Zwei Sippen

parzival
Scrollen, scrollen und immer an die Wissenschaft denken!

Irgendwann vor langer, langer Zeit, als Studenten noch wissbegierig waren und lernen wollten, und zwar möglichst viel und alles, sagten sich zwei marxistisch denkende Altgermanistik-Dozenten, von denen beide, die mich damals für das Thema begeisterten, schon gestorben sind (einer von ihnen taucht im weltweiten Internet überhaupt nicht auf), man müsse da etwas anbieten, jenseits des normalen Angebots an Seminaren, weil das die besagten Studenten unterfordere, was in der Tat der Fall war. Und es begab sich, dass ein Oberseminar veranstaltet wurde für diese beiden Dozenten und ein halbes Dutzend Studenten (darunter nur eine Frau, aber eine ausnehmend attraktive, von der ich noch ein winziges Andenken irgendwo habe, was sie mir zugesteckt hatte – wir saßen in den Veranstaltungen nebeneinander).

Das Thema war gesetzt: Wir waren die Elite, besuchten notfalls auch Seminare von 20 bis 22 Uhr (in so einem – freiwilligen! – Seminar lernte ich Ludwig Feuerbach kennen und lieben), und hochmotiviert im Superlativ. Also musste es das schwierigste und anspruchsvollste altgermanistische Thema sein, das es gibt – den Parzival von Wolfram von Eschenbach, dergestalt, dass wir das Epos, welchselbiges die bürgerliche Literaturwissenschaft rein überhaupt nicht in den Griff bekommen hatte, marxistisch analysieren wollten, was wir schon bei anderen Werken – wie dem Herzog Ernst, dem Rolandslied und vor allem dem Helmbrecht – unseres Wissen nach erfolgreich getan hatten, mit enormem Erkenntnisgewinn, und was uns in der Meinung bestärkte, die bisherige Forschung sei in Gänze dem Inhalt nicht gerecht geworden, sondern – wir vermaßen uns das zu behaupten! – irre vollständig und sei komplett auf dem Holzweg.

Die Notiz – teilweise mit einer Schreibmaschine geschrieben! – ist mir von diesem Seminar geblieben: Wir mussten die tribalistischen Verwandtschaftsbeziehungen auseinanderdröseln, um einen Überblick zu bekommen, wer warum auftauchte und in welcher Funktion. Man muss sich vergegenwärtigen, dass Wolfram das alles im Kopf hatte und das Epos natürlich mündlich vorgetragen wurde.

Das würde alles zu weit führen. Mittelhochdeutsche Literatur darf man nicht wie heutige Romane rezipieren. Feudalismus, wie die Stammleser schon wissen, unterscheidet sich fundamental vom Kapitalismus, eine orale und magische Gesellschaft, die sich komplett anders konstituiert und auch darstellt. Die Handlung ist weitaus weniger wichtig als in moderner Literatur. Sie ist eher mit der „Handlung“ einer katholischen Messe vergleichbar, die man nicht verstehen würde, wenn man nur fragte, warum der Kerl wo und wie schnell am Altar herumlaufe.

Aber wir geraten ins Plaudern. Das Stammpublikum weiß, wie das alles endete.

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Kommentare

3 Kommentare zu “Zwei Sippen”

  1. ... der Trittbrettschreiber am Mai 13th, 2023 5:03 pm

    … würde sich auch gut als Flaschenetikett eignen – als Siegfriedstrunk, eigens für das Dschungelcamp* gebraut…hx.

    *

    Life-epos in der ausgehenden Moderne.

    https://www.youtube.com/watch?v=0nYDnTTJgFI

  2. Cpt. Arrowhead am Mai 14th, 2023 11:46 am

    Lassen sie mich raten… im Parzival ging es mal wieder um was Weinerliches, faschistoides, von Selbstmitleid zerfressene Heuchler, die in eine Gesellschaft leben, in der das Individuum nichts zählt, sondern nur das „Adelsgeschlecht“

    Altgermanistik kannste mit 1000 jahre Inzest ad acta legen

    yada yada interssiert keine sau

    https://www.youtube.com/watch?v=1a4OvI5P1KM

  3. nh am Mai 14th, 2023 5:48 pm

    Mit solcherley tumben Eruierungen verderbe man sich seynen Ruhf als des Standes der Gelehrten angehöriger.
    Derley pseudogeistiges Elaborat, ja herbey illusioniertes Geschwafel gleicht der Geystesgewissenschaft : Vermuten und Deuten, wobey die Deutung und die Vermutung einem Knochenwurf der Schamanen gleycht.
    Eine zerfaserte, von angebeteten Idolen geprägte Sekte maßt sich an, die Wahrheit über allem entdeckt zu haben.
    Sodass diese „Erkenntniss“ dem Volke per Dekret oktroyiert werde.
    Und für derley Beschwernisse ein Aderlass üppigsterweise zu leysten sey.

    – Emilia Fester , Bundestagsdebatte. –

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