Unter Selbstbetrügern oder: Was ich noch zu sagen hätte

dutschke vollmer
Demonstration gegen den Vietnamkrieg, 1968, vorn Rudi Dutschke, rechts neben dem Fotografen Antje Vollmer. Klaus Mehner/Bundesstiftung Aufarbeitung Nr. 70249790 (Rechte vorbehalten-freier Zugang)

Noch kurz zum Vermächtnis Antje Vollmers (danke, Harald!). Das interessiert natürlich niemanden, am allerwenigsten die kriegshetzenden Grüninnen, aber einige Details sollten diskutiert werden.

Es ist üblich geworden, zu Beginn jeder Erwähnung der ungeheuren Tragödie um den Ukraine-Krieg wie eine Schwurformel von der „Zeitenwende“, vom völkerrechtswidrigen brutalen Angriffskrieg Putins bei feststehender Alleinschuld der russischen Seite zu reden und demütig zu bekennen, wie sehr man sich geirrt habe im Vertrauen auf eine Phase der Entspannung und der Versöhnung mit Russland nach der großen Wende 1989/90. Diese Schwurformel wird wie ein Ritual eingefordert, wie ein Kotau, um überhaupt weiter mitreden zu dürfen. Die Feststellung ist ja auch nicht falsch, sie verdeckt aber häufig genau die zentralen Fragen, die es eigentlich zu klären gäbe.

Moment. „Zentrale Fragen“ hört sich gut an, im Gegensatz zu den oft erwähnten dezentralen Fragen. Ist nicht jeder Angriffskrieg „völkerrechtswidrig„? „Der Westen“ hält sich doch selbst nicht daran, vgl. die USA. Und gibt es auch Kriege, die nicht „brutal“ sind? Das ist wieder typisches moralinsaures und affirmatives Geschwurbel.

„Versöhnung“ zwischen Staaten? Mir ist schon klar, dass die neuen Mittelschichten, die das soziale Milieu der Partei „die Grünen“ prägen, die Klassenfrage gern ignorieren oder schlicht eskamotieren. Niemand hat sich mir irgendjemandem versöhnt, als die pseudosozialistischen Staaten zusammenbrachen. „Entspannung“ ist eine Illusion – lassen wir dazu ausnahmsweise den Genossen Trotzki zu Wort kommen, der sich auf Lenin beruft:
Kampf um die Märkte und Raub fremder Länder, das Bestreben, die revolutionäre Bewegung des Proletariats und der Demokratie im Innern der Länder zu unterbinden, das Bestreben, die Proletarier aller Länder zu übertölpeln, zu entzweien und abzuschlachten, indem man im Interesse der Bourgeoisie die Lohnsklaven der einen Nation gegen die Lohnsklaven der anderen Nation hetzt – das ist der einzige reale Inhalt, die einzige reale Bedeutung des Krieges. (Puls und Atmung noch normal?)

Krieg ist ein Feature des Kapitalismus, nicht ein Bug. Die Frage ist natürlich, mit welchen Mitteln je ein Kapitalist viele totschlägt.

Die Unfähigkeit, nach so umfassenden Umbrüchen andere gleichberechtigte Lösungen zu suchen, hat in dieser fatalen Überheblichkeit ihre Hauptursache. Vor allem aber wurde so das ungeheure und einzigartige Verdienst der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow mit einer verblüffenden Ignoranz als gerngesehenes Geschenk der Geschichte eingeordnet: Die große Vorleistung des Gewaltverzichts in der Reaktion auf das Freiheitsbestreben der Völker des Ostblocks galt als nahezu selbstverständlich.

Über Gorbatschow kann ich nicht jubeln. Natürlich war auch er eine Charaktermaske, aber zusätztlich hat er sich übertölpeln lassen bei den Verhandlungen, ob und wie Deutschland wieder vereint werden sollte. Ich kann nicht einschätzen, ob er -aus ökonomischer Sicht – eine andere Optionen hatte als die Sowjetunion zusammenbrechen zu lassen.

Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und der Heldenmut von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Katrin Göring-Eckardt durchaus maßvoll war und den Grad überlebenstüchtiger Anpassung nicht wesentlich überschritt. Manche Selbstbeschreibungen lesen sich allerdings heute wie Hochstapelei. Sie verschweigen oder verkennen, was andere Kräfte zum großen Wandel beitrugen und dass mancher Reformer im System keineswegs weniger Einsatz und Mut gewagt hatte. (…) Fatal allerdings ist, dass dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zählt. Dies knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die vom berechtigten Antistalinismus über den verständlichen Antikommunismus bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von westlichen Feindbildern bis heute prägt.

Full ack, Genossin Vollmer.

In unseren Medien verkörpert die Ukraine das Ideal und Vorbild einer freiheitsliebenden westlichen Demokratie heroischen Zuschnitts. Die Ukraine, so heißt es, kämpfe nicht nur für ihre eigene Nation, sondern zugleich für die universale historische Mission des Westens.

Das sind nicht „meine“ Medien, sondern die Lautsprecher der Kapitals aus der Mittelklasse, die den Echoraum für die Interessen der Herrschenden abgeben. (Was bin ich heute wieder radikal!)

Neben diesem Hang zum Heroischen und zur Selbsterhöhung liegt hier die Wurzel, die ich für den Grundirrtum einer europäischen Identität halte: das scheinbar unausrottbare Bedürfnis nach nationalem Chauvinismus. Jahrhundertelang haben nationale Exzesse die Geschichte unseres Kontinents geprägt. Keine Nation war frei davon: nicht die Franzosen, schon gar nicht die Briten, nicht die Spanier, nicht die Polen, nicht die Ukrainer, nicht die Balten, nicht die Schweden, nicht die Russen, noch nicht einmal die Tschechen – und schon gar nicht die Deutschen.

Dagegen kann man nichts einwenden. Nationalismus ist aber ein Symptom, keine Ursache. Die Nation im Kapitalismus ist immer ein politisches Konstrukt, das ausgenutzt wird, um zu verdecken, was die „zentralen Fragen“ sind. Der ukrainische Nationalismus hatte schon immer Schnittstellen mit faschistischen Ideen. Deswegen ist Antje Vollmers Satz aktuell, wird aber von ihren heute bis auf die Knochen völkischen Parteigenossen nicht akzeptiert werden:
Es ist ein fataler Irrtum, zu meinen, durch den Widerstand gegen die anderen imperialen Mächte gewinne der eigene Nationalismus so etwas wie eine historische Unschuld. Das ist Selbstbetrug und einer der folgenschwersten europäischen Irrtümer.

Die Menschen irren sich gern und mehrfach, aber jedes Mal mit anderem Personal.

Wirtschaftlich und politisch zahlen wir dafür einen hohen Preis. Der deutsche Wirtschaftsminister bemüht sich, die alten Abhängigkeiten von Russland und China durch neue Abhängigkeiten zu Staaten zu ersetzen, die keineswegs als Musterdemokratien durchgehen können. Die Außenministerin ist die schrillste Trompete der neuen antagonistischen Nato-Strategie.

Nein, „wir“ zahlen keinen Preis. Die Kosten der verfehlten Politik werden auf die kleinen Leute umgelegt. Die herrschende Klasse zahlt nie oder nur sehr selten.

Wenn mich nicht alles täuscht, steht Europa kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die das eigene Selbstbild tief erschüttern wird. Für mich aber ist das ein Grund zur Hoffnung. Der so selbstgewisse Westen muss einfach lernen, dass die übrige Welt unser Selbstbild nicht teilt und uns nicht beistehen wird. Die eilig ausgesandten Sendboten einer neuen antichinesischen Allianz im anstehenden Kreuzzug gegen das Reich der Mitte scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein.(…) Wie konnten wir nur annehmen, dass das große China und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkürlichen Freihandels- und Opiumkriege je vergessen würden? (…) Meine Hoffnung besteht darin, dass sich aus all dem eine neue Blockfreienbewegung ergeben wird, die nach der Zeit der vielen Völkerrechtsbrüche wieder am alleinigen Recht der UNO arbeiten wird, dem Frieden und dem Überleben des ganzen Planeten zu dienen.

Nein, das wird nicht passieren, weil es keine „Blöcke“ mehr gibt und auch keine konkurrierenden Systeme (China lassen wir weg, die Fragen nach dem Systemcharakter ist auf burks.de noch ungeklärt). Frieden und Kapitalismus ging noch nie zusammen – das werden die Grüninnen nie begreifen und das musste mal gesagt werden, weil mir danach ist.