanzig Seiten eines seiner Bücher kreiert er eine «Theorie der Drogensucht», die beinahe alle Fragen meint klären zu können, um deren Beantwortung sich Generationen von Wissenschaftlern seit Jahrzehnten bemühen. So schafft man sich nicht viele Freunde.

Zur Zeit wollen die Krankenkassen dem Drogendoktor an den Kragen. Sie wollen die Substitution mit Codein nicht bezahlen. Den Apotheken ersetzen sie zwar die Kosten für die «Remmis», die Kompretten und den Saft, fordern aber von Grimm mehrere Millionen Mark zurück. Die Angelegenheit ist zunächst – bis zu einem Musterprozess -aufgeschoben. «Ich habe mir Narrenfreiheit erkämpft», sagt Gorm Grimm grimmig.


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Der Kieler Arzt hat einige Briefe, die er erhielt, in einem Buch veröffentlicht. Sie sagen mehr aus als alle Reportagen und theoretischen Erörterungen über das «Drogenproblem». So schreibt eine Mutter, deren Sohn seit fünfzehn Jahren heroinabhängig war: «Ich habe mit ihm alle Stadien durchlebt und durchlitten, die in der Bundesrepublik im Lebenslauf eines Süchtigen fast unausweichlich vorgegeben sind: eineinhalb Jahre Jugendstrafanstalt wegen Besitz von einem halben Gramm Heroin, elf Langzeit-Therapien, zwei davon bis zum Ende durchgestanden, sechzehnmal Unterbringung in psychiatrischen Anstalten, davon mehrmals über längere Zeiträume hinweg, zwei Pflegschaften, etwa dreißig kalte Entzüge und immer wieder auch ambulante Therapie und Beratung. Ich weiß nicht, wie mein Sohn das ertragen konnte, ich weiß nicht, wie ich es ertragen habe. Mein Mann ist darüber gestorben.

Auch ich habe mich offenbar vor dem Gesetz schuldig gemacht, indem ich meinen Sohn mit Geld unterstützte (was das Gesetz andererseits von mir verlangt). Es wurde deswegen eine Geldstrafe von eintausendfünf-hundert DM über mich verhängt…
Aber ein solcher Bericht wird Sie, die Sie zumeist mit Süchtigen arbeiten, nicht überraschen, stellt er doch absolut kein Einzelschicksal dar. Das Besondere daran ist, dass sich für meinen Sohn wirksame Hilfe abzeichnete, zum erstenmal nach vierzehn Jahren: Er wurde in eine Methadon-Behandlung aufgenommen. Die Erleichterung war unvorstellbar. Von Straffälligwerden konnte keine Rede mehr sein, der Gesundheitszustand verbesserte sich erstaunlich, er hatte wieder Hoffnungen und Pläne, machte die ersten Schritte, um eine Ausbildung nachzuholen und was eben sonst zu einem normalen Leben gehört…

Dann, nach einer für meinen Sohn und mich recht kurzen Zeit des hoffnungsvollen Neubeginns, kam die Katastrophe: Der Arzt wurde verhaftet, (5) die Praxis geschlossen und einige hundert Patienten zurückgestoßen in Elend, Not und Verzweiflung. Nun sah mein Sohn keinen anderen Ausweg mehr, er strangulierte sich mit einem Kabel. Ich fand ihn, baumelnd, und konnte ihn noch rechtzeitig abschneiden. Erneut Einweisung in die Psychiatrie, wiederum Pflegschaft und Androhung einer Unterbringung auf Dauer. Davongekommen nur durch die Bereitschaftserklärung für eine neuerliche Langzeittherapie…

Ich klage an – im Namen Tausender von Süchtigen und ihren Angehörigen wegen Körperverletzung durch unterlassene Hilfeleistung und wegen der Verweigerung einer Behandlungsmöglichkeit. Ich klage an -wegen Duldung und Erzeugung unsagbaren Elends und Schädigungen an Körper und Seele bei Tausenden von Süchtigen, ihren Angehörigen und den ihrer Verantwortung folgenden Ärzten. Ich zögere nicht, dies alles als inhuman zu bezeichnen. Heute, am 2.6.1988, will ich diesen meinen ‘Bericht einer Mutten endgültig zum Abschluss bringen. Mein Sohn, seit 15 Jahren gehetzt und gejagt, sah keinen anderen Ausweg mehr und machte seinem verzweiflungsvollen Leben ein Ende.»


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Das alles kann einen gestandenen deutschen Drogenexperten nicht erschüttern. Nehmen wir zum Beispiel den Leiter einer Kieler Drogenberatungsstelle, ehemals Kampfschwimmer der Bundeswehr, seit 20 Jahren im Geschäft. Bei meinem Besuch ist die Beratungsstelle gähnend leer: Es werden ausschließlich Therapie-Plätze angeboten, die auf Abstinenz setzen. «Wir kriegen unser Geld», sagt der Mann, «egal, ob wir das oder das machen.» Man müsse sich eben entscheiden, welche Möglichkeit der «Behandlung» der Junkies man wähle. In einem Leserbrief an ein Nachrichtenmagazin hat er eine Reportage über Gorm Grimm als «Lore-Roman» abgetan. Die Substitution sei die «Endlösung des Drogenproblems» und tauge «nicht zur ernsthaften Diskussion».

Nur wenige hundert Meter weiter, in der Praxis von Gorm Grimm, drängeln sich die Patienten. Ein Soldat der Bundeswehr – er kommt mit Marschbefehl des Truppenarztes – holt sich seine Codein-Dosis für mehrere Wochen. Sein Vorgesetzter, der ihn vor kurzem belobigt hat, weiß nicht von der «Sucht» des Untergebenen, der Truppenarzt hält auf seine Schweigepflicht.

Ein Leiter eines Heimes für Behinderte schluckt täglich achtzig Remedacen. «Wenn das jemand in meinem Heimatort erfahren würde, wäre ich unten durch», sagt der Patient. Er war noch vor zehn Jahren heroinabhängig. Durch die Codein-Substitution hat er den Absprung geschafft, kann aber von der Ersatzdroge nicht lassen. «Ohne Codein würde ich wahrscheinlich wieder rückfällig.» Er hat sich seinen Camping-Bus umgebaut. Wenn er in den Urlaub fährt, stopft er sich mehrere tausend Remedacen-Jabletten unters Dach. Der Vorrat hält mehrere Wochen.

Ein Tischlermeister, er ist Innungsmeister in Norddeutschland und war bis vor vier Jahren noch heroinabhängig, substituiert sich mit Codein-Kompretten. Ein Werftarbeiter aus Hamburg kommt in die Praxis. Die Kollegen ahnen nichts von seiner «Sucht». Der Chef weiß Bescheid: Sein Arbeiter beichtete ihm das «Suchtproblem» erst, als er mehrere Monate unter härtesten Bedingungen geschuftet hatte. Der Boss entgegnete lapidar: «Wenn du drei Monate mit dem Sandstrahl gearbeitet hast, kann ich ja wohl nichts dagegen haben, dass du drogenabhängig bist.» Der Patient süffelt jeden Tag vier Flaschen des Schmerzmittels Valoron IV auf ex. Das Medikament enthält das Opiat Tilidin. Die Herstellerfirma hat Valoren seit einigen Jahren mit einem Opiat-Antagonisten versetzt. Deshalb fällt es nicht unter das Betäubungsmittelgesetz und heißt jetzt «N» wie «neu». Der Wirkstoff ist der alte, man muss nur wissen, wie man es einnimmt, damit der Brechreiz und der «Turkey» — als Folge des Antagonisten – nicht zu spüren sind.

Eine junge Türkin, ehemals heroinabhängige Prostituierte, kommt mit ihrer Mutter zu Gorm Grimm. Sie ist HIV-positiv und hat nur noch kurze Zeit zu leben. Sie wird — wahrscheinlich zum letzten Mal – in ihre Heimat reisen und braucht dazu mehrere hundert Remedacen. Beim Abschied bricht sie in Tränen aus und fällt ihrem Doktor um den Hals. «Ich liebe Sie», ruft die schwer gezeichnete junge Frau immer wieder.

Beispiele dieser Art gibt es genug. Die Gegner der CodeinSubstitution können den Effekt der «medikamentengestützten Therapie der Drogensucht» (MTD), wie sie Gorm Grimm nennt, kaum bestreiten: Die Mehrzahl der Patienten hat sich von der kriminellen Drogensubkultur distanziert, geht einem Beruf oder einer Ausbildung nach und hat sich ein neues soziales Umfeld geschaffen. So bezieht sich die stark emotional gefärbte Kritik eher auf die Vergabepraxis der «Ersatzdroge». Codein hat für die Abhängigen den Vorteil, dass es nicht unter Aufsicht des Arztes eingenommen werden muss – wie etwa Methadon. Ein Arztbesuch ist nur einmal pro Woche oder noch seltener nötig.

Patienten, die längere Zeit in Behandlung sind, kommen nur alle paar Monate.
Damit hat sich Grimm den Vorwurf eingehandelt, er verzichte auf die obligatorische psychosoziale Betreuung. Der Ärger der orthodoxen Drogenexperten ist verständlich, würde doch die Methode des Dr. Grimm in erheblichem Maße Arbeitsplätze überflüssig machen – in den Drogenberatungsstellen, die in der Regel die psychosoziale Betreuung übernehmen, und in therapeutischen Einrichtungen.

Deshalb pflegt man die Fälle in der Öffentlichkeit zu zitieren, in denen Patienten des Kieler Arztes an den Folgen des Drogenmissbrauchs gestorben sind. Prof. Dr. Wolfram Keup, ein Gegner der Substitution à la Grimm, wies als Sachverständiger in einem Prozeß darauf hin, dass der Arzt kontrollieren müsse, dass und wie das Ersatzmittel eingenommen werde. Es bestünde die Gefahr, dass der Süchtige die Substitution nur als bequeme Möglichkeit ansehe, zu seinem Stoff zu kommen. «Der Süchtige» sei außerstande, das Suchtmittel selbst zu dosieren.


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Die Gerichte sehen das anders: In einem Prozess wegen «fahrlässiger Tötung» gegen Gorm Grimm – einer seiner Patienten war an Tabletten gestorben, die ihm der Arzt verschrieben hatte stellte das Gericht fest: Eine «Beeinträchtigung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit» sei «bei einem Süchtigen nicht generell gegeben». Merkmal der Sucht sei zwar ein Kontrollverlust, diese «suchtbedingte Einengung der Willensfreiheit» reiche jedoch nicht generell so weit, dass ein Süchtiger «nicht oder nur erheblich eingeschränkt in der Lage ist, das Risiko einer Überdosis zu verstehen, zu erkennen und diesem Risiko Widerstand entgegenzusetzen». Gorm Grimm habe den Patienten über die tödlichen Risiken eines Medikamentenmissbrauchs aufgeklärt. Außerdem, so folgerte das Gericht, werde ja auch die «strafrechtliche Verantwortlichkeit Süchtiger bei Beschaffungsdelikten in der Regel ohne Einschränkung bejaht».

Da die Justiz immer noch davon ausgeht, dass Drogenabhängige zu bestrafen seien, also den freien Willen zu kriminellen Delikten voraussetzt und nicht etwa verminderte Zurechnungsfähigkeit — wie häufig bei Alkoholikern -, kann man schwerlich argumentieren, dass ein Süchtiger nicht weiß, was er tut. Gorm Grimm wurde freigesprochen. Schließlich ist bisher auch niemand auf die Idee gekommen, einen Arzt zu verklagen, der seinem Patienten Barbiturate verschrieben hat, mit denen man sich ebensogut umbringen kann.

Natürlich hat die Methode des Doktor Grimm, seinen langjährigen Patienten zu vertrauen und ihnen die Mengen zu verschreiben, die sie vorgeben zu brauchen, einen Nebeneffekt: In Hamburg und Schleswig-Holstein gibt es einen ausgedehnten Schwarzmarkt für Codein. Nur hinter vorgehaltener Hand munkeln die Junkies, dieses Codein stamme aus der Praxis des Kieler Arztes. Es geht sogar das Gerücht, dass ehemalige Heroinabhängige, die mittlerweile mit Polamidon substituiert würden, sich weiterhin ihr Codein in Kiel abholten und das dann an Junkies verkauften, die sonst keine Möglichkeit hätten, sich zu substituieren. Zu beweisen ist das nicht.

Es ist kaum anzunehmen, dass sich Gorm Grimm über dieses Problem nicht seine Gedanken gemacht hat. Er kann den Überblick darüber behalten, ob seine Patienten plötzlich nach mehr verlangen. Diesen Wunsch wird er ablehnen. Er kann jedoch nicht kontrollieren, ob sich einer der Drogenabhängigen herunterdosiert und das überschüssige Codein an andere Bedürftige abgibt. Aber was wäre dagegen einzuwenden? Jeder Abstinenz-Theoretiker müsste doch erfreut sein, wenn ein Süchtiger plötzlich weniger Suchtmittel konsumiert. Und wenn Fixer, die nicht ärztlich betreut werden, Codein statt Heroin bevorzugen, was das Risiko einer letalen Dosis verringert, ist das ebensowenig zu verurteilen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof urteilt zum Problem des Schwarzmarktes: «Gesundheitliche Schäden durch Einverleibung von
Betäubungsmitteln, die sich Patienten auf dem schwarzen Markt besorgen, sind dem behandelnden Arzt ebensowenig anzulasten wie den Personen, die Langzeittherapien durchführen. Derartige Schädigungen sind nicht vermeidbar.» (6)


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Aber sollte ein Arzt nicht darauf dringen, dass ein drogensüchtiger Patient möglichst bald versucht, sich aus seiner Abhängigkeit zu befreien? «Niemand sollte den Vormund spielen», antwortet Gorm Grimm. Man müsse realistisch denken. Immerhin lebe ein Drittel seiner Patienten nach sieben Jahren SubstitutionsTherapie völlig opiatfrei. Und auch den meisten anderen habe kontrollierte Abhängigkeit ein besseres Leben ermöglicht. «Besser ist es», sagt der «Drogenarzt», «sie holen sich regelmäßig ihren Suchtstoff bei mir ab, als wenn sie als Junkie verelenden.»

Vielleicht brauchen manche Menschen aus unterschiedlichen Gründen künstlich erzeugte Lustgefühle, um ihr Leben meistern zu können. Sie nehmen dafür die Abhängigkeit und Nebenwirkungen in Kauf. Was allein zählen sollte, ist der gesellschaftliche Schaden, den sie anrichten. Und der ist bei den Opiat-Abhängigen, die sich in die Behandlung des Kieler Arztes begeben, ohne Bedeutung. Der Zwang im Gefolge ihrer Abhängigkeit, jeden Tag Drogen zu konsumieren, ist vergleichbar mit dem von Zuckerkranken, die darauf angewiesen sind, jeden Tag Insulin spritzen zu müssen. Mehr Unheil richten ganz andere Dinge an. «Alles, was Euphorie auslösen kann, ist eine Droge», sagt Gorm Grimm. «Die Nebenwirkung extremer Formen der christlichen Religion ist Paranoia.»
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(1) G. Grimm (1992), S. 196
(2) W. Keup (1983), S. 26
(3) G. Grimm (1992), S. 198
(4) G. Grimm (1992), S. 349
(5) Der Arzt Dr. Johannes Kapuste wurde ein Jahr in Untersuchungshaft gehalten, zwangsweise einer psychiatrischen Behandlung zugeführt, für unzurechnungsfähig erklärt und mit einem Berufsverbot für die Behandlung Drogensüchtiger belegt.
(6) zit. nach G. Grimm (1992), S. 238