Spezielle Spezialoperation oder: The end game remains the same [Update]

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Allmählich lichtet sich der propagandistische Nebel, und man kann erkennen, was da in der Ukraine vor sich geht. Die russische Armee zieht sich in Windeseile – um nicht zu sagen panisch – aus dem Oblast Charkow zurück. Offenbar hat man eingesehen, dass es angesichts der massiven Offensive der Ukraine nicht sinnvoll ist, Gebiete halten zu wollen, die ohnehin verloren gehen würden. Das kann aber jetzt lange Zeit hin und her gehen. Einige russische Stimmen fordern natürlich jetzt, nicht zum ersten Mal, eine Kriegserklärung und Mobilmachung.

Die westliche Propaganda hatte Putin bekanntlich schon todkrank dahinsiechend gesehen. Die neueste Version: Sein Rücktritt wird gefordert.
„We believe that the decision made by President Putin to start the special military operation is detrimental to the security of Russia and its citizens,“ the Smolninsky document filed on Wednesday evening said.

Das wird natürlich folgenlos bleiben. Interessant ist aber, wie das Leute wie Scott Ritter sehen, die zwar auch bedingungslos pro-russisch argumentieren, aber immerhin auch Zwischentöne zulassen: „I am thousands of miles removed from the battlefield and am in receipt of incomplete and often contradictory pieces of information. Any effort to try and paint a complete picture of this battlefield would be, in my case at least, a fool’s errand.“ Scott sieht bisher drei Phasen des Krieges (ich habe das zusammengefasst und gekürzt):

1. Phase: In der ersten Phase wollten die Russen so viel Territorium wie möglich erobern. Dafür boten sie etwa 200.000 Soldaten auf. Die Ukraine konnte etwa 260.000 Soldaten aufbieten, die von bis zu 600.000 Reservisten unterstützt wurde. Das standardmäßige Angreifer-Verteidiger-Verhältnis von 3:1 wurde außer Kraft gesetzt: Die Russen versuchten, den zahlenmäßigen Vorteil der Ukraine durch Schnelligkeit in den Überraschungseffekt zu kompensieren. Sie hofften auf einen schnellen politischen Zusammenbruch der Ukraine, der einen längeren Krieg verhindert hätte.

Dieser Plan war zum Beispiel im Süden der Ukraine erfolgreich. Er band ukrainische Truppen an Ort und Stelle und vereitelte, dass die Ukraine dorthin Verstärkungen schicken konnte. Der Plan scheiterte aber strategisch – die Ukraine brach nicht zusammen.

2. Phase: Die Russen gruppierten sich in der zweiten Phase um und konzentrierten sich darauf, die Donbass-Region zu erobern. Russland nutzte seine überlegene Feuerkraft, um langsamen und gezielt gegen die Ukrainer vorzurücken. … in doing so, achieving unheard of casualty ratios that had ten or more Ukrainians being killed or wounded for every Russian casualty. (Woher will er das wissen?)

Während Russland langsam gegen die eingegrabenen ukrainische Streitkräfte vorrückte, versorgten die USA und die NATO die Ukraine mit Milliarden von Dollar an militärischer Ausrüstung für mehrere gepanzerte Divisionen (Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie usw.) mit umfassender operativer Ausbildung an dieser Ausrüstung in militärischen Einrichtungen außerhalb der Ukraine. Während Russland damit beschäftigt war, das ukrainische Militär auf dem Schlachtfeld zu bekämpfen, war die Ukraine damit beschäftigt, diese Armee wieder aufzubauen und zerstörte Einheiten zu ersetzen.

Jetzt sah sich Russland neuen Einheiten gegenüber, die extrem gut ausgerüstet, gut ausgebildet und gut geführt waren und die von Streitkräften unterstützt wurden, die die NATO ausgbildet hatte. Aber der Großteil dieser Einheiten wurde noch in Reserve gehalten.

3. Phase

Die derzeitige ukrainische Gegenoffensive verlängert nicht die zweite Phase, sondern ist der Beginn einer dritten Phase: Kein ukrainisch-russischer Konflikt mehr, sondern ein NATO-Russland-Konflikt.
Der ukrainische Schlachtplan trägt überall den Stempel „Made in Brussels“. Die Zusammensetzung der Streitkräfte wurde von der NATO bestimmt, ebenso wie der Zeitpunkt der Angriffe und die Richtung der Angriffe. Der NATO-Geheimdienst lokalisierte sorgfältig Schwachstellen in der russischen Verteidigung und identifizierte kritische Kommando- und Kontroll-, Logistik- und Reservekonzentrationsknoten, die von ukrainischer Artillerie angegriffen wurden.

Die Taktik der Ukraine scheint völlig neu zu sein. Sondierungsangriffe werden gestartet, um die Russen zu zwingen, ihre Verteidigungsfeuer offenzulegen, die dann durch ukrainische Gegenbatteriefeuer unterdrückt werden, die von Drohnen und/oder Gegenbatterieradaren gelenkt werden. Dann rücken hochmobile ukrainische Streitkräfte schnell durch identifizierte Schwachstellen in der russischen Verteidigung vor und dringen tief in weitgehend ungeschütztes Gebiet ein. Diese Hauptkolonnen werden durch Überfälle unterstützt, die von auf Fahrzeugen montierten Truppen durchgeführt werden, die russische Stellungen im hinteren Bereich angreifen und jede russische Reaktion stören. Die ukrainische Armee, der Russland in Cherson und um Charkow gegenübersteht, ist anders als alle ukrainischen Gegner, denen es zuvor gegenüberstand. Vorteil: Ukraine.

Das Potenzial für eine ukrainische Gegenoffensive ist seit einiger Zeit bekannt. Zu glauben, dass Russland völlig überrumpelt wurde, ist jedoch falsch. Aber die Realität schränkt die operativen Optionen ein: Russland hat sich auf 200.000 Mann beschränkt. Auf einem so großen Schlachtfeld wie der Ukraine ist das nicht genug.

Vielleicht hat Russland das Potenzial für einen konzertierten ukrainischen Gegenangriff geahnt, war aber von der Kombination neuer Faktoren überrascht. Die Geschwindigkeit des ukrainischen Vormarsches war unerwartet, ebenso wie die von der Ukraine angewandte Taktik. Das Ausmaß an operativer Planungsunterstützung und Geheimdienstinformationen, die die NATO zur Unterstützung dieses Gegenangriffs bereitstellte, schien die Russen ebenfalls überrascht zu haben. Aber die russische Armee, so Scott, sei extrem anpassungsfähig.

Jetzt sieht es so aus, als hätte die Ukraine ihre sorgfältig zusammengestellten Reserven erschöpft, bevor der Großteil der russischen Reaktion eingreift. Die Offensive von Cherson scheint ins Stocken geraten zu sein. Ob beabsichtigt oder versehentlich – die Offensive von Charkow entwickelt sich zu einer Falle für die engagierten ukrainischen Streitkräfte, die in Gefahr sind, abgeschnitten zu werden. Diese Gegenoffensive wird in einer strategischen ukrainischen Niederlage enden. Russland wird die Front in ihre ursprünglichen Positionen verschieben und in der Lage sein, die offensiven Operationen wieder aufzunehmen. Die Ukrainer werden derweil ihre Reserven verbraucht haben, was ihre Fähigkeit einschränkt, auf einen neuen russischen Vormarsch zu reagieren.

Das bedeutet nicht, dass der Krieg vorbei ist. Die Ukraine erhält weiterhin militärische Hilfe in Milliardenhöhe und verfügt derzeit über Zehntausende von Soldaten, die sich einer umfassenden Ausbildung in NATO-Staaten unterziehen. Es wird eine vierte Phase und eine fünfte Phase geben … so viele Phasen wie nötig, bevor die Ukraine entweder ihren Kampf- und Sterbewillen erschöpft oder die NATO ihre Fähigkeit zur weiteren Versorgung des ukrainischen Militärs verloren hat. Ich habe bereits im April gesagt, dass die Entscheidung der USA, Milliarden von Dollar an militärischer Hilfe bereitzustellen, ein „Game Changer“ war.

Dieses Geld hat das „Spiel“ verändert. Das Ergebnis sind mehr tote ukrainische und russische Streitkräfte, mehr tote Zivilisten und mehr zerstörte Ausrüstung. Aber das Endspiel bleibt dasselbe – Russland wird gewinnen.

[Update] Paul Mason: „Kharkiv counterattack— a political assessment“ – „It signals a third phase of the war.“

Modern Russian doctrine, however, lacks one element that even the bastardised Marxism of the late Soviet Union still contained: an accurate appraisal of the socio-economic and ideological conditions of your own side and of the enemy. Haha. Schön gesagt.

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