Hyperventilierende Katharsis

bücherverbrennung

Es regnete in Strömen, doch Carl Schmitt spürte weder die Tropfen in seinem Gesicht noch die kleinen Rinnsale im Nacken, während er wie gebannt in die Flammen starrte, die vor ihm in den Himmel aufschlugen. Der Abend hatte mit der Antrittsvorlesung eines neu berufenen Professors für Philosophie und politische Pädagogik begonnen, in deren Anschluss ein Fackelzug, eskortiert von berittener Polizei, von der Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden zum Opernplatz marschiert war, den nun eine vieltausendköpfige Menschenmenge füllte: ein überwältigendes nächtliches Schauspiel, dargeboten von Professoren in ihren Talaren, NS-Studenten mit Hakenkreuzarmbinden und Korporierte im Verbindungswichs sowie Heerscharen von SA und SS und Hitlerjugend, die sich alle gemeinsam um einen riesigen, funkenspeienden Scheiterhaufen drängten, der eines Savonarola würdig gewesen wäre.

Ein Vertreter der Studentenschaft trat ans Feuer, hob ein Buch in die Höhe und rief: „Gegen Klassenkampf und Materialismus! Für Volksgemeinschaft und idealistische Lebenshaltung. Ich übergebe der Flamme die Schriften von Karl Marx!“

Unter tosendem Beifall warf er das Werk ins Feuer. Hunderte Studenten und Uniformierte machten es ihm nach. Bündelweise wurden Bücher von Lastwagen gehoben und in Menschenketten weitergereicht, von Leiterwagen und Handkarren flogen sie in die Flammen, die gierig an den Einbänden leckten.

Der Deutsche an sich mag das Feuer im Wald in der Dunkelheit. Man muss als Anthropologe fragen: Was soll das? Und was soll dabei herauskommen bei dem Verbrennen? Schon klar: Man befreit sich symbolisch von dem, was die Führer als das Böse definiert haben, und die Mitläufer fühlen sich hinterher besser. Das Primäre an der Struktur dieser Gruppendynamik ist nicht das Verbrennen, sondern der Ausschluss des Bösen. Lichterketten sind auch nur eine andere Version des Fackelzuges, der wiederum ist eine Teilmenge des Scheiterhaufens.

Man kann physisch vernichten wie bei den Hexenverbrennungen, man kann Symbole für das Unerwünschte verbrennen (es geht nicht um die Bücher, sondern um die Ideen, die sie verbreiten), man kann abstrakt ausschließen, indem das Unerwünschte ignoriert und verfemt wird. Die Zeugen Jehovas haben dieses gruppendynamische Prinzip vervollkommnet: Die höchste Strafe für Sünden wider die Regeln der Gruppe ist der „Gemeinschaftsentzug“. Da Böse ist nicht weg, sondern wird allen sinnfällig vorgeführt, ist aber nicht mehr gefährlich, weil es das Maul halten muss bzw. alle weghören.

Ich schrieb schon vor einiger Zeit: „Der kategorische Imperativ in der protestantisch geprägten Alltagskultur lautet: Habe die richtigen Gefühle, dann wird alles gut.“ Die richtigen Gefühlslagen müssen immer wieder hergestellt werden, besonders in Zeiten der Krise. Warum sind die Führer der jeweiligen kleinen und großen Massen so verunsichert, dass sie das Böse nicht einfach ignorieren können? Warum braucht man noch zusätzlich Rituale?

katharsis
José Clemente Orozco: „Katharsis“ (Ausschnitt), 1934

„Gegen Frechheit und Anmaßung! Für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!“

Wegen des Regens hatte das Feuer erst nicht brennen wollen, Feuerwehrleute hatten Benzinkanister auf den durchnässten Scheiterhaufen leeren müssen, um es zu entfachen. Doch jetzt loderten die Flammen haushoch in den Nachthimmel hinauf.

„Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkriegs, für Erziehung des Volkes im Geist der Wehrhaftigkeit! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Erich Maria Remarque.“

Wie alle hier versammelten Professoren trug auch Carl seinen Talar, um als Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Bücherverbrennung beizuwohnen, die an diesem Abend nicht nur in der Reichshauptstadt, sondern in allen deutschen Universitätsstädten veranstaltet wurde und von langer Hand vorbereitet worden war. Schon im April hatten der Völkische Beobachter „12 Thesen“ abgedruckt, an denen auch Carl mitgewirkt hatte, um die zersetzende Kraft des jüdisch vergifteten Liberalismus anzuprangern. Seitdem waren alle Bibliotheken des Reichs systematisch nach verbrennungswürdigen Schriften durchsucht worden, um sie auf den Scheiterhaufen zu werfen und nun dieses Purgatorium zur Austilgung des undeutschen Geistes mit der gesamten Volksgemeinschaft zu zelebrieren.

Purgatorium des putinschen Geistes Man muss sich fragen, was in den Köpfen derjenigen vorgeht, die fordern, jemand solle aus der Volksgemeinschaft aufgestoßen werden. Heute formuliert man das nur anders, wie Stephan-Andreas Casdorff, der Herausgeber der Berliner Zeitung „Tagesspiegel“: „Der ehemalige Kanzler Gerhard Schröder schadet sich, dem Staat und seiner Partei. Ihn zu ächten, liegt jetzt nahe.“

Das ist ekelhaft. Ächten? Also symbolisch verbrennen? Exorzieren? Was für eine verkommene Mischpoke. Kontaktverbot zu allen Russen? Kai Dieckmann im vermutlich „autorisierten“ Interview: „Ich schreibe von der hyperventilierenden Gesellschaft. In der Art und Weise, wie Schröder jetzt niedergemacht wir, ist jedes Maß verloren gegangen. Selbst Schröders Friseur wollte ihm nicht mehr die Haare schneiden.“

Die Menschheit lernt nie und nichts dazu.

„Gegen Dekadenz und moralischen Zerfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann und Erich Kästner!“

Eine Trommel wurde gerührt. Carl lief ein Schauer über den Rücken. Obwohl Bücher ihm heilig waren, auch Bücher geistiger Widersacher, faszinierte ihn der Gedanke, für eine Idee, die größer als alle anderen Ideen war, sogar den Geist selbst zu vernichten. Was für ein kühner, großartiger Frevel! Der Anblick des Flammenopfers, die laut in die Nacht verkündeten Feuersprüche, der glühende Fanatismus der Studenten – all das erfüllte ihn mit einer Erregung, die nach Entladung drängte.

Ein letztes Mal trat der Vertreter der Studentenschaft ans Feuer.
„Gegen die seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens! Für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud!“
[Aus: Peter Prange, Eine Familie in Deutschland, Bd. 1, Kapitel 49]

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Surreal Urban Space, Till Nowak