Exzerpt: Germanische Gefolgschaft

trajanssäule
Römer kämpfen gegen Germanen, Detail der Trajanssäule

Nur kurz zwischendurch zur Frage „Urgesellschaft“ oder frühe Klassengesellschaft?

„Was sollen wir von einem historischen Begriff halten, der eine Großgruppe entweder voraussetzt oder konstituiert, die es wohl nie gegeben hat, die sich selbst jedenfalls nie als solche empfand und dementsprechend sich auch niemals so bezeichnete? Wie sollen wir mit einem Begriff umgehen, den vor mehr als zweitausend Jahren Caesar als Konstrukt wenn schon nicht erfunden, so dann zumindest populär und für seine politischen Ziele dienstbar gemacht hat? Einem Begriff, der dann seit dem Beginn der Neuzeit zwei Dutzend Generationen von vornehmlich deutschen, von ihrer eigenen Gegenwart frustrierten Intellektuellen, Professoren und anderen Schulmeistern eine Goldgrundvergangenheit anbot, auf die sich das Kämpferische, Heldische, Starke, Große, Gute, Edle, Schöne und Reine so wunderbar projizieren ließ, das man in der eigenen Welt so schmerzlich vermisste? Und: Wie stellen wir uns zu einem Begriff, der als gebieterisches rassistisches Attribut mit dem Konzept des Herrenmenschen verbunden die massenhafte, industriell organisierte Ermordung nichtgermanischer sogenannter ‚Untermenschen‘ geistig vorbereiten und begleiten konnte?“ (J. Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung. In: W. Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters 8 (Wien 2004) 107-113)

„Unter Gefolgschaft sei hier also eine sich um einen Anführer scharende Kriegergemeinschaft verstanden, die ihre Gruppenzugehörigkeit durch Teilnahme an gemeinsamen, zumeist gewaltsamen, Aktionen immer aufs Neue unter Beweis stellt. Voraussetzung zur Zugehörigkeit sind spezifische körperliche Fähigkeiten, die Bereitschaft, sich der Sache des Anführers anzuschließen, keineswegs aber eine bestimmte ethnische Herkunft oder Abstammung. Die personale Bindung besteht letztlich auf Grundlage eines Systems des Austausches. Der Gefolgsmann erhält Beuteanteile und andere materielle Belohnungen. Der Gefolgschaftsführer hingegen darf auf loyale Unterstützung durch seine Krieger vertrauen.“ (Heiko Steuer)

„Gefolgschaften spielten in der Germania im Kontext kriegerischer Ereignisse eine offensichtlich bedeutende Rolle und waren ein konstituierendes Element der germanischen Gemeinschaften. Vorstellungen von einer festumrissenen Institution eines germanischen Gefolgschaftswesens, wie sie durch die Schilderung in der Germania des Tacitus suggeriert werden, haben sich als nicht haltbar erwiesen. „Die Gefolgschaft als soziale Institution mit eindeutig benennbaren Eigenschaften […| gab es nicht“, schreibt der Historiker Dieter Timpe; er weist darauf hin, dass „die Treue-Bindung |…] kein spezifisches Merkmal germanischer Gefolgschaften [ist] … Gemeinsam ist gefolgschaftlicher Organisation aber die ihrer Erfolgsabhängigkeit geschuldete Dynamik.“ „In diesem Sinne“, so schreibt Heiko Steuer, „hat es Gefolgschaften unter Heerkönigen zu allen Zeiten und bei allen vorund sogar frühstaatlichen Gesellschaften gegeben, worunter keltische und germanische keine Besonderheit oder Ausnahme bilden.“ Gefolgschaftliche Zusammenschlüsse individueller Ausprägung finden sich daher sowohl im Zuge von Wanderungsbewegungen als auch im Kontext von tribalen Auseinandersetzungen und Privatkriegen oder bei Einfällen in das Römische Reich. Die häufiger zu findende Bezeichnung der Anführer entsprechