Verrohte Mitte

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Die Mitte (Symbolbild)

Christian Baron verabschiedet sich vorläufig von den sozialen Medien mit einem großartigen Text. Auf Facebook schreibt er:

Was reg ich mich also auf? (…) Die Attacken durch eine diskursrelevante Minderheit „hochwohlgeborener“ und/oder materiell bestens versorgter Leute verfehlen leider trotzdem selten ihre beabsichtigte Wirkung. Es fällt schwer, das einzugestehen. Denn wie gern würde ich behaupten, mir wäre alles egal, weil ich doch so stark sei! Aber, nein, das bin ich nicht. Ich bin schwach. Vor allem bin ich ökonomisch verwundbarer als fast alle anderen, die im Diskurstheater eine Stimme haben. Der Ausschluss aus diesem Theater, der bei „falscher“ politischer Haltung und aufgrund des Prinzips der Kontaktschuld droht, träfe mich ultimativ. Es ist alarmierend, wie viele Menschen nicht mehr damit klarkommen, dass es nicht nur ihre eigene, sondern auch viele andere politische Meinungen gibt, die unter Umständen ebenso berechtigt und durchdacht sein können. Mich beängstigt auch, wie viele Leute aus meinem Umfeld hinter vorgehaltener Hand eingestehen, sich zu Themen wie Corona oder Ukraine-Krieg aus Furcht vor sozialen oder beruflichen Sanktionen nicht öffentlich äußern zu wollen. Dass Rechtsextreme auf Widerspruch mit Feindseligkeit reagieren, ist nicht neu. Bedenklich ist aber, dass dieser Hass immer öfter auch aus der „Mitte“ und von „Linken“ kommt. (…)

Ich würde gern sehen, dass jemand aus dieser Blase reicher Beamter auf Twitter einem Menschen mit Migrationsgeschichte „Pseudo-Rassismus-Takes“ vorwirft. Das wird besagte Professorin nie tun, denn darauf würde ein berechtigter Sturm der Kritik folgen. Verachtung gegen „die da unten“ bleibt unter deutschen Intellektuellen aller politischer Richtungen aber leider sozial erwünscht. Es dürfte auf der Welt kaum ein Land geben, in dem die gesellschaftliche Linke sich so wenig für die soziale Klassenfrage interessiert wie in Deutschland. Einige andere – interessanterweise auch hier fast nur solche, die ihre Schäfchen längst im Trockenen haben – rückten zuletzt alle Erstunterzeichner des „Manifests für Frieden“ (zu denen ich zähle) sowie die inzwischen beinahe 800.000 Mitunterzeichner öffentlich in die Nähe der Neuen Rechten und der „Querdenker“. Sie diffamierten die von ca. 30.000 Menschen besuchte Kundgebung „Aufstand für Frieden“ vom 25. Februar in Berlin als „rechtsoffen“. Diese Lüge ist ideologisch motiviert, denn sie zielt darauf, jeden zum Schweigen zu bringen, der die NATO-Propaganda genauso kritisch bewertet wie die russische.

Abenteuerlicher wurde es ansonsten nicht mehr, aber durchaus brutaler. Denn „Linke“, „Mittige“ und Rechte griffen nach meinen Zeitungstexten zu Krieg und Sozialer Frage zu Baseballschlägervokabeln wie „feige“, „armselig“, „erbärmlich“, „asozial“, „Pussy“, „Warmduscher“ und „Verlierer“. Manche wollten mir das Wahlrecht entziehen oder drohten mir körperliche Gewalt an. (…)

Von Rechtsaußen bis ins progressive Milieu hinein hat sich eine verrohte Mitte etabliert, die eine unversöhnliche Aggressivität gegen Andersdenkende mit vermeintlicher moralischer Überlegenheit rechtfertigt.

Als Marxist habe ich den Vorteil, dass mein Menschenbild sich nicht verschlechtern kann. Denn ich habe kein Menschenbild. Eine materialistische Weltanschauung geht nach meinem Verständnis davon aus, dass kein Mensch von Natur aus „gut“ oder „böse“ ist. Fast immer sind es die sozialen Umstände, die uns zu guten oder schlechten Wesen machen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.