Das Kreuz mit der Sucht II

Wider die Verwilderung der Sitten

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

«Sucht» kommt nicht von «suchen», sondern von «siech», was noch in der frühen Neuzeit synonym für alle möglichen Krankheiten gebraucht wurde. Die Trunksucht, gegen die schon Martin Luther wetterte, galt als Laster, war somit eine freiwillige Entscheidung.

sebastian franck

In den Moralpredigten gegen das «greüwliche laster der trunckenhayt», wie es im 16. Jahrhundert der Theologe und Drogenexperte Sebastian Franck nennt, ist die Nähe zur «Sünde» oder zur verwerflichen Leidenschaft zu spüren. Luther predigt gegen die Sitten des «satanischen Zeitalters», in dem selbst Kinder «destillierte und gebrannte Weine» zu sich nähmen. Es erscheinen Schriften mit Titeln wie «Wider den Saufftheuffel» (1552) oder, von einem Johann W. Petersen (1782): «Geschichte der deutschen Nationalneigung zum Trunke», in der der Autor missbilligend feststellt, schon die alten Germanen hätten sich – vom Rausch eingeschläfert – allzuoft überfallen und besiegen lassen. (1)

Erst im 19. Jahrhundert beginnen einige Ärzte, von der Trunksucht als «krankhaftem Zustand» zu sprechen, der nicht durch bloße moralische Ermahnungen zu heilen sei. Diese Vorstellung von «Krankheit» steht am Ende eines mehrere Jahrhunderte dauernden «Prozesses der Zivilisation», den der Soziologe Norbert Elias beschrieben hat: Der Mensch im beginnenden bürgerlichen Zeitalter nimmt sein Leben selbst in die Hand, er wird nicht, wie noch im Mittelalter, vom Schicksal heimgesucht, das er nicht beeinflussen kann. «Sucht», verstanden als Krankheit, beruht damit auf eigener Verantwortung, oder – diese Idee entwickelt sich parallel – es liegt an den Substanzen: Drogen an sich machen süchtig.

Johann W. Petersen

Im neuzeitlichen Mitteleuropa ist der Konsum von Drogen nicht, wie im Orient, in das soziale Leben integriert, er wird vom herrschenden Tugendkanon als abschreckendes Beispiel definiert, wie man es nicht machen soll. Selbstkontrolle und -disziplin gelten als unabdingbar für die Stabilität der sozialen Ordnung. Wer sich gehenlässt und dem Rausch frönt, kann seine Arbeitskraft nicht mehr eigenverantwortlich auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. Der französische Philosoph Michel Foucault hat die These aufgestellt, die Irrenanstalten – Vorläufer der heutigen psychiatrischen und Nervenkliniken -, die es erst in der modernen Gesellschaft gibt, hätten zur Wiederherstellung der «kollektiven Selbstdisziplin» gedient. Die Gesellschaft erklärt einige Verhaltensweisen für «normal» und «nützlich», andere für verwerflich und krank. Vor diesen muss man sich schützen, indem man die Betreffenden, die sich uneinsichtig verweigern, wegsperrt.

Diese Ideen waren doppelt sinnvoll: Zum einen entlasteten sie die «Süchtigen». Die Alkohol- und später die Morphin-Konsumenten konnten ihr von der etablierten Norm abweichendes Verhalten als «Zwang» erklären, der irgendwo in ihrem Inneren hauste und den sie nicht ohne fremde Hilfe zu bekämpfen in der Lage waren. Der Ausschluss aus der Gesellschaft als «Süchtiger» bedeutete gleichzeitig die Wiedereingliederung «als Kranker», um den man sich zu kümmern und den man zu rehabilitieren hatte.

Zum anderen war die Idee einer «Sucht» eine Erklärung für diejenigen Schichten der Bevölkerung, die ihr abweichendes und unerwünschtes Begehren ständig in Schach halten mußten: Wenn man die soziale Sicherung nicht schaffte, lag das an «dunklen Trieben», die man noch nicht unter Kontrolle gebracht hatte, am «krankhaften» Verlangen, das soziale Elend mit Drogen zu betäuben.

William Hogarth
William Hogarth: Beer Street (1751)

Philanthropen und bürgerliche Abstinenzapostel erklären Kriminalität und Verelendung als Folge der moralischen Zerrüttung durch den Rauschgiftkonsum und die «Sucht». Nicht der kontrollierte Umgang wird gefordert, sondern der Verzicht. Gerade in Deutschland und in den puritanisch geprägten USA fällt diese Idee auf fruchtbaren Boden. Da das Leben ohnehin ein Jammertal ist, wäre der Rausch, der zumindest zeitweilig «Abhilfe» schafft, geradezu eine Verhöhnung der sittlichen Grundlagen. Jegliche Erinnerung an mögliche mentale Erfahrungen, die den mühsam erarbeiteten eigenen Verhaltenskodex in Frage stellen, soll getilgt werden. Nicht zufällig wettern heute ehemalige Theologen, die durch politische Wirrungen in verantwortliche Posten in der Drogenpolitik katapultiert wurden, gegen den «Hedonismus», der drohe, wenn man im Krieg gegen die Drogen nur ein wenig nachlasse.

Diese Vorstellung von Sucht hat fatale Folgen. Ihre Definition beruht letztlich auf ethischen und moralischen Leitsätzen, die in einer bestimmten Gesellschaft — und nur in einer — relativ sinnvoll sind. Niemand weiß, warum Wasserbüffel manchmal Mohnkapseln schlucken und danach orientierungslos herumtorkeln, warum Elefanten alkoholisch vergorene Früchte verzehren und regelrecht «ausflippen», warum Katzen wild auf Katzenminze sind, Schafe sich vorsätzlich mit Narrenkraut bedröhnen oder Rhesusaffen, wenn sie die Auswahl haben, Kokain bevorzugen und Heroin verschmähen.

William Hogarth
William Hogarth: Gin Lane (1751)

Die Sucht, der exzessive Konsum von Rauschdrogen, soll beim Menschen jedoch eine Krankheit sein. Man verweigert ihm die Droge, und ist das nicht konsequent möglich, wird er selbst so isoliert, dass er nicht an sie herankommt. Nicht der mögliche Schaden für das Individuum ist relevant, sondern der «Schaden» für die Gesellschaft. Der besteht darin, daß die zwar nie reale, aber dafür um so mehr befürchtete massenhafte Verweigerung der «nützlichen» Tätigkeiten, eben der Arbeit, das System als solches in Frage stellen könnte. Das ist aber ein politisches, kein medizinisches Problem.

«Sucht» als Phänomen, das sowohl repressive staatliche Maßnahmen nach sich ziehen muss als auch nach therapeutischem Bemühen verlangt, taucht erst dann auf, wenn sich die Süchtigen als soziale Randgruppe und/oder als subversive Subkultur im Bild der Öffentlichkeit etabliert haben. Das hat mit der Realität wenig zu tun, sondern dient den jeweiligen Interessen, das Verhältnis des Bürgers zum Staat zu definieren. Die Vorstellung von «Sucht» als Krankheit ist untrennbar verbunden mit der Unterdrückung von unerwünschtem Verhalten und von Minderheiten.

Jacob Riis
Jacob Riis: Street children in „sleeping quarters“ (1890). From the Library of Congress.

Noch im 19. Jahrhundert galten die Morphin-Süchtigen im Gegensatz zu Alkoholikern nicht als gesellschaftliche Problemfälle. Ihre «Motivation», von Opiaten nicht lassen zu können, war ehrenhaft. Sebastian Scheerer fasst den Konsens der damals herrschenden Moralvorstellung über Morphinsucht so zusammen: «Respektabel war die Suchtursache, weil am Beginn der Abhängigkeit zumeist nicht die hedonistische Motivation des späteren Süchtigen, sondern die therapeutische Notwendigkeit bei Operationen von Kriegsverletzungen stand. Konform mit den Normen und Werten der Gesellschaft war der Süchtige im Gegensatz zu seinen ‘Nachfolgern’ in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts, weil sein Konsumverhalten weder Protest gegen anerkannte Werte oder Normen noch den Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben symbolisierte. Weder war das Suchtverhalten in diesem Sinne als Innovation, Revolte oder Rückzug von den Konsumenten gemeint, noch wurden ihm diese Bedeutungen im Sozialprozess zugeschrieben. Der durch ärztliche Behandlung erzeugte (iatrogene) Morphiumhunger wurde nicht als feindseliger Angriff auf die normative Verfassung der Gesellschaft, sondern als bemitleidenswerte Krankheit definiert.» Der Konsument «enttäuscht» zwar die Verhaltenserwartungen seiner Umwelt, «indem er entgegen der Konvention zu Substanzen griff, die eine besondere Wirkung auf das Zentralnervensystem und damit den geistig-seelischen Zustand des Menschen haben. Trotz dieser Verletzung informeller Normen stellte er jedoch deren generelle Gültigkeit nicht in Frage.»

morphin addicts
Albert Besnard: Morphine Addicts (Morphinomanes), 1887

Dieser akzeptierende Umgang mit der Opiatsucht beginnt sich erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu ändern. Das erste deutsche Opiumgesetz vom 30.12.1920 [gemeint ist das Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens vom 23. Januar 1912 vom 30. Dezember 1920 (RGBl. 1921 S. 2)] verbietet Rauchopium, stellt aber den nichtmedizinischen Gebrauch unter nur milde Strafandrohung. Über Heroin sagt es gar nichts.

Das hatte seine Gründe: Schon 1909 in Schanghai und 1912 in Den Haag hatten internationale Konferenzen – auf Drängen der USA – stattgefunden. Das Thema war vor allem der schwungvolle englische Opiumhandel mit China, der eine hundertjährige Tradition und sogar zu zwei Kriegen geführt hatte. Vor allem die US-amerikanische Regierung versuchte die Rauchopium-Exporte der Engländer zu verhindern. Diese jedoch hatten in Den Haag geschickt den Schwarzen Peter den deutschen Firmen zugeschoben – den größten industriellen Drogenproduzenten der Welt und Marktführern für Morphin, Heroin, Kokain und Codein. Wenn der englische Opiumhandel strengen Kontrollen unterworfen werden sollte, dann auch der der Deutschen. Die aber weigerten sich, irgendwelche Verpflichtungen zu unterschreiben. Dazu wurden sie erst nach dem Ersten Weltkrieg gezwungen. Die Siegermächte fügten einen Passus in den Versailler Vertrag ein, der an die fehlende Unterschrift unter die Opiumkonvention von Den Haag erinnerte.

opiumabkommen 1925
Gesetz über das internationale Opiumabkommen vom 19. Februar 1925 (Deutschland, 1929)

1929 wird das deutsche Opiumgesetz geändert. Es verbietet jetzt Rauchopium, Haschisch und Marihuana, aber immer noch nicht Heroin. Die Verbote fruchten jedoch nicht. Wenn die Süchtigen keinen Arzt finden, der ihnen Opium-Präparate verordnet, weichen sie auf Ersatzstoffe aus – wie heute auf Benzodiazepine oder Codein. Selbst die schärferen Gesetze der folgenden Jahre helfen wenig. Die Propaganda der Rauschmittel-Gegner wendet sich daher weniger gegen die Drogen selbst, sondern gegen die Unfähigkeit des Staates, seinen Gesetzen Geltung zu verschaffen. Die Süchtigen findet man angeblich in der Halb- und Unterwelt, unter so windigen Gestalten wie «Kellnern, Garderobenangestellten, Kaffeehausmusikern, Chauffeuren, der weiblichen wie der männlichen Prostitution».

Man fordert das ausnahmslose Verbot aller Substanzen, «die eine Euphorie zu erzeugen vermögen», um «die Überflutung unseres Volkes mit Opiaten und Kokainpräparaten zu verhindern». «Ahnungslose Mädchen», schreiben die Zeitungen, werden «nach Verabfolgung von Betäubungsmitteln durch Mädchenhändler den Freudenhäusern zugebracht.» Die Süchtigen werden in den Medien als schützenswerte Gruppe dargestellt, die gleichzeitig als potentielle Klientel des staatlichen Zugriffs erscheint. Scheerer: «Das Bestreben, die Konsumenten in ihrem wohlverstandenen eigenen Interesse einzugrenzen und sozial sichtbar zu machen, erforderte von der Mitte der zwanziger Jahre an eine bis heute andauernde Ausdehnung des sachlichen und personalen Geltungsbereichs der Betäubungsmittelgesetze, die natürlich immer weitere Verdrängungseffekte hervorbrachte und damit die jeweils neue Ausdehnung rechtfertigte…»“

Die Produzenten, die Alkaloid-Industrie, bleiben von den repressiven Maßnahmen verschont. Ganz im Gegenteil: die Branche erlebt einen ungeahnten Aufschwung. Nicht nur der Export boomt. Im Wettlauf mit der ersten deutschen «Drogenszene» der zwanziger Jahre, die auf immer neue Ersatzstoffe ausweicht, bringt sie eine Unzahl von pharmazeutischen Präparaten auf den Markt, die in der Mehrheit genauso wie Opiate abhängig machen.

alkoholismus
Mitteilungsblatt Ausstellung zur Bekämpfung des Alkoholismus, aus Bestand: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland Boppard

Die Propaganda der Abstinenzbewegung und die gleichzeitige Verschärfung der polizeilichen Repression gehen nahtlos in die Zeit des Nationalsozialismus über. Nur die Zielrichtung ändert sich. Die Anti-Drogen-Kampagnen werden in den Dienst der «Rassenhygiene» gestellt. Schon im ersten Jahr der Nazi-Herrschaft regeln das «Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses» und das «Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung» eine genaue Erfassung und Kontrolle der Süchtigen.

Die Abstinenzlerverbände verpflichten sich, die «erblich schwer Belasteten» zwecks Sterilisation an die staatlichen Organe zu melden. Publikationen der «Evangelischen Reichsarbeitsgemeinschaft zur Bekämpfung der Alkoholnot» fordern in vorauseilendem Gehorsam, «das Überwuchern der Erbkranken und Unterwertigen durch Ausschaltung ihres Nachwuchses möglichst einzudämmen».

genußgifte leistung rasse
Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren Berlin-Dahlem. Von Prof.Dr. H. Reiter / Berlin (Präsident des Reichsgesundheitsamtes) und Dr. Günther Hecht (Rassenpolitisches Amt der NSDAP, Reichsleitung Berlin) (1940)

Zuständig für die Bekämpfung der Opiate ist die «Reichsstelle gegen die Alkohol- und Tabakgefahren» in Berlin-Dahlem unter Führung des «Reichsgesundheitsführers» Conti. Der Dachverband «Reichsarbeitsgemeinschaft für Rauschgiftbekämpfung» (3) fordert die Selektion der «erbbiologisch Minderwertigen». Genussgifte, so Prof. Dr. H. Reiter, Präsident des Reichsgesundheitsamtes, verminderten die Leistung und schadeten der Rasse. Das «Rassenpolitische Amt der NSDAP» macht die Juden für den Handel mit Drogen, vor allem mit Tabak und Alkohol, verantwortlich.

Der SS- und Polizeichef Heinrich Himmler schreibt am 5.12.1937: «Kein Deutscher hat daher das Recht, die Kraft seines Körpers und Geistes durch Alkoholmißbrauch zu schwächen. Er schädigt damit nicht nur sich, sondern seine Familie und vor allem sein Volk.» Nicht die pharmazeutische Industrie, sondern die «ausländischen» Drogendealer verkörpern das Böse schlechthin, sie sind die Verführer. Die Juden sind schuld, nicht nur am Handel mit Opiaten, sondern mit Drogen überhaupt: dank ihrer «besonderen Begabung des raffinierten Beobachtenkönnens», wodurch «der Jude seine Alkoholpropaganda sehr geschickt dem deutschen Grundcharakter anzupassen» versteht. (4)

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(1) Vgl. M. Kreutel (1987), S. 53 ff
(2) S. Scheerer (1982), S. 51, ebd., S. 55
(3) Diesem Dachverband schlössen sich die meisten kirchlichen, überwiegend protestantischen Verbände an, die den Kampf gegen Drogen auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Ein Ideologe der Abstinenz-Bewegung, Dr. Theo Gläß, der sich in der Nazi-Zeit um die «Rassen-Hygiene» kümmert, wird nach dem Krieg Präsident der «Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren» (DHSTilman Holzer: Die Geburt der Drogenpolitik aus dem Geist der Rassenhygiene – Deutsche Drogenpolitik von 1933 bis 1972, 2007]
(4) Zit. nach einer Schrift des «Rassenpolitischen Amtes der NSDAP»

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Kleinbourgeoisie, über Wasser

elorza

Hier noch ein Bild von der venezolanischen Kleinbourgeoisie (1998). Der Besitzer des winzigen Ladens in Elorza, den ich hier schon einmal erwähnt hatte, war gebürtiger Italiener. Es ist mir bis heute schleierhaft, wie die sich finanziell über Wasser halten konnten.

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Unter Schtieseln

konfirmation NAK
Meine Konfirmation 1966 oder 1977. Ein grandioses Foto, das meine Kindheit anschaulich zusammenfasst. Alle außer mir sind schon tot. Von links nach rechts: Meine Tante Leni (Hausfrau, neuapostolisch und Ehefrau eines Priesters/Laienpredigers der NAK), mein Vater Kurt (Bergmann, später kaufmännischer Angestellter, Priester in der NAK), meine Oma Caroline Baumgart (Hausfrau, neuapostolisch), neben mir mein Opa Hugo Schröder (Bergmann, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK), vorn rechts mein Opa Peter Baumgart (Bergmann, Priester der NAK), ganz rechts mein Onkel Otto Mey (Bahnangestellter, Hirte und Gemeindevorsteher in der NAK). Leni war die Tochter meines Onkels Otto.

Jetzt brüllen auch in Dresden die Muezzine herum. Ein Fall für Arthur Harris? Die Weltläufte geben zur Zeit nichts Überraschendes her. Daher darf ich – das Einverständnis des Publikums vorausgesetzt – einen Besinnungsaufsatz schreiben eine religionssoziologische Studie verfassen.

Vorab sollten einige anthropologischen Fragen geklärt werden.

Warum tragen alle Männer schwarze Anzüge, der Konfirmand eingeschlossen? Ein normaler Anzug, aber ganz in schwarz, ist die „Uniform“ der „Geistlichen“ in der NAK. Niemand hat eine theologische Ausbildung, und sie machen trotzdem das, was Pfaffen so tun. Und da das funktioniert, ist das für sie ein „Beweis“, dass der Heilige Geist aus ihnen spricht. Der „Straßenanzug“ soll genau das zeigen.

Luther hat allerdings die Knechtschaft aus Devotion besiegt, weil er die Knechtschaft aus Überzeugung an ihre Stelle gesetzt hat. Er hat den Glauben an die Autorität gebrochen, weil er die Autorität des Glaubens restauriert hat. Er hat die Pfaffen in Laien verwandelt, weil er die Laien in Pfaffen verwandelt hat. Er hat den Menschen von der äußeren Religiosität befreit, weil er die Religiosität zum inneren Menschen gemacht hat. Er hat den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz an die Kette gelegt. (Karl Marx) Die protestantischen Sekten ebnen die Hierarchie zwischen Glaubensvolk und Paffen konsequent ein. Jeder (Mann) kann alles sein und werden. Mein Opa Peter konnte, als er 1918 nach Deutschland kam, weder richtig lesen noch schreiben. Prediger wurde er trotzdem.

Was machen die da, und wo sind die anderen Frauen? Natürlich wurde immer und permanent und ausschließlich über die Bibel (liegt auf dem Tisch) und religiöse Themen geredet. Frauen mussten die Klappe halten und wurden dabei nur geduldet. Meine Oma Caroline widersetzte sich dem unausgesprochenen Verbot – sie gesellte sich zu den Männern, sagte aber nichts, sondern hörte nur zu. Ich durfte auch nichts beitragen, ich war noch zu jung.

„Wie in allen Gemeinden der Heiligen lasset eure Weiber schweigen in der Gemeinde; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, dass sie reden, sondern sie sollen untertan sein, wie auch das Gesetz sagt. Wollen sie aber etwas lernen, so lasset sie daheim ihre Männer fragen. Es steht den Weibern übel an, in der Gemeinde zu reden.“ (Paulus, 1. Brief an die Korinther 14, 34)

Wiederholt sich das nicht alles unendlich oft? Nein, die „theologischen Themen“ wurden mit persönlichen Geschichten angereichert. Wie sich ein ostpreußischer Bauer mit dem Teufel verschworen hatte und mein Onkel Otto, der aus Gumbinnen stammte und in seiner Jugend als Bauernknecht arbeitete, ihn überlistete, mit Gottes Hilfe. Wie meinem Vater in einem Hohlweg in Holzwickede der Geist eines Selbstmörders erschien. Wie ein „Apostel“ der NAK in Opherdicke den Geist eines Selbstmörders vertrieb, der dort in einem Haus herumspukte. Wie Onkel Otto im 1. Weltkrieg ganz allein und mit Gottes Hilfe mehr als ein Dutzend Franzosen gefangen nahm und dafür einen Orden bekam. Wie mein Opa Peter in Russland während der Revolution zu Tode verurteilt wurde und aus dem Gefängnis floh, mit Gottes Hilfe.

Wie informierte man sich über die Weltläufte? Information wird überschätzt. Fernsehen war verboten. Radio eigentlich auch – mein Opa Hugo hat das bis zum Lebensende konsequent durchgezogen. Mein Opa Peter aber hatte ein Radio, weil er aus dem damals russischen Polen stammte und Russisch verstand und hören wollte. Die „Welt“ – also known as Babylon – brauchte man nicht, und man sollte sie auch meiden. Tanzstunde oder Disko? Verboten? Kirmes oder Schützenfest? Verboten. Freundschaften mit Leuten, die nicht neuapostolisch waren? Verboten, vor allem für Kinder von „Amtsträgern“ – wie mich. Bücher? Sind gefährlich. Mein Opa Hugo riet meinen Eltern, mich nicht auf ein Gymnasium zu schicken. Kino? Verboten. Meine Mutter erzählte mir noch gestern, wie sich sich als junges Mädchen in Hamm heimlich einen Kinofilm ansah und dabei ein fürchterlich schlechtes Gewissen und viel Angst hatte, Gott (der bei den Neuapostolischen meistens „der himmlische Vater“ genannt wird) würde sie dafür bestrafen. Die Verbote mussten gar nicht ausgesprochen werden. Man wusste einfach, was zu tun und zu lassen war.

Und jetzt zur religionssoziologischen Studie. Kann sich das Publikum vorstellen, warum mir Filme wie Shtiesel, Unorthodox oder Rough Diamonds (empfehlenswert!) „unheimlich“ bekannt vorkommen und warum mir die oft ein beklemmendes Gefühl erzeugen, das sich gleich verwandelt in das Bedürfnis, in diese Milieus hineinzufahren wie der Teufel unter die armen Seelen und alles auszuräuchern?

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Das Kreuz mit der Sucht I

Drogen und Sucht

– aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Die Fragen, was Sucht sei, woher sie kommt und wie sie zu bewerten sei, führt auf ein schwieriges, kaum überschaubares Gelände. Der biblische Pontius Pilatus wusste angesichts eines ähnlich vertrackten Problems nur zu entgegnen: «Was ist Wahrheit?» Da niemand sich anmaßen konnte, eine angemessene Antwort zu geben, tat der römische Statthalter etwas, das entfernt an die Praxis der heutigen Suchtexperten und Drogenberater erinnert: Er wusch seine Hände in Unschuld. Niemand weiß Bescheid, deshalb können wir alle fortfahren wie bisher.

drugs
Alle Bilder erzeugt von Playground AI

Von den zwei Dutzend international erscheinenden Fachzeitschriften zum Thema «Abhängigkeit» kommt nicht eine einzige in Deutschland heraus. «Ein Armutszeugnis», urteilt Michael de Ridder, ein Biologe und Arzt, «das dokumentiert, in welchem Ausmaß die Medizin in Deutschland das Feld der Prävention und Behandlung der Drogenabhängigkeit ordnungspolitischen Scheinlösungsversuchen überlassen hat.» (1)

Oder sind die Experten in Deutschland bescheidener als ihre internationalen Kollegen und Kolleginnen? Haben sie erkannt, dass die Frage nicht zu beantworten, vielleicht sogar falsch gestellt ist? De Ridder behauptet nämlich, dass es trotz zahlreicher Untersuchungen bisher nicht gelungen sei, «spezifische Persönlichkeitsmerkmale oder Umgebungseinflüsse ausfindig zu machen, die zum Opiatgebrauch prädestinieren. Die Frage, was einen Menschen zum Heroingebrauch treibt, ist letztlich ebenso unbeantwortbar wie die Frage, warum jemand beginnt, Alkohol zu trinken oder auf Berge zu steigen.»

Nein, der schwankende Boden, auf dem alle Theorien über Sucht stehen, führt bei den «Experten» nicht zur inneren Einkehr oder zur demütigen Selbstbescheidung. Ganz im Gegenteil. Selbst manche Drogenberater, die von Opiat-Antagonisten, vom «maturing out», vom «Britischen Modell» der Heroin-Vergabe noch nie etwas gehört haben, antworten auf die Frage, warum jemand heroinabhängig werde, lässig mit «erstens, zweitens, drittens». (2)

Ingo Warnke, der Synanon-Chefideologe, maßt sich sogar an, in der Synanon-Zeitschrift «Suchtreport», die sich im Untertitel, nicht ganz angemessen, «Europäische Fachzeitschrift für Suchtprobleme» nennt, für alle zu sprechen: «Wir Süchtigen». «Die Süchtigen» hätten offenbar nicht «mehr das Zeug», ohne Sozialhelfer zurechtzukommen. Sie forderten immer nur von der Gesellschaft «wie die Kinder vom Weihnachtsmann», wollten aber ihr eigenes Sein nicht verantworten. (3) Wenn man aber noch nicht einmal weiß, was Sucht ist, wie kann man sich dann starke Worte über «die Süchtigen» erlauben?

Im alltäglichen Sprachgebrauch steht «Sucht» häufig für einen unwiderstehlichen Zwang, etwas nicht lassen zu können. Woher der kommt, braucht nicht benannt zu werden. Man kann nach etwas süchtig sein – in dieser sprachlichen Variante steht die für ihr Verlangen verantwortliche Person im Vordergrund; man kann von etwas abhängig sein – damit wird der ursächliche Zwang der Substanz zugeordnet. Gerade bei der bekanntesten Sucht, dem Alkoholismus, kann niemand zwischen den beiden Möglichkeiten klar entscheiden.

Unstrittig ist nur eins: Es gibt Drogensucht, und mehrere Millionen Bundesbürger können ohne Tabak, Alkohol oder Tabletten nicht leben. Das viel beschworene «Drogenproblem» bezieht sich aber, jedenfalls in der Meinung der Öffentlichkeit, weniger auf Alkohol und Tabak, obwohl hier selbstverständlich von einer Suchtgefahr gesprochen wird, sondern auf die illegalen Drogen, Opiate, Kokain, «Designer-Drogen» und Halluzinogene. Haschisch jedoch, das ein Halluzinogen ist, macht nach der überwiegenden Meinung der Fachleute nicht süchtig/und, gemessen an der Zahl der Alkohol- und Tabletten-Abhängigen und der gesellschaftlichen Folgeschäden, sind die Konsumenten illegaler Drogen ein fast zu vernachlässigendes Randproblem.

drugs

Die legale Droge Alkohol fordert jedes Jahr Zehntausende von Opfern. Informationen über die Folgeschäden des Rauchens gehören mittlerweile zur Allgemeinbildung. Dennoch tauchen in den Medien mit einer schon nicht mehr zu erklärenden Hartnäckigkeit «Drogentote» auf, deren Zahl zwar ansteigt, sich aber immer noch im vierstelligen Bereich bewegt. Das Argument, mit «Drogentote» seien die gemeint, die durch illegale Drogen sterben, zieht nicht: Ein großer Teil der sogenannten «Herointoten», deren abschreckende Bilder durch die Presse geistern, ist an einer Überdosis von Barbituraten, Tranquilizern oder Alkohol gestorben – diese Drogen aber sind legal.

Der Begriff «Sucht» bezieht sich nicht nur auf Drogen. Man hat die «Spielsucht» kreiert, man spricht von Liebes- und Machtsucht, Fresssucht und Magersucht haben Eingang in medizinische Fachbücher gefunden – die Zahl der Süchte ist heute Legion. Den Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist dieser inflationäre Gebrauch des Suchtbegriffs schon vor langer Zeit unangenehm aufgefallen. 1969 versuchte die WHO, «Sucht» genauer zu definieren, indem sie das Wort ganz unter den Tisch fallen ließ. Jetzt hieß es «Abhängigkeit». Bezogen auf Drogen lautet eine der heute gängigen Definitionen: «Drogenabhängigkeit ist ein psychischer und manchmal auch physischer Zustand, der durch die Wechselwirkung eines lebenden Organismus und einer Droge entsteht. Er zeichnet sich durch Reaktionen aus, die stets den Zwang beinhalten, die Droge regelmäßig oder periodisch einzunehmen. Dabei besteht einerseits das Bedürfnis, die psychischen Wirkungen der Droge zu erfahren, andererseits der Drang, Abstinenzsymptome zu vermeiden. Toleranz kann vorliegen, muss aber nicht. Ein Individuum kann von mehr als einer Droge abhängig sein.» (4)

Der Begriff «Sucht» ist auch deshalb so beliebt, weil jeder Mensch an Alltagserfahrungen anknüpfen kann, die scheinbar für eine Erklärung des Phänomens ausreichen. Da jeder Raucher und jede Raucherin weiß, dass es nur eine Frage des Willens und der Selbstdisziplin wäre, den Tabakmissbrauch zu beenden, kann man sich schwer vorstellen, warum es Heroinabhängigen nicht gelingt, sich von ihrer «Sucht» zu befreien. Natürlich spielt auch Neid eine Rolle: Wenn angesichts des Desasters der deutschen Drogenpolitik gefordert wird, Heroin freizugeben oder an Junkies zu verteilen, kommt unweigerlich die Erwiderung, dass man dann ja auch Alkoholiker mit ihrer Droge versorgen müsse. Warum sollten Heroinabhängige privilegiert werden?

Diese oberflächliche Alltagslogik deutet auf ein viel tiefer liegendes Problem. Was der Gesellschaft gerade an der Heroinsucht so aufstößt, hat wenig mit der Droge selbst, um so mehr mit der damit zusammenhängenden Subkultur zu tun. Kompliziert formuliert: «Die strukturelle Anfälligkeit westlicher Gesellschaften für Konflikte über die moralische und rechtliche Bewertung des Drogenkonsums ergibt sich aus der delikat ausbalancierten Stellung des Drogenkonsums in einer sowohl am Leistungs- wie auch am hedonistischen Prinzip orientierten Gesellschaft.» (5)

Einfacher: Wer etwas leistet, erfreut sich in Gesellschaften, die im weitesten Sinne auf den moralischen Prinzipien der protestantischen Arbeitsethik fußen, eines hohen Ansehens – und darf sich dann auch mal was Schönes gönnen. Wer freiwillig faul ist, gilt, je nach Rigidität der Norm, als sozialer Abweichler. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, hieß es im alten Preussen. Wer dem Rausch frönt und süchtig ist, genauer: nach oder von illegalen Drogen süchtig ist, sei arbeitsunfähig und damit auch moralisch verwerflich – so jedenfalls das Klischee der öffentlichen Meinung. Man darf dem individuellen Lustprinzip huldigen, wenn man vorher etwas geleistet hat, nur dann. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

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Die Frage ist nur: Wie viele Arbeitsunwillige kann unsere Gesellschaft vertragen? Nicht ihre reale Zahl ist wichtig, sondern ihre symbolische Ausstrahlungskraft, die Faszination einer Drogen-Subkultur, die den normal arbeitenden Bürger zutiefst verunsichert. Die «Sucht», die gleichzeitig das Lustprinzip auf die Spitze treibt, ist ein Angriff auf die Moral. Sucht ist nur in der Freizeit gestattet, als Ausgleich zum Stress des Arbeitslebens, als verschämt genossenes Privatvergnügen oder im Rahmen akzeptierter Rituale wie beim Fußball oder im Vereinswesen.

Das Klischee der «Sucht» als Verweigerung der Leistung ist so in den Köpfen etabliert, dass die Realität kaum eine Chance hat: Heroinabhängige, die problemlos mit ihrer Droge versorgt würden oder werden – was wegen der Illegalisierung des Heroins kaum der Fall ist -, sind genauso arbeitswillig und -fähig wie jemand, der jeden Tag drei Schachteln Zigaretten raucht. Ihre Leistungsfähigkeit ist nicht wesentlich beeinträchtigt, noch nicht einmal, im Gegensatz zu Alkoholikern, die Fahrtüchtigkeit. (6) Sie richten also keinen Schaden an, jedenfalls nicht mehr als diejenigen, die ohne Drogen auskommen. Warum sollte also die Heroin-Sucht überhaupt behandelt oder gar therapiert werden?

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(1) M. de Ridder: Der Stoff, die Nadel und der Tod. In: «Süddeutsche Zeitung», 12.02.92
(2) Eigene Erfahrung des Autors während der Recherche, die aber nicht verallgemeinert werden kann und darf.
(3) I. Warnke: Verantwortliche Erwachsene? In: «Suchtreport» 2/92
(4) Margit Kreutel: Die Opiumsucht, 1987, S. 7
(5) S. Scheerer , S. 92
(6) Bei Tests zur Fahrtüchtigkeit von Heroinabhängigen, die das Medikament Polamidon erhielten, hat sich herausgestellt, dass die Substitution die Leistungsfähigkeit der Testpersonen nicht beeinträchtigte. Das jedenfalls teilten Verkehrsmediziner der Heidelberger Universität auf dem Jahreskongress der Rechtsmediziner im September 1992 mit.

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An der Autopista

caracas

Caracas, Venezuela, fotografiert im März 1998. Das große Gebäude mit dem geschwungenen Dach dürfte das Centro Comercial Espacio Plaza sein. Auf dem Schild über der autopista steht „Avenida Casanova“, „Avenida las Acacias“ und „Avenida Libertador“. Ich habe vermutlich auf dem Fußweg nordwestlich der Plaza Simón Bolivar / Las Acacias gestanden, östlich des Stadions der Universität.

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In der Wüste 2.0, revisited

Oasis of Klima

Kurz vor der Bettruhe noch Ruhe 2.0: Kopfhörer auf, heulender Sandsturm, über meinem Avatar die Milchstraße, ansonsten Stille und Einsamkeit. Und alles selbst gemacht (nun gut, die Milchstraße habe ich für rund neun Euro gekauft). Ihr könnt mal vorbeikommen, aber ihr werdet es nicht finden. Very few Goreans know the way to the Oasis of Klima. Anyone who draws maps of the desert will be killed. Wisst ihr Bescheid.

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Schlangentanz

san fernando de atabaposan fernando de atabaposan fernando de atabapo

Leider weiß ich nicht (mehr) genau, welches Fest in San Fernando de Atabapo (Venezuela) gefeiert wurde, auf jeden Fall kein kirchliches. Ich entnehme meinen Aufzeichnungen, dass es der 20.02.1998 war, also vermutlich Karneval.

Ich halte den Schlangentanz, den ich dort gesehen habe und an dem nur die Mädchen teilnahmen, für sehr alt, und ich glaube auch nicht, dass sich jemand für die Herkunft interessierte. Die Leute waren einfach fröhlich. Ein Regentanz wird es ursprünglich nicht gewesen sein, denn im Urwald muss man die höheren Wesen nicht um Regen bitten – der kommt zuverlässig.

Venezuela hat einige nette Tierchen, die am Boden herumkriechen, zu bieten, denen ich nicht begegnen möchte. Vielleicht gab es bei den Puinave oder den Kurripaco, also vor gut einem halben Jahrhundert, einen Clan der Schlangen?

Ich habe noch ein Video (mit Ton) gefunden, das die Atmosphäre dort gut wiedergibt – aber da war wohl gerade Regenzeit und der Wasserstand höher.

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Ben sona?

hebrew

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Mauerkunst

graffitigraffitigraffiti

Mit Erlaubnis der Künstler, die noch nicht fertig waren mit ihrem Werk. Ich habe sie gelobt, weil mir das gefällt, aber sie wollten mir nicht sagen, wer sie sind. Die Mauer war vorher hässlich. Hoffentlich verunstaltet niemand die Mauerkunst.

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Antares, reloaded

antares

Mein Kater Antares, 1976 oder 1977, in meiner Wohnung am Willmanndamm in Berlin-Schöneberg.

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Hermoso atardecer

san fernando de atabapo

Noch einmal der Zusammenfluss von Rio Guaviare und Rio Atabapo (links), die hier – bei San Fernando de Atabapo – in den Orinoco münden. Jetzt ist ein Vogel mit auf dem Bild. Wenn man nur eine begrenzte Zahl von Fotos machen kann, überlegt man sich so etwas drei Mal, und wenn man mit dem Überlegen fertig ist, ist der Vogel dann weg…

Auf der anderen Seite liegt Amanaven (Kolumbien). Fotografiert in Venezuela 1998. (Vgl. „An der Grenze zur grünen Hölle“, 25.01.2012, „Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents“ (28.08.2012), „Am Strand“, 20.02.2013), „Der gottverlassene Landstrich, revisited“ (11.02.2020), „Am Rio Atabapo“ (29.03.2023), „Am Rio Atabapo, revisited“ (01.04.2023).

Ich glaube, das war am letzten Abend, bevor ich leider wieder abreisen musste. Damals hoffte ich, irgendwann noch einmal zurückkehren zu können…

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Ein Trip zum „Blauen Ort“ – wie Opiate wirken

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

blauer ort
Blauer Kern Locus coeruleus) des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Reines Heroin schadet dem Körper nicht. Das hat es mit allen anderen Opiaten gemeinsam. Selbst jahrelanger Konsum hinterlässt keine irreversiblen Veränderungen. Diese schlichte Erkenntnis wird in fast allen wohlmeinenden «Aufklärungs»-Broschüren und auch in Lehrbüchern unterschlagen, obwohl sie den Fachleuten in der Regel schon seit langem bekannt ist. (1) In deutschen Drogenberatungsstellen scheint man jedoch häufig der Meinung zu sein, wegen der Gefährlichkeit der Droge Heroin groben Unfug verbreiten zu dürfen, um die potentiellen Konsumenten abzuschrecken.

«Unschädlich» heißt ja «nur», dass Heroin – im Gegensatz zu Zellgiften wie Nikotin und Alkohol -, die Organe, etwa Leber oder Lunge, nicht angreift. Die extreme körperliche und psychische Abhängigkeit, die der Heroin-Gebrauch häufig nach sich zieht, und die Entzugssymptome nach dem Absetzen sind selbstredend keine Bagatellen. «Gefährlich» ist Heroin heute aber vor allem deshalb, weil der Stoff – wegen der Illegalisierung und der Beimischung von zum Teil giftigen Strecksubstanzen -nicht exakt dosiert werden kann. Die Gefahr einer tödlichen Überdosis steigt dadurch enorm. Diese Gefahr ist allerdings keine spezifische Eigenart der Droge Heroin, sondern vieler Rauschgifte.

Einige Beispiele zum «Informations»-Unfug: In Berlin liegt in einigen Beratungsstellen die Broschüre einer Krankenkasse zum Thema «Drogen» aus. In der-Rubrik «Heroin» findet man zu den «Langzeitfolgen»: «Abnahme der Intelligenz, Wahnideen, bleibende Gehirnschäden, Magen- und Darmstörungen, Abmagerung bis zum völligen körperlichen Verfall, Leberschäden.» (2) Ein aktuelles Faltblatt des Berliner Landesdrogenbeauftragten führt unter «Risiken» des Heroins (!) auf, «weitere Gefahren» seien «Beschaffungskriminalität und Prostitution». Ein medizinisches Standardlexikon weiß unter dem Stichwort «Heroinsucht» von «starker Euphorie» zu berichten, gleichzeitig aber auch von «Aggressivität» und «körperlich-geistiger Zerrüttung». Identische Symptome zeichnen, laut Lexikon, den «Morphinismus» aus.

Der langjährige Drogenbeauftragte der US-Regierung, Jerome Jaffe, weiß es besser. Er sagt, dass ein Opiat-Abhängiger, «der sich auf legalem Wege eine ihm adäquate Menge von Drogen beschaffen kann und der hierfür die Mittel hat, sich gewöhnlich ordentlich kleidet, regelmäßig isst und seine sozialen und beruflichen Verpflichtungen erfolgreich bewältigt. Normalerweise ist er gesund und leidet kaum unter Beeinträchtigungen: im allgemeinen kann man ihn nicht von anderen Menschen unterscheiden.» (3) Auch in manchen medizinischen Fachbüchern findet man als Nebenwirkungen des Opiat-Gebrauchs lediglich Übelkeit bei sporadischer Einnahme, Atemdepression, Verstopfung und Abnahme des sexuellen Empfindens.

limbisches system

Diese widersprüchlichen Thesen haben eine simple Ursache. Bis Mitte der siebziger Jahre konnten die Fachleute nur spekulieren, was Opiate, also auch Heroin, im Körper anrichten und wo sie wirken. Noch bei der Verabschiedung des deutschen Betäubungsmittelgesetzes 1971 steckte die Opiat-Forschung in den Kinderschuhen. Das Wissen der für das Opiat- und Cannabis-Verbot zuständigen Politiker und der sie beratenden Beamten blieb «weitgehend dem Zufall überlassen» (4), schreibt Sebastian Scheerer, der die Genese dieses Gesetzes erforscht hat. Eine kompetente und durch wissenschaftliche Erkenntnisse begründete Einschätzung der realen «Gefahr» des Opiat-Konsums war unmöglich, da diese Erkenntnisse noch gar nicht vorlagen. In einem sozialen Kontext, in dem die Droge verboten sei, könne man die Wirkung von Heroin ohnehin nicht diskutieren, sagte der New Yorker Psychiatrie-Professor Thomas Szasz in einem Fernsehinterview, «das wäre, als wolle man die Natur des Judentums im Deutschland der Nazis studieren». (5)

Dem Rätsel auf der Spur waren Forscher, die sich für den Zusammenhang zwischen Schmerz und Lust interessierten. Man war schon Anfang der siebziger Jahre auf die Idee gekommen, Opiate radioaktiv zu markieren, um ihre Spur im Körper verfolgen zu können. Dabei machten mehrere Wissenschaftler unabhängig voneinander eine interessante Entdeckung. Opiate lindern das Schmerzempfinden nicht, indem sie wie andere analgetisch wirkende Pharmaka die Zellmembran direkt beeinflussen. Sie entfalten ihren eigentümlichen Effekt sehr schnell und schon in winzigen Mengen. Das ließ vermuten, dass im Körper spezielle Rezeptoren (Empfänger) vorhanden sind, an die nur Opiate «andocken» und in die sie passen wie ein Schlüssel in ein Türschloss. Diese Rezeptoren mussten aber für irgend etwas gut sein, denn es war schwer vorstellbar, dass die Natur den menschlichen Körper vorsorglich mit etwas ausgestattet haben sollte, das nur durch extern zugeführte Drogen aktiviert werden kann.

Je mehr man über diese Rezeptoren wusste, um so spannender, aber auch um so rätselhafter wurde die Angelegenheit: Die Opiat-Rezeptoren finden sich an ganz unterschiedlichen Stellen des Gehirns. Sie verteilen sich nicht gleichmäßig, sondern treten in einigen Gebieten konzentriert auf. In anderen sind sie dünn gesät. Besonders viele Rezeptoren beobachtete man in Gebieten, die mit der Schmerzwahrnehmung und -weiterleitung betraut sind – wie dem Rückenmark -, sowie im Limbischen System, auch verkürzend «Belohnungssystem» genannt, weil es eine wichtige Rolle für den Gefühlshaushalt des Menschen spielt. Auch in den Regionen, die für endokrine (Hormone absondernde) Funktionen zuständig sind sowie für die unwillkürliche Motorik, wimmelt es von Rezeptoren.

Die Rezeptoren konnten zwecks einer chemischen Analyse nicht aus der Zellmembran herausgelöst werden. Sie verloren dann sofort ihre besonderen Eigenschaften und verweigerten den Opiaten ihren Dienst – wie ein Autoschloss, das von einem Autoknacker mit einem Schraubenschlüssel bearbeitet worden ist.

Die Hirnforscher waren bass erstaunt, als zwei schottische Wissenschaftler mit einer neuen Entdeckung ans Licht der Öffentlichkeit traten: Der menschliche Körper produziere in Eigenregie Anti-Schmerzmittel, die wie Opiate wirken. Diese Stoffe, sogenannte Neurotransmitter, übertragen Informationen von Nervenzelle zu Nervenzelle. Sie bestehen aus Eiweißverbindungen (Peptide), die chemisch so differenziert wirken, dass sie an jeweils passenden Rezeptoren andocken.

formatia reticularis
Formatia reticularis, erzeugt von Playground AI

Nicht jedes Opioidpeptid, wie die Verbindungen aufgrund ihrer Wirkungen genannt werden, bringt seine Botschaft an jeden Rezeptor. Deshalb unterscheidet man diverse «Rezeptorpopulationen». Für diese Informationsträger hatten die Hirnforscher bald schöne Namen gefunden: zum Beispiel Enkephaline – nach dem griechischen Wort Encephalon (6) (Gehirn) – und Endorphine – aus «endo» (griechisch für «innen») und Morphin.

Heute kennt man rund zwanzig dieser Opioidpeptide. Einige docken an Rezeptorpopulationen an, die euphorische Gefühle auslösen, wenn sie stimuliert werden und deshalb wohl für die Sucht verantwortlich sind. Andere – wie die Enkephaline – bevorzugen Rezeptoren, die keine externen Opiate akzeptieren. Es gibt sogar endogene Opiate, denen es egal ist, an welche Rezeptoren sie andocken, oder die euphorische Gefühle stimulieren, zugleich aber Schmerzen nicht verhindern – also «agonistische» und «antagonistische» Eigenschaften haben.

Wie der Körper diese Substanzen synthetisiert, die Eiweißverbindungen also abbaut, ist eine äußerst vertrackte Angelegenheit. (7) Alle Peptide lassen sich auf drei großmolekulare Eiweißverbindungen zurückführen, wie zum Beispiel das Eipotropin. Lipotropin ist ein Hormon, das in der Hypophyse hergestellt wird. Es besteht aus 91 Aminosäuren und wirkt nicht wie ein Opiat. Erst «auf Anforderung», mittels eines chemischen Katalysators, entsteht durch enzymatische Abspaltung das ß-Endorphin.

Dynorphin, eine dem Endorphin verwandte opiatähnliche Eiweißverbindung, ist ebenfalls ein Produkt der Hypophyse. Seine Wirkung kommt der der stärksten synthetischen Opiate gleich. Es könnte also dem Heroin durchaus Konkurrenz machen. Der Unterschied ist ganz praktischer Natur: Die körpereigenen Opiate dringen nur schlecht ins Gehirn ein, wenn sie therapeutisch verabreicht werden.

Die Entdeckung dieser Botenstoffe warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete: Warum hat Mutter Natur den Menschen mit einem internen biochemischen Drogenlabor ausgestattet? Warum sind für Informationen, die das menschliche Gefühlssystem stimulieren, ausgerechnet Substanzen notwendig, die wie der Pflanzenextrakt Opium wirken? Und wo ist der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Körperfunktionen, die alle von Endorphinen beeinflusst werden – nämlich der unwillkürlichen Motorik, dem Lust- und Schmerzempfinden und der Verdauung?


Nervenzellen des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Die Sache versprach auch deshalb interessant zu werden, weil sie auf ein Gebiet führte, für das sich ursprünglich die Theologie, dann die Philosophie und die Psychologie für zuständig erklärt hatten: Es geht nämlich um die biochemische Basis für den Zusammenhang zwischen Körper und Geist. Auf der Ebene der Zellen lassen sich diese beiden Kategorien nicht mehr auseinanderhalten. Das Geheimnis der sowohl «körperlichen» wie auch «seelischen» Abhängigkeit von Drogen müsste hier verborgen sein.

Ein anderes Indiz: Die Endorphin-Konzentration erhöht sich zum Beispiel bei der analgetischen Heilbehandlung durch Akupunktur. Und mehr noch: Die körpereigenen Drogen werden auch dann ausgeschüttet, wenn anstatt eines Schmerzmittels eine chemisch inaktive Substanz; ein sogenanntes Placebo, zugeführt wird, wenn der Patient also nur glaubt, er habe ein Schmerzmittel bekommen. Dieser Placebo-Effekt funktioniert sogar bei externen Opiaten: Wenn einem abhängigen Patienten eine Spritze verabreicht wird, die angeblich seine Droge enthält, aber in Wahrheit nur einen wirkungslosen Stoff, zeigt er häufig die gleichen Reaktionen, als wenn er wirklich ein Rauschmittel bekommen hätte. (8)

Im Normalfall spielen die Endorphine eine wichtige Rolle bei der Bewältigung akuter Stress- und Gefahrensituationen. Falls das Gehirn Signale empfängt, dass ein Schmerz oder eine Gefahr unmittelbar bevorstehen könnte, beginnt im Körper ein «Alarmprogramm» abzulaufen: Das Stammhirn, das älteste Hirnzentrum und zuständig für Stresssituationen, übernimmt die Regie. Der bewusste Verstand wird weitgehend ausgeschaltet, denn er ist zu langsam, um eine spontane Flucht- oder Abwehrreaktion auszulösen. Nicht Analyse ist angesagt, sondern sofortige Aktion. Der Körper schaltet um auf «turbo», sei es, wenn unseren Urahnen im Pleistozän unvermittelt ein Säbelzahntiger begegnete oder wenn dem modernen Zeitgenossen vor dem «Bungee-Jumping», dem freien Fall aus großer Höhe, gesichert nur durch ein Gummiband, die Nerven flattern.

Dabei werden nicht neue Ressourcen erschlossen, sondern nur die vorhandenen anders genutzt: Die Wahrnehmung reduziert sich auf das Wesentliche, die bei Alarmsituationen weniger benötigten Organe wie der Darm, die Nieren und die Leber erhalten zeitweilig weniger Blut, die Muskeln bekommen absolute Priorität, die Blutgerinnungszeit verkürzt sich auf eine halbe Minute, die Schmerzempfindlichkeit ist gesenkt. Und, wenn es richtig zur Sache geht und die Aktion unmittelbar bevorsteht: Die Endorphine werden ausgeschüttet, in einer Menge, die das Normalniveau bis zum Hundertfachen übersteigt. Euphorie verdrängt für kurze Zeit jegliche Furcht.

Die Endorphine docken aber nicht nur in Stresssituationen an den Rezeptoren an, sie wirken auch in der Stille. Offenbar können bestimmte mentale Techniken sie beeinflussen. Die Berichte religiöser Mystiker über den Zustand der «Verzückung» – nach langwieriger Vorbereitung durch Meditation – legen nahe, dass bestimmte Formen religiöser Ekstase durch die Ausschüttung der körpereigenen Drogen hervorgerufen werden. Die Symptome des «Satori», der «Erleuchtung» bei der Zen-Meditation, entsprechen zum Beispiel bis ins Detail denjenigen, die beim Opiat-Konsum auftreten. Das, was bei extremen Formen der Meditation gezielt gefördert wird, nämlich Ausschaltung der bewussten Wahrnehmung, Reduzierung der willkürlichen Motorik – in Zusammenhang mit körperlichem Schmerz bei bestimmten Sitzhaltungen -, ist identisch mit dem «Notprogramm» des Körpers in Stresssituationen.

Die Endorphine wirken auf den Schmerz indirekt: Sie betäuben ihn nicht, sondern verhindern, dass die Schmerzsignale weitergeleitet werden – eine sogenannte «Hemmung der Erregung». Der Schmerz ist da, aber man spürt ihn nicht, weil die Opiate, körpereigene wie externe, verhindern, dass sich das Gehirn über das Geschehen informieren kann. Wie das genau geschieht, ist noch nicht genügend erforscht.

Es gibt aber einige Anhaltspunkte. Offenbar wirken die Opiate bei der Informationsübertragung von Zelle zu Zelle wie ein Computervirus: Sie neutralisieren die Substanzen, die die «Botschaft» weitervermitteln sollen. Acetylcholin etwa, einer dieser Übertragerstoffe, verändert das chemoelektrische Potential der Zellmembranen – Opiate hemmen diese «Depolarisation». Adenosinmonophosphat wiederum, das für Signale zuständig ist, die von den Rezeptoren in das Zellinnere gelangen sollen, kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn zuvor ein «Katalysator», das Enzym Adenylatzklase, auf den Plan gerufen wird. Die Opiate verhindern, dass die Adenylatzklase Gelegenheit bekommt, das Adenosin-Monophosphat zu synthetisieren. Die Nervenzellen bleiben «stumm».

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Henry Gray: Anatomy of the Human Body, 1918

Die Opiate boykottieren auch den Ausstoß von Übertragersubstanzen wie Noradrenalin und Dopamin, die den Körper wach und aufmerksam machen. Das ist eine effektive und auch ökonomische Sabotage des neuronalen Informationsflusses – als wenn die Gewerkschaften bei einem Arbeitskampf nicht das Hauptunternehmen bestreikten, sondern schlicht die Zulieferbetriebe daran hinderten, ihre Produkte loszuwerden.

Der Körper hat jedoch eine Sicherung gegen diesen «Informationsstreik» eingebaut. Hält er aufgrund extremer Opiatzufuhr längere Zeit an, dann «begreifen» die Zellen nach und nach, dass irgend jemand ständig die Leitung kappt. Durch komplizierte Lernprozesse gelingt es ihnen, die Produktion und Synthese der Übertragerstoffe wiederaufzunehmen, gegen den Widerstand der Opiate. Der Arbeitgeber Gehirn setzt Streikbrecher ein: Es entwickelt sich eine Toleranz, das heißt: Um eine Wirkung zu erzielen, müssen die Opiate höherdosiert werden, da der Körper sich an eine gewisse Dosis gewöhnt hat.

Auch Krämpfe scheinen eine Art Anpassung, ein Lernprozess des Gehirns zu sein – ähnlich dem bei Abhängigkeit von euphorisierenden oder analgetisch wirkenden Substanzen. Epileptiker, die an starken Depressionen leiden, berichten, dass diese Verstimmungen nach einem Krampfanfall zeitweilig verschwinden. Krämpfe wirken wie ein Blitzschlag im Gehirn: Das elektrische Potential der Nervenzellen entlädt sich (die so genannte «Depolarisierung»). Gleichzeitig werden bestimmte Neurotrans-mitter – ähnlich wie beim Opiat-Konsum – daran gehindert, ihre Botschaft zu transportieren. Es kommt zur «Hemmung der Erregung». Wenn sich eine Toleranz gegenüber Barbituraten, Beruhigungsmitteln oder Opiaten entwickelt hat, versucht der Körper, diese Wirkung aufrechtzuerhalten, wenn ihm die analgetischen Substanzen plötzlich vorenthalten werden.

Wird nun die Opiat-Zufuhr plötzlich abgesetzt, bricht das Chaos aus. Jetzt werden zu viele der zuvor gehemmten Stoffe produziert, das Nervensystem reagiert übersteigert und hyperaktiv. Es kommt zum «Noradrenalinsturm». Aus Noradrenalin, einem Hormon der Neurotransmitter, wird im Körper Adrenalin synthetisiert («Adrenalin-Stoß»). Die opiatbedingte «Hemmung der Erregung» ist weggefallen.

Damit läuft der Adaptionsprozess, der den «Informationsstreik» aushebeln sollte, ins Leere. Es dauert eine Weile, bis sich die Zellen an ein geringeres Niveau der Opiatzufuhr gewöhnt haben, bis sie «begreifen», dass die Informationen wieder fließen, ohne dass besondere Anstrengungen nötig sind.

Diese Phase ist der bei Opiat-Abhängigen gefürchtete Entzug: Die Wogen des «NoradrenalinSturms» müssen sich erst glätten, bevor die Neurotransmitter Signale senden können, dass sich die Lage entspannt hat.

Das ist nur die eine Seite der Medaille. Bisher hat uns vorwiegend die analgetische (schmerzlindernde) Wirkung der endogenen und extern zugeführten Opiate beschäftigt. Heroinabhängige nehmen aber die Droge aus zwei Gründen: Einerseits, um den unerträglichen Zustand des Entzuges zu vermeiden, andererseits, um ein euphorisches Gefühl zu erleben. Sinkt die Opiat-Zufuhr unter das Abhängigkeitsniveau, setzt der «Turkey» ein. Die euphorische Wirkung spüren der oder die Abhängige aber erst dann, wenn die Drogenmenge das Toleranzniveau überschreitet.

brain
Adaptoren des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Euphorie
Menge der Opiat-Zufuhr
Toleranzniveau
Abhängigkeitsniveau
Entzug

Zu welchem Zeitpunkt Euphorie oder Entzug eintreten, ist sowohl von der jeweils unterschiedlichen körperlichen und psychischen Verfassung des Junkies als auch von der Qualität der Droge abhängig. Zwischen Abhängigkeitsniveau und Toleranzniveau ist man zwar «drauf», spürt aber nichts. Das ist bedeutsam bei einem Vergleich zwischen verschiedenen Opiaten, etwa Morphin, Codein, Heroin und Methadon, einem synthetischen Opiat, und dem verschiedener Applikationsformen – ob man raucht, snieft oder spritzt.
Bei der intravenösen Injektion von Heroin tritt die Euphorie fast sofort ein, beim Inhalieren morphinhaltiger Dämpfe dauert es länger, weil der Stoff nicht gleich in die Blutbahn gelangt. Da Heroin ohnehin im Körper in Morphin umgewandelt wird (Diacetylmorphin!), liegt sein spezifischer Effekt in der plötzlichen und abrupten Besetzung der Rezeptoren. Codein und Methadon wirken zwar genauso, nur nicht in der Geschwindigkeit des Heroins: Die Süchtigen fühlen bei der Methadon-Vergabe oder der Substitution durch Codein-Präparate, wie das euphorische Gefühl langsam «anschwillt», man spürt keinen «Kick» im Kopf.

Aufschluss über den komplexen Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz könnten zwei geheimnisvolle Regionen des Gehirns geben: Der «Blaue Ort» und eine ihm benachbarte Region, die von Hirnforschern mit dem Zungenbrecher «Periaquäduktales Grau» bezeichnet wird. Dort liegen die Opiat-Rezeptoren dicht an dicht. Wir können vermuten, dass hier eine wichtige Schaltzentrale für die «Sucht» nach Drogen zu finden ist.

Beide Regionen liegen im Stammhirn, das vom Großhirn wie eine schützende Schale umschlossen wird. Die Übergangszone zwischen Stamm- und Großhirn bildet das Limbische System, zuständig für so komplexe Aufgaben wie die Selbsterhaltung (Ernährung, Verteidigung und Angriff) sowie die Arterhaltung (Sexualität). Offenbar ist das Limbische System eine Art von Übermittlungs- wie Übersetzungsinstanz für Prozesse, die im Stammhirn ihren Ausgang haben und letztlich zu bewussten Reaktionen im Großhirn führen. Während die schmerzlindernde Wirkung der Opiate mehr über Nervenbahnen des Rückenmarks vermittelt wird, werden beim Verlangen nach Euphorie bestimmte Gebiete des Limbischen Systems aktiviert.

Nervenbahnen verlaufen vom Limbischen System ins Gehirninnere und ins Zwischenhirn, der Region zwischen den beiden Großhirnhälften. Dort hat die «geographisch» nur vage definierte Formatio reticularis ihren Platz, eine Ansammlung von verschiedenen kleineren Zentren, die bei der Steuerung komplexer Aufgaben kooperieren. Sie sind für die spontanen Aktionen des menschlichen Körpers zuständig, für motorische Teilfunktionen, aber auch für die Atmung und für die Weckwirkung auf die Großhirnrinde, womit der Grad der Bewusstseinserhellung bestimmt wird. Diese Prozesse laufen im Normalfall automatisch. Wir «vergessen» nie zu atmen, können es aber auch bewusst. Hier scheinen komplizierte Rückkoppelungen zwischen unbewusster und bewusster Steuerung vorzuliegen.

Was man weiß, ist, dass Nervenbahnen vom Limbischen System über die Formatio reticularis bis zum Periaquäduktalen Grau verlaufen. Diese Gehirnregionen kooperieren, sowohl bei ihren Aufgaben als auch bei der Wirkung, die sie entfalten. Wird der «Graue Ort» zum Beispiel elektrisch stimuliert, können selbst chronische Schmerzzustände verschwinden. Und: Ist das zungenbrecherische «Grau» verletzt, verlieren extern zugeführte Opiate ihre schmerzlindernde Wirkung.

Die Hirnforscher, die sich mit dem noch weitgehend unerforschten Labyrinth der verschiedenen Systeme beschäftigen, stießen immer wieder auf den «blauen» und den «grauen» Ort im Stammhirn. Gerade der «Blaue Ort» machte ihnen zu schaffen. Er ist zwar nur winzig und besteht aus nur rund 3000 Nervenzellen, diese jedoch erreichen mit ihren Bahnen ein Drittel bis die Hälfte aller Nervenzellen in der Hirnrinde. Wenn hier etwas los ist, gerät fast das ganze Gehirn in Aufregung. Von hier aus werden so gegensätzliche Steuerungsmechanismen wie das Wecksystem und das Beruhigungssystem gleichzeitig beeinflusst. Der «Blaue Ort» gilt mittlerweile sogar als der Kern des Wecksystems. Zwei seiner Informationsträger, die Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin, wirken auf die höheren Gehirnzentren, insbesondere aber auf das Limbische System, das dem Großhirn bei einigen Aufgaben «vorgeschaltet» wird.

transmitter
Transmitter des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Kokainmoleküle sind diesen beiden Transmittern des «Blauen Ortes» zum Verwechseln ähnlich. Das gleiche gilt für Amphetamine das sogenannte «Speed». Beide Drogen drängen das noch «schlummernde» Dopamin zur Seite und suggerieren dem Körper einen künstlichen Wachzustand. Die Hirnforscher vermuten, dass halluzinogene Substanzen wie LSD den «Blauen Ort» so überstrapazieren, dass es zu psychedelischen Räuschen kommt.

Ohnehin kann der «Blaue Ort» auch über Gebühr erregt werden: Elektrische Reizung des Locus coeruleus – so die lateinische Bezeichnung – verursacht Panik und Schreckreaktionen. Vielleicht hat der «Horrortrip», «auf» dem man bei LSD-Missbrauch «hängenbleiben» kann, hier seine Ursache.

Der «Blaue Ort» als Teil des Wecksystems steht zugleich in Verbindung mit dem Beruhigungssystem. Der Körper ist dem Prinzip der Homöostase verpflichtet. Gerät etwas längerfristig außer Kontrolle, steuert er gegen. Bevorzugtes Mittel ist der hormonartige Übertragerstoff Serotonin. Serotonin wird in den Zellen der Magen- und Darmschleimhaut sowie in der Muskelhaut des Darmes gebildet und durch die Blutplättchen transportiert. Er verengt die Blutadern und wirkt dabei mit, dass der Mensch schlafen kann. Serotonin ist der große Gegenspieler der Wecksubstanz Noradrenalin. Im «Blauen Ort» scheinen sich beide Stoffe zu treffen und die Balance zwischen Schlafen und Wachen auszumanövrieren.

Dopamin, das ebenfalls im «Blauen Ort» zu finden ist, steuert den Muskeltonus und dockt an den Opiat-Rezeptoren an. Fehlt Dopamin im Körper, treten Bewegungsarmut und Muskelstarre auf, im Extremfall die Parkinson-Krankheit. Viel interessanter ist aber, was geschieht, wenn Dopamin nicht mehr ins Limbische System gelangt: Wir sind unfähig, euphorische Gefühle zu empfinden.

Es ist in Wirklichkeit noch ein wenig komplizierter. Lust empfinden wir nur, wenn Dopamin im Stammhirn startet und dann gleichzeitig seine biochemische Botschaft im Limbischen System und in den Stammganglien ablädt. Die Stammganglien, markhaltige faserige Nervenzellen, die sich im Endhirn zum sogenannten Streifenkörper bündeln, regeln die Muskelspannung. Werden sie zerstört, flippt der Mensch aus: Es kommt zu Überreaktionen, deren Erscheinungsbild schon im Mittelalter als «Veitstanz» (Teufelstanz) bekannt war.

Die Basalganglien sind aber nicht nur dafür zuständig, Bewegungsabläufe zu programmieren. Sie scheinen, so merkwürdig das klingen mag, auch für Teilprozesse der Motivation verantwortlich zu zeichnen. Das Limbische System hingegen regelt nur die affektive und emotionale Seite. Störungen dieses Systems können sowohl zu Angstgefühlen als auch zu Aggression führen. Aus dieser Wechselwirkung ist wohl das spezifische dämpfende und aggressionshemmende Ergebnis des Opiat-Konsums, also auch des Heroins, zu erklären.

mandelkern
Mandelkern (Amygdala) des menschlichen Gehirns, erzeugt von Playground AI

Zum Limbischen System gehört auch eine Gehirnregion, die Mandelkern genannt wird. Wenn der verletzt wird, zeigen sich merkwürdige Symptome: Der Mensch wird «fresssüchtig», er stopft alles, was nur einigermaßen verdaulich ist, wahllos in sich hinein. Außerdem denkt er ständig nur noch an «das eine», den Sex. Es ist noch nicht genau erforscht, ob dieser Kern direkt für die Drogenabhängigkeit bedeutsam ist. Es fällt nur auf, dass die Opiatsucht genau das Gegenteil von dem bewirkt, was die Wissenschaftler nach einer zufälligen Zerstörung des Mandelkerns beobachteten: Appetitlosigkeit und nur noch geringe Lust auf Fortpflanzung.

Auch der Nucleus accumbens, an dessen Rezeptoren Dopamin ebenfalls andockt, könnte eine Rolle bei der Opiatabhängigkeit spielen. Dieser winzige Kern beeinflusst sowohl den Streifenkörper als auch das Pallidium, das, ähnlich wie die Stammganglien, die Bewegungen des menschlichen Körpers steuert. Was man weiß, ist nur ein indirekter Schluss: Wenn die Rezeptoren des Nucleus accumbens blockiert sind, verspürt man – das weiß man nur von Tierversuchen – keine Lust mehr auf Drogen wie Heroin oder Kokain.

Diese verwirrende Berg- und Talfahrt durch das menschliche Gehirn macht eines deutlich: Heroin und andere Opiate wirken auf eine Vielzahl unterschiedlicher Körperfunktionen. Die psychische «Lust» an der Droge ist offenbar ein sehr differenziertes Bedürfnis. Auf «natürlichem» Wege, durch die Endorphine, wird der Körper für Gefahren- und Stresssituationen kurzfristig präpariert, Schmerz und Angst weniger stark zu empfinden und gleichzeitig auf «turbo»Betrieb umzuschalten, damit er das Geschehen auch meistern kann. Extern zugeführte Opiate suggerieren dem Körper, dass diese Situation permanent besteht.

Da alle wichtigen menschlichen Regungen wie emotionales Wohlgefühl, sexuelles Empfinden, Motivation, Schlafund Wachzustand beteiligt sind, kann man sich vorstellen, wie schwierig es für Opiat-Abhängige ist, auf dem einmal eingeschlagenen Weg umzukehren. Die Annahme, «Sucht» sei das bloße Verlangen nach einem Rauschzustand, geht völlig an der Komplexität des Problems vorbei.

Dazu kommt eine Beobachtung, die Hirnforscher machten, als sie Ratten für eine lange Zeit mit Morphin «behandelten»: Offenbar bildet sich die Endorphin-Produktion zurück, wenn sich der Organismus erst einmal an externe Opiate gewöhnt hat. Das ist auch beim Menschen so. Ein Junkie, der sich mühsam vom «Stoff» gelöst hat, kann für längere Zeit keine starken Lustgefühle mehr empfinden, weil das körpereigene Drogenlabor wegen der ständigen Heroin-Zufuhr zeitweilig «abgewickelt» worden ist.

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(1) Vermutet haben dies schon u.a. A./E. Torrance: Opium Addiction. Chicago 1929/30, und H. Isbell: Narcotic Drug Addiction Problems. Bethesda 1958. Neuere Forschungen: J. Platt/C. Labate: Heroin Addiction. New York 1976 (dt.: Heroinsucht, Darmstadt 1982), W. Harding: Kontrollierter Heroingenuss, in: G. Völger/K. v. Welck (1982), S. 1217ff, S. Quensel (1982), S. 156, Michael de Ridder: M. de Ridder (1991), passim, sowie eines der Standardwerke zum Thema: E. M. Brecher u. a.: Licit and Illicit Drugs, Boston 1972; ferner G. Obe u. a.: Mutagene und karzinogene Wirkungen von Suchtstoffen, in: W. Keup (1985), S. 38f
(2) Auf meine Nachfrage bei der betreffenden Kasse wurde mir erklärt, die Broschüre sei 15 Jahre alt und auf dem «damaligen Forschungsstand». Es habe sich aber noch niemand beschwert. Die Frage bleibt offen, wieso man verschweigt, dass Leberschäden und Hepatitis von unsachgemäßem Gebrauch herrühren und nicht von der Droge selbst. Eine aktualisierte Fassung, die mir prompt zugesandt wurde, verzichtete auf die Spalte «Langzeitfolgen bei Heroin-Gebrauch».
(3) A. Barth, zit. nach G. Grimm (1992), S. 180
(4) S. Scheerer (1982), S. 147
(5) Zit. nach G. Amendt (1992), S. 189
(6) Solomon Snyder von der Johns-Hopkins-Universität, Baltimore, Simon von der Universität New York und Terenius von der Universität Uppsala identifizierten die Rezeptor-Stellen; Snyder, Terenius, Goldstein von der Stanford-Universität in Kalifornien, John Hughes und Hans Kosterlitz (Universität Aberdeen) isolierten die Enkephaline.
(7) Diese Synthetisierung nennt man «proteolytischer Prozess». Vgl. Sidney Cohen: Neuester Stand der Heroinforschung, in: Völger, S. Sooff; Michael Wüster: Der neueste Stand der Opiatforschung, in: ebd., S. 76ff; Klaus Kuschinsky: Zur Pharmakologie von Opioiden (1981), S. 225ff; A. Herz: Das Suchtproblem in der Sicht der neueren Opiatforschung, in: W. Feuerlein (1986), S. 15 ff
(8) Vgl. U. Havemann/K. Kuschinsky: Opiatrezeptoren. Zur Frage der Trennung der analgetischen und suchterzeugenden Wirkungen, in: W. Keup (1985), S. 184f

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Ja efes

hebrew insults

Endlich lerne ich auch die wirklich wichtigen Wörter im Hebräischen!

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Never Again!

metzada

IDF Spezialeinheit Metzada mit einer Überlebenden des Holocaust. Ist ein Geburtstagsgeschenk, leider ein Jahrhundert zu spät. Die Quelle kommentiert: „The commander of the „Masada“ elite unit salutes his grandmother, Bianca, a Holocaust survivor.“

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Warm und still (fast) [Update]

san fernando de atabapo

Ein stiller und sehr warmer Sonntagnachmittag in San Fernando de Atabapo am Orinoco (1998). Wait a minute. Still? Ganz hinten ist der Kirchturm der Parroquia San Fernando zu sehen. Ich stand also ungefähr zwei Blocks nördlich davon. Der Ort ist so klein, dass die Straßen keine Namen haben.

Ich wanderte so vor mich hin, als urplötzlich ein infernalisches Getöse über mich hereinbrach, so laut wie drei Techno-Partys gleichzeitig, nur in sehr schlechter Qualität. Der Pfaffe des Ortes hatte irgendwo an der Kirche eine Lautsprecheranlage angebracht, deren Klang vermutlich bis auf die andere Seite des Flusses nach Kolumbien reichte, um seine Schäfchen zum Gottesdienst zu bitten. Jeder wäre ohnehin aus seiner Siesta aufgeweckt worden. Es war grauenvoll und hörte auch für eine Weile nicht auf. Ich weiß gar nicht, ob es Musik war oder irgendwie muezzinmäßig.

Ich sehe gerade, dass Google jetzt einige Hinweise gibt, wo was ist. Ich erkenne meine Herberge von damals wieder – sie heißt Hotel Pendare, ist gestrichen und hat ein gemauertes zweites Stockwerk bekommen. 1998 hieß das Etablissement noch Cafe Orinoco und bot eine grandiose Aussicht auf die Flüsse Rio Atabapo und Rio Guaviare. Vor dem Eingang ist auch eines meiner Lieblingsfotos entstanden. Die Ausstattung der Zimmer war aber nur etwas für extrem hartgesottene Globetrotter. Ich wüsste gern, ob das Mädchen vom Lande sich noch an mich erinnert…

Man braucht nur vier Tage von Berlin bis Puerto Ayacucho, wenn alles gut geht. Aber dann weiter den Orinoco hinauf wird es extrem kompliziert – immer noch. „Verkehrstechnisch ist die Stadt durch einen Flughafen und einen kleinen Hafen angebunden“, behauptet das deutsche Wikipedia. Haha. Die Tide des Orinoco und seiner Nebenflüsse ist bei San Fernando zwar nicht 12 Meter wie des Amazonas bei Manaus, aber Bootstege kann man dort nicht bauen – die würden in der Regenzeit weggeschwemmt oder wären dann nur für U-Boote. Das spanische Wikipedia ist realistischer „El transporte fluvial en Atabapo está compuesto por 4 embarcaciones (llamadas coloquialmente voladoras) que prestan el servicio Samariapo-Atabapo-Samariapo: El Suricato, La Roca, Nautisa y Autana. Actualmente no existe ningún transporte con destino fijo a otro municipio del Estado Amazonas“.

No existe ningun. Kein Transport, nirgends. Also nur vier Boote für die ganze Region, die halb so groß ist wie ganz Deutschland, und von denen garantiert so viele oder so wenige schwimmfähig sind wie die bei der Bundesmarine. Damals gab es nur eins, und ob die Reise damit losging, hing davon ab, ob der Kapitän und Besitzer sich am Abend vorher mit Damen vergnügt und vollgesoffen hatte oder nicht. Das erzählten mir die Mitreisenden.

[Update] Ich habe noch ein Foto gefunden, dass ich bei dieser – oben erwähnten – Reise per Boot gemacht habe – in Samariapo. Dorthin hatte uns ein LKW aus Puerto Ayacucho gebracht und damit die unbefahrbaren Stromschnellen des Orinoco umgangen. Vermutlich habe ich das Foto unweit des Comando Fluvial Puesto Samariapo geschossen.

samariapo

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Ein heroisches Hustenmittel

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Grüne Apotheke
Grüne Apotheke in der Berliner Chausseestraße, nach 1859. Source: Deutsche Apotheker-Zeitung

In den Jahrzehnten seit Sertürners Entdeckung des Morphins änderten sich die Produktionsbedingungen pharmazeutischer Produkte grundlegend. Die kleinen Apotheken, in denen Medikamente in handwerklichem Eigenbetrieb hergestellt wurden, konnten die massenhafte Nachfrage nicht mehr befriedigen. Aus ihnen gingen Fabrikbetriebe hervor, deren Nachfahren noch heute im Geschäft sind: Die kleine Engel-Apotheke in Darmstadt mauserte sich zum Pharmakonzern E. Merck & Co., die Grüne Apotheke in Berlin zur Chemischen Fabrik auf Actien, später Schering AG, die Merkur-Apotheke in Hamburg zur Beiersdorf & Co. AG. Daneben witterten die Drogengroßhandlungen den großen Reibach, wie Engelmann & Böhringer, ab 1859 C. F. Böhringer und Söhne in Mannheim.

Engel Apotheke
C. F. Boehringer & Söhne GmbH, Mannheim-Waldhof, Sandhofer Str.

Die Alkaloid-Chemie erlebte einen stürmischen Aufschwung und zog weitere, auch ökonomisch interessante Forschungsergebnisse nach sich. Bei der Produktion des Morphins bleibt eine Lauge zurück, die zahlreiche andere Stickstoffverbindungen enthält. Einige derer Namen erinnern an die Opium-Mixturen der Antike, Mekonium und Laudanin zum Beispiel. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde Codein isoliert, das zu etwa einem Prozent in Opium vorhanden ist. Codein wirkt ähnlich wie Morphin, nur ungleich schwächer. Medizinische Indikation: vor allem Gastritis und Krampfleiden. Auch andere, zum Teil giftige Substanzen und Drogen wurden in der Mitte des 19. Jahrhunderts isoliert: Strychnin (1817), Coffein (1820), Nikotin (1828), Kokain (1887, kommerzielle Verwertung durch die Firma Merck aber schon seit 1862) und schließlich der Rauschstoff Mescalin (1896).

Lophophora williamsii
Der Peyote-Kaktus Lophophora williamsii enthält als Hauptwirkstoff Mescalin.

Hanf (Cannabis) gehörte ohnehin schon seit 100 Jahren zur Grundausstattung einer jeglichen Apotheke. Merck stellte ab 1880 Cannabis-Tinkturen her. Das Deutsche Reich gehörte zum drittwichtigsten Abnehmer indischen Hanfs: «charres» (Haschisch), «ganja» (Marihuana) und «bhang» (ein cannabishaltiges Getränk) hießen die Verkaufsschlager. Im Hamburger Freihafen wurden allein im September 1885 3,5 Tonnen Ganja, 12 Tonnen Bhang und 300 Tonnen Charres gelöscht.

Das Rennen in der Herstellung von Drogen machte schließlich die Teerfarbenindustrie, die man zunächst nicht mit pharmazeutischen Produkten in Verbindung bringt. Diese Unternehmen hatten die entsprechenden Laboratorien zur Verfügung. Ganze Forscherteams waren den Geheimnissen der Natur auf der Spur. Außerdem mangelte es weder an Geld noch dem ökonomischen Durchblick, um die gewonnenen Kenntnisse rasch zu verwerten. Der Startschuss für die Entwicklung dieses Industriezweiges war 1934 die Isolierung des gefährlichen Blut- und Nervengiftes Anilin, auch Aminobenzol genannt, aus dem Steinkohlenteer und seine Synthese. Als Grundstoff für die industrielle Produktion künstlicher Farbstoffe wurde Anilin für eine Reihe konkurrierender Firmen zum Erfolgsgaranten: die Farbenfabriken Friedrich Bayer et Comp. in Barmen (1863, seit 1878 Elberfeld), die Farbwerke Hoechst AG vorm. Meister Lucius & Brüning später Hoechst AG (seit 1862), Kalle & Co. aus Biebrich und die Badische Anilin- und Sodafabrik BASF in Ludwigshafen (seit 1865).

cannabis tinktur
Inserat zum Arzneimittel „Cannabin“ der Firma Merck um 1885, Darmstadt

Richtig begann das Wettrennen um die Produktion der Farben mit der ersten Synthese des natürlichen Farbstoffes Alizarin 1869 durch Karl Graebe und Karl-Theodor Liebermann. In kürzester Zeit schossen mehr als hundert Fabriken aus dem Boden, die Alizarin herstellten. Das Geschäft blühte: Allein zwischen 1883 und 1887 wurden 21 neue Farbstoffe entwickelt und, um das Geld richtig ins Rollen zu bringen, die Firma Bayer in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Auch andere Firmengründungen mit noch heute bekannten Namen fallen in die Zeit des «Farbrausches»: Der auf Anilinfarben spezialisierte Betrieb Kern und Sandoz tauchte 1880 in Basel im Handelsregister auf (heute Sandoz AG), schon 1859 begann bei Geigy (heute: Ciba-Geigy) in Basel die Produktion synthetischer Anilinfarben, zum Beispiel Fuchsin. Fritz Hoffmann (heute: Hoffmann La Röche) bildet das Schlusslicht. Er gründete erst 1896 einen Fabrikationsbetrieb für Drogerieartikel.

Die erste Krise ließ nicht lange auf sich warten. Mitte der achtziger Jahre war der Markt mit künstlichen Farben überschwemmt, die Preise sanken, die Gewinne schrumpften. Die Herren von der chemischen Industrie grübelten, wie diesem misslichen Zustand zu begegnen sei. 1887 kam ihnen ein Zufall zu Hilfe. (1)

Zwei Assistenten einer Straßburger Klinik experimentierten mit fiebersenkenden Mitteln. Eines schien besonders gut zu wirken. Sie ließen es analysieren, und siehe da: Es entpuppte sich als das chemisch nur geringfügig modifizierte Anilin. Die Veränderung, die sogenannte Acetylierung, sah so aus, dass in das ursprüngliche Molekül der Substanz Essigsäureester eingefügt worden war. Das Endprodukt hieß Acetanilid und wurde bald – dieses Mal war das Unternehmen Kalle & Co. am schnellsten – als «Antifebrin» auf den Markt geworfen. Bayer zog im großen Stil nach. Anfang der neunziger Jahre gab die Unternehmensleitung grünes Licht für die Gründung firmeneigener Forschungslaboratorien. Unter der Leitung von Carl Duisberg stellte Bayer sein erstes Arzneimittel her, Phenacetin, das Pendant zu Kalles Antifebrin.

antifebrin

Die massenhafte Herstellung fiebersenkender und später auch anderer Mittel war technisch kein Problem, fielen doch die Grundstoffe für die Acetylierung gleich tonnenweise als Beiprodukte der Farbherstellung an. Es setzte eine wahre «Acetylierungsmanie» ein, der Medikamentenmarkt boomte. Acetanilid zum Beispiel hat, wie alle acetylierten Stoffe, bessere chemische Eigenschaften als der ursprüngliche Stoff Anilin bzw. Aminobenzol. Es wird im Körper langsamer gespalten und ist weniger giftig.

Anfang der neunziger Jahre probieren die Chemiker die Acetylierung auch an Morphin aus, um vielleicht einen Stoff zu finden, bei dem die Gefahr der Abhängigkeit geringer ist. Am 21.8.1897 schreibt der Erfinder des Aspirins (Acetylsalicylsäure) (2), der Chemiker Felix Hoffmann von den Elberfelder Farbenfabriken Bayer, einen Laborbericht „über das Diacetylmorphin“: „Um einen Ersatz für das Codein aufzufinden“, hätten er und seine Mitarbeiter „das Diazetat des Morphins dargestellt“ – also das Morphin acetyliert. Hoffmann: „Kocht man 10,0 Morphin mit 30,0 Essigsäureanhydrid in vier Stunden unter Rückfluß, so zeigt eine in Wasser aufgenommene Probe keine Morphinreaktion mehr. Man verdunstet die Essigsäure des Rückstandes, gießt in Wasser und versetzt unter Erkühlung mit Sodalösung. Die ausfallende kristallynische Masse stellt das Diazetat dar… Wie physiologische Vorversuche ergaben, liegt in dem Körper in der That eine dem Codein außerordentlich ähnliche Substanz vor.“

aspirin heroin
Braunes und weißen Heroin

Die Publikation Dresers verschweigt die Vorarbeiten anderer Kollegen. Offenbar wusste Dreser nicht, dass schon 1890 die beiden englischen Forscher Dott und Stockman eine «umfassende Untersuchung über die pharmakologischen Wirkungen des Morphins und seiner Derivate» veröffentlicht hatten, worauf sich eine Titelgeschichte der «Münchener Medicinischen Wochenschrift» aus dem Jahr 1899, geschrieben vom Hallenser Pharmakologen Erich Harnack, bezog.

Parallel zu Bayer experimentierte auch das Darmstädter Unternehmen Merck mit Morphin: 1899 erschien im Jahresbericht der Firma eine Mitteilung über Forschungen, die kurz zuvor stattgefunden hatten. Diacetylmorphin zeige eine «dem Morphin ähnliche, aber schwächere Wirkung», setze die Reflexe herab und beseitige den Hustenreiz. Gegen Schmerzen sei es «weit weniger wirksam als Morphin und für die praktische Verwendung nicht besonders geeignet, da die Substanz keine haltbaren und in Wasser löslichen Salze bilde.

Die Farbenfabriken Bayer waren da anderer Ansicht. Im Mai 1897 beantragte Bayer einen Wortschutz für das Warenzeichen des neuen Medikaments. Am 27.6.1898 wurde es in die Zeichenrolle des Reichspatentamtes eingetragen. Der Name des Produktes: Heroin. Heroin, ursprünglich also nur ein Warenzeichen für das Arzneimittel Diacetylmorphin (oder: Diamorphin), ist zu einem allgemein gebräuchlichen Begriff geworden, der sich ebenso eingebürgert hat wie etwa der Name Aspirin für das Produkt Acetylsalicylsäure. Man könnte sich heute auch eine andere Bezeichnung für die Substanz ausdenken, denn das Warenzeichen ist seit 1950 erloschen. (3)

heroin
Braunes und weißes Heroin aus Asien

Morphin und Heroin unterscheiden sich pharmakologisch nur geringfügig: Die euphorische, das heißt die spezifische Wirkung des Heroins ist der plötzlichen Besetzung bestimmter Rezeptoren im Gehirn geschuldet, die schmerzstillende ist die des Morphins, in das Heroin in kurzer Zeit im Körper umgewandelt wird. Der Phantasiename «Heroin» trifft aber die zweischneidigen Folgen des Konsums besser als «Morphin»: Es handelt sich nicht nur um eine Reise ins Reich der Träume. Michael de Ridder zitiert in seiner bemerkenswerten Dissertation über «Heroin – die Geschichte einer pharmazeutischen Spezialität» eine Definition der «heroischen Mittel», ein Ausdruck für besonders stark wirkende Medikamente schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Diese seien Substanzen, «die tief, unmittelbar und gewaltsam ins individuelle Leben eingreifen, die Fundamentalsysteme des Organismus heftig umstimmen und meist einen zweifelhaften Effekt haben, bei deren Anwendung augenscheinlich Gefahr ist, zu deren Gebrauch man sich nicht ohne herrische Kühnheit entschließen kann». Das sei, so de Ridder, «nicht unbedingt eine therapeutische Empfehlung». Die Namensgeber scheinen sich dieser Assoziation bewusst gewesen zu sein.

Die Bayer AG behauptete noch 1983, die These eines amerikanischen Senators, der Konzern habe Heroin an Werksangehörigen ausprobiert, sei falsch. Diese Behauptung der Firma ist eindeutig widerlegt: Schon vor 1898, bevor die erste Erprobung außerhalb des Unternehmensgeländes stattfand, habe Dreser Menschenversuche durchgeführt, schreibt de Ridder nach Durchsicht bisher unveröffentlichter Akten und Archivmaterialien. Vorher hatten Dreser und der Werksarzt Floret Heroin am eigenen Leibe ausprobiert. Zwischen März und August 1898 experimentierte Floret in der Poliklinik der Farbenfabriken «am lebenden Modell». Floret hielt Heroin für «ein außerordentlich brauchbares, prompt und zuverlässig wirkendes Mittel zur Bekämpfung des Hustens und des Hustenreizes sowie der Brustschmerzen in erster Linie bei Entzündungen, besonders bei der katarrhallischen, der oberen und unteren Luftwege.. . » Auch bei der Behandlung von Asthma und Tuberkulose sei Heroin erfolgreich gewesen.

heroin

Heroin wird nach der Zulassung zunächst als Pulver, dann als wasserlösliches Heroinum hydrochloricum, später auch als Zäpfchen, Mixtur, Pulver, Trank, nach 1921 in Tablettenform verkauft, ja es sind sogar heroingetränkte Tampons auf dem Markt. Nach Italien, Spanien und Portugal wird Heroin in Form von Sirup exportiert. Um die Jahrhundertwende war die Einzeldosis 0,005 mg für Erwachsene, die Hälfte für Kinder.

Im Sommer 1899 zieht die Unternehmensleitung Bilanz. In der Chefetage debattiert man über Heroin. Einer der anwesenden Herren schlägt vor, die Fälle, «in denen außerordentlich große Dosen Heroin aus Versehen gereicht wurden» und bei denen die Patienten trotzdem nicht gestorben seien, sollten zu «einem schönen Artikel» verarbeitet werden. Man dürfe nicht dulden, sagt der gute Mann, dass in der Öffentlichkeit behauptet würde, Bayer habe Präparate verkauft, «die nicht sorgfältig probirt sind». Ein Dr. Goldmann aus Berlin berichtet, dass «die Stimmung in unserem Bezirk keine besonders günstige» sei. Es sei ihm aber gelungen, das Krankenhaus Friedrichshain für Heroin zu interessieren. Bayer-Direktor König ist zufrieden. Zwar würde das Produkt wohl kaum ein Verkaufsschlager, immerhin sei es aber «eine schöne Bereicherung unseres Schatzes und auch eine Bereicherung unserer Reputation».

heroin

Eine weitere Konferenz findet im November statt. Heroin habe «ja viele Angriffe erfahren», meint einer der Anwesenden, «und wir haben uns auch bemüht, nach Möglichkeit kräftig den Angriffen entgegenzuwirken. Wir haben leider den Kardinalfehler begangen, daß wir das Produkt zu billig herausgegeben haben.» Ein Herr Engelcke sagt, in einigen Lehrbüchern würde vor Heroin gewarnt, dass man es nur mit Vorsicht anwenden dürfe. «Wir sollten daher versuchen, diese Herren zu beeinflussen, damit unsere Produkte eine andere Beurteilung finden, dies würde auch zur Erhöhung des Konsums beitragen.»

Tatkräftig, wie Unternehmer nun mal sind, werden die Anregungen in die Praxis umgesetzt. Es erscheinen Sonderdrucke, die Arztpraxen werden mit Warenmustern überschwemmt, Artikel in Fachzeitschriften platziert. Die Kampagne hat Erfolg. Schon bald wird Heroin in über zwanzig Länder exportiert. 1902 macht der Gewinn aus der Diacetylmorphin-Produktion ca. fünf Prozent des Gesamtgewinns bei pharmazeutischen Produkten aus. Eine Rekordmenge produziert der Konzern im Jahr 1913: eine knappe Tonne reinen Heroins. Auf dem Schwarzen Markt wäre diese Heroinmenge heute mindestens 70 Millionen DM wert. Im Jahr 1926, als die Heroin-Produktion in den USA schon verboten war und die ersten internationalen Kampagnen gegen Opiate anliefen, produzierte das Deutsche Reich insgesamt 1,8 Tonnen, die Schweiz 3,9 Tonnen Heroin.

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(1) Vgl. Michael de Ridder: Heroin: Vom Arzneimittel zur Droge. Das Buch gab es damals noch nicht. Ich habe während der Recherche de Ritter interviewt und durfte auch seine Dissertation über Heroin („Heroin: die Geschichte einer pharmazeutischen Spezialität“, 1990), auf der das Buch basiert, per Microfiche einsehen.

(2) Die gebräuchliche Dosis dieses berühmten Schmerz- und fiebersenkenden Mittels liegt bei weniger als einem Gramm. Ca. 30 Gramm sind tödlich. Aber noch nie hat jemand Aspirin als gefährliche Droge bezeichnet.

(3) Wort-Bildmarke „Heroin“ vom 18. Mai 1898 mit Eintragung am 27. Juni 1898 in das „Waarenverzeichniß“ unter der Nr. 31650 (altes Aktenz. F 2456) für die „Actiengesellschaft Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co., Elberfeld.“ Veröffentlicht im „Waarenzeichenblatt“, herausgegeben vom kaiserlichen Patentamt, im Juli 1898, V. Jahrgang, Heft 7 auf Seite 506.

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Vendedor ambulante

vendedor

Straßenhändler in Caracas (1998). Das „ambulante“ stimmt nicht, weil jemand, der einen festen Stand hat, schon zur Elite der kleinen Kleinbourgeoisie gehört – im Gegensatz zu denen, die nur mit einem Bauchladen herumlaufen.

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Segnend über Katzen

cats

Es gelang mir damals nicht, trotz allen Bemühens (Genitiv!), meine Kater weltanschaulich zu beeinflussen. Immerhin hielt der große Führer trotzdem seine segnenden Hände über sie. Aufgenommen 1977 in meiner Wohnung am Willmanndamm in Berlin-Schöneberg.

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Der Stoff, aus dem die Träume sind

(aus meinem Buch Heroin – Sucht ohne Ausweg?“ (1993)

Das «Rauschgift» Opium in der Apotheke? Damit gab es im 19. Jahrhundert keine Probleme. Niemand wußte jedoch, welche Substanz des Mohnsaftes die eigentliche Wirkung ausmachte. Das hatte manchmal fatale Folgen, denn eine exakte Dosierung war unmöglich, das Medikament konnte tödlich wirken.

opiumtinktur - laudanum

Heute ist die Situation ähnlich, aber aus völlig anderen Gründen. In jeder Apotheke steht eine Flasche Opiumtinktur herum. Aber kaum ein Arzt traut sich, das Präparat zu verschreiben. Die Mediziner könnten sich informieren, tun es aber in der Regel nicht – aus Angst vor den strengen Auflagen des Betäubungsmittelgesetzes. Während in England ausführliche Forschungen zur pharmakologischen Wirkung der Opiate vorliegen, sind die deutschen Ärzte meistens schon bei simplen Fragen zum Thema völlig überfordert.

Dementsprechend «sachkundig» verlaufen auch die öffentlichen Diskussionen über Drogen, von der Kompetenz der Politiker und «Drogenbeauftragten» ganz zu schweigen. Dabei hat die Beschäftigung mit Papaver somniferum gerade hierzulande eine lange Tradition: Morphium und Heroin sind Erfindungen deutscher Apotheker und Firmen.
Natürlich wußte man im 19. Jahrhundert aus Erfahrung, daß Opium nicht nur alle möglichen Krankheiten kuriert, sondern daß man sich damit auch umbringen kann.

In Hessen war, schreibt Hans-Georg Behr, die «Frankfurter Hauptpille» auf dem Markt, ein Gemisch aus Opium und Zucker. Opiumhaltige Medikamente wie «Dr. Zohrers Kinderglück» und «Aachener Schlafhonig» wurden auch Babys zur Beruhigung und zum besseren Schlaf verordnet. Einige der kranken Kinder wachten jedoch nach der Einnahme des «Kinderglücks» nicht mehr auf. Der Arzt Dr. Heinrich Hoffmann sah sich angesichts der Todesfälle veranlaßt, nach einem unschädlicheren Ersatzpräparat zu suchen. Die von ihm entwickelten «Hoffmannstropfen» enthielten aber immer noch fünf Prozent Opium.

In England hieß das beliebteste einschlägige Mittel «Godfrey’s Cordial». «Die erste Untersuchung von Opiatvergiftungen an Kindern wurde 1843 in einer kleinen Stadt in Lancashire vorgenommen», schreibt Hans-Georg Behr. «Von knapp 2500 Familien kauften mehr als 1600 regelmäßig Godfrey’s Cordial. Die Kindersterblichkeit lag über 60 Prozent, und ein abruptes Absetzen der Droge überlebte nur jedes sechste Kind.»

Verschiedene Forscher experimentierten daher mit der Rohsubstanz Opium, um dessen unerwünschten Elemente zu beseitigen, die, wie vermutet wurde, zu den Nebenwirkungen führten. Das chemische Element Stickstoff, dessen Verbindungen – die Alkaloide – in Pflanzen vorkommen und das des Rätsels Lösung gewesen wäre, war noch nicht bekannt.

hoffmannstropfen

Im Jahr 1805 bekam eine Leipziger Zeitschrift, das Trommsdorffer «Journal der Pharmacie», merkwürdige Post. Der Paderborner Apotheker Friedrich Wilhelm Sertürner bot einen Artikel an, in dem er behauptete, er habe das «schlafmachende Prinzip des Opiums» entdeckt. Die Herausgeber des «Journals» überflogen den Bericht, schüttelten bedenklich ihre Köpfe, überdachten die Reputation ihres Blattes und lehnten dann Sertür-ners Ausführungen ab, da sie unseriös seien. Der Apotheker ließ nicht locker. Er schrieb einen Leserbrief, in dem er seine Experimente schilderte. Der wurde gedruckt, aber niemand beachtete ihn.

Dabei war der zwanzigjährige Pharmakologe auf dem besten Weg, der berühmteste Sohn der Stadt Paderborn zu werden, bekannter noch als der zu seiner Zeit in der Domstadt residierende Bischof. Sertürners Versuchsanordnung: Man laugt Opium mit destilliertem Wasser aus, bis alle Farbstoffe ausgeschieden sind. Die eingedampfte Lösung wird, wieder mit Wasser, verdünnt, dann mit Ammoniak übersättigt. Flüssiges Ammoniak war schon damals als gutes Lösungsmittel bekannt. Bei diesem Prozeß entsteht eine Substanz, die noch in vielen Hausapotheken als Salmiakgeist zu finden ist.

Spannend wurde es, als sich – als Resultat des Experiments kleine Kristalle bildeten, die irgend etwas mit der Wirkung des Opiums zu tun haben mußten. Sertürner verfütterte sie an einen bedauernswerten Hund, der zufällig an seiner Tür herumschnüffelte. «Nach Zufuhr des Stoffes stellten sich alsbald Schlaf und später Erbrechen ein. Bei erneuter Aufnahme wurde alles erbrochen; doch die Neigung zum Schlafe hielt mehrere Stunden an.» Somit war klar: Wenn die Kristalle die gleichen Symptome wie Opium hervorrufen, sind sie die eigentliche Grundsubstanz. Ein zweiter Tierversuch endete sogar tödlich, das Tier «taumelt schlafsüchtig und stirbt schließlich».

Sertürner, bewandert in griechischer Mythologie, nennt den von ihm entdeckten Stoff nach Morpheus, dem Gott der Träume, Morphium. Neugierig, wie er ist, probiert er ihn selbst aus, zusammen mit drei jugendlichen Freunden. Zunächst beobachtet er Übelkeit und einen betäubenden Schmerz im Kopf, dann, nachdem die Versuchspersonen die Dosis erhöhen – sie nehmen das Pulver zusammen mit Wasser und Alkohol ein -, «Ermattung und starke an Ohnmacht gränzende Betäubung». Sertürner glaubt an eine Vergiftung, schreibt er 1817 in den «Annalen der Physik», die in ihm eine «solche Besorgniß» auslöst, daß «ich halb bewußtlos über eine Viertelbouteille starken Essig zu mir nahm, und auch die übrigen dies thun ließ. Hiernach erfolgte ein so heftiges Erbrechen, daß einige Stunden darauf einer von äußerst zarter Constitution, dessen Magen bereits ausgeleert war, sich fortdauernd in einem höchst schmerzhaften, sehr bedenklichen Würgen befand».

1817 wird das Morphin in ein Arzneibuch eingetragen. Erst nach einer Würdigung durch den französischen Physiker Louis-Joseph Gay-Lussac erringt der junge Apotheker Anerkennung, die sich aber in Deutschland in Grenzen hält. Der neue Forschungszweig, zu dem er die Tür weit aufgestoßen hat – die Alkaloidchemie -, zeigt erst viel später seine Früchte.

sertürner

1826 beginnt der Apotheker Emanuel Merck im Laboratorium der Engel-Apotheke in Darmstadt mit der kommerziellen Herstellung des Morphiums als Schmerz- und Schlafmittel. Es ist bekannt, daß Morphin euphorisierend wirkt. Die Mediziner und Forscher diskutieren aber mehr darüber, wie sich die Nebenwirkung der oralen Einnahme – der obligatorische Brechreiz – vermeiden läßt. Man sucht eine Möglichkeit, den Weg durch den Magen zu umgehen.

Morphium wird, um eine Überdosierung zu vermeiden, auch als Salbe oder Öl verschrieben. Damit das Medikament schneller und intensiver wirken kann, empfehlen einige Mediziner das Katharindenpflaster, das eine Hautblase erzeugt. Die schützende Haut ist somit «ausgetrickst»: Auf die verdünnte Stelle, die Blase, kann die morphiumhaltige Salbe oder das Puder aufgetragen werden.

Die «hypodermatische Inokulation» kommt dem Spritzen schon ein wenig näher: Mit einer Nadel schiebt der Arzt kleine Mengen des Medikaments unter die Haut. Als Charles Gabriel Pravaz 1853 die Injektionsspritze erfindet – sein Kollege Alexander Wood hat zwei Jahre später die gleiche Idee -, nimmt die Sache ihren Lauf. Ein Badearzt in Schlangenbad spritzt einer Frau, die an «hysterischen Krämpfen» leidet, Morphium unter die Bauchdecke – mit dem Erfolg, daß ihre Beschwerden schlagartig verschwinden.

pravaz-spritze

Das spricht sich herum. In wenigen Jahrzehnten entwickelt sich Morphium – heute: Morphin – zum Heilmittel für alles und jedes: gegen Husten und Schmerzen, gegen Schnupfen, Krämpfe und Augenleiden. Wer sich nur glücklich fühlt, gilt als geheilt. Im Krimkrieg, in den Kriegen zwischen Preußen und Dänemark bzw. Österreich, im deutsch-französischen Krieg, im amerikanischen Bürgerkrieg: Überall wird Morphin gespritzt, was das Zeug hält.

Nur gibt es eine neue, ebenfalls unerwünschte Wirkung des Wundermittels: Wenn man es dem Patienten plötzlich vorenthält, läuft er Amok oder verfällt in tiefe Depressionen – was die Kampfmoral nicht gerade hebt. Militärärzte nennen die Symptome des Morphin-Entzuges die «Armee-» oder «Soldatenkrankheit».

Wer oder was an den Problemen der Morphin-Konsumenten schuld ist, bleibt unklar. Patienten, die an eine bestimmte Dosis gewöhnt sind, neigen zur Selbstmedikation und – das wird beobachtet – zur Dosissteigerung. Ärzte konstatieren eine «Zerrüttung des Nervensystems» – obwohl niemand genau weiß, inwieweit «die Nerven» von Morphin in Mitleidenschaft gezogen werden – und «schwere psychische Störungen» – Ursache oder Folge des vermehrten Konsums oder nur des zeitweiligen Absetzens? Auch das ist nicht erforscht. 1874 erklärt der erste Arzt den überhöhten
Morphingebrauch zur Krankheit sui generis.

Schon 1856 vermutet die Polizei, die staatliche Ordnung im allgemeinen und besonderen sei durch den Drogenmissbrauch in Gefahr. Der Polizeipräsident von Berlin erläßt eine Verfügung, daß Ärzte Morphium nur wiederholt abgeben dürften, wenn darüber ein schriftlicher Vermerk angefertigt würde. Von «Drogensucht» ist aber noch nicht die Rede.

Der Berliner Arzt Eduard Levinstein ist der erste, der die Begriffe «Sucht» und Morphium verklammert. In einer 1880 erschienenen Monographie unterscheidet er zwischen dem «Morphinismus», der eine Vergiftung sei, und der «Morphinsucht». Er versteht darunter die «Leidenschaft des Individuums, sich des Morphiums als Erregungs- oder Genußmittels zu bedienen, da dasselbe unvermögend ist, von dem Mittel ohne Nachtheil für das subjektive Wohlbefinden zu lassen, und den Krankheitszustand, der sich durch die mißbräuchliche Anwendung des Mittels herausbildet». Männer seien für die «Sucht» anfälliger, da sie im Berufsleben höheren Anforderungen genügen müßten. Morphinsüchtig seien fast ausschließlich Ärzte und Offiziere.

Bereits fünf Jahre zuvor hatte Levinstein über die Morphiumbegeisterung gewisser Kreise berichtet. In der «Berliner Klinischen Wochenschrift» vom 29.11.1875 heißt es dazu: «Aus der ersten Sitzung der inneren Medizin erfahren wir, daß das so alt bewährte Mittel, die Sorgen des Daseins in die Freuden elyseischer Träume zu verwandeln, bei uns von einer Mode bedroht zu werden anfängt, die diesmal nicht von Westen, sondern ausnahmsweise einmal von Osten ihren Einzug hält. Bisher schien es ein erprobtes Vorrecht des Muselmannes zu sein, sich mit Hilfe des Opiums hinüber zu schwingen in das Reich ungetrübter Genüsse. Glieder unserer gebildeten und höheren Stände, theilt uns Herr Sanitätsrath Dr. Levinstein mit, beginnen indes im Anschluß an den medicamentösen Genuß des Narcoticums ebenfalls des vom Koran verpönten Saftes der Rebe überdrüssig zu werden. Auch sie ziehen es vor, ihr Dasein mit Opium zu würzen, das sie zwar nicht wie der Türke mit gekrümmten Beinen dem Tschibuk entnehmen, aber ihrer höheren Kultur entsprechend gleich als reines Alkaloid sich mit oder ohne Zuhilfenahme der Pravazschen Spritze einflößen. Den antiquierten Alkoholrausch überlassen sie dem ‘gemeinen’ Mann, müssen aber mit ihm gewisse Folgen theilen, die dem Alhoholismus nicht ganz unähnlich sind, und von denen leider auch die Morphiumfreunde nicht verschont bleiben.»

levinstein morphinsucht

Die Zeitschrift bedient sich einer feinen Ironie, die zu wütenden Protesten aufgeregter Drogenpolitiker wegen «Verharmlosung» führen würde, übertrüge man die Aussagen auf heutige Verhältnisse: Die Heroin«freunde» wollen von der etablierten Saufkultur nichts wissen. Sie ziehen es vor, sich mit dem «alt bewährten» Opium zu berauschen. «Ihrer höheren Kultur entsprechend» essen oder rauchen sie es aber nicht – wie viele der «ausländischen Drogendealer» -, sondern injizieren sich das mit modernen chemischen Methoden hergestellte Derivat Heroin. Bedauerlicherweise» leiden auch sie, wie Alkoholiker, an unangenehmen Entzugssymptomen.

Morphin, so zeigt der Bericht Levinsteins, war – nicht als Medikament, sondern als Genussmittel – zunächst eine Modedroge der «besseren Kreise». Eine bestimmte Form des Gebrauchs, die Injektion, setzte die Konsumenten sozial von anderen. Drogenkonsumenten ab: Die intravenöse Applikation war ein Zeichen «höherer Kultur».

Heute gilt das Gegenteil: Wer Drogen spritzt, fällt unter die – abwertend verstandenen – Kategorien «Fixer» oder «Junkie» und muß mit den klischeehaften Vorverurteilungen wie «unzuverlässig», «heruntergekommen» und «kriminell» rechnen. Alkoholiker, die ihr Rauschmittel oral einnehmen und sogar in deutschen Parlamenten zu finden sind, gelten dagegen, solange sie nur ihren eigenen Körper ruinieren, als sozial unschädlich.

Alle Formen, die heute diskutiert werden, um Morphinabhängige zu behandeln, waren schon im vergangenen Jahrhundert bekannt. Ärzte schlugen den «kalten Entzug» vor, das abrupte Absetzen, was eine knappe Woche dauerte. Andere empfahlen, während des Entzugs Haschisch oder Marihuana zu rauchen. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud propagierte Kokain: «Freud selbst hatte Kokain seinem Freund Fleischl von Marxow verabreicht, der nach einer Daumenamputation morphinabhängig geworden war.» Beliebt war auch die Substitution durch Codein, die in den neunziger Jahren zum therapeutischen Standard gehörte.

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Salami, reloaded

salami

Mein Kater Salami, 1977, in meiner Wohnung am Willmanndamm in Berlin-Schöneberg.

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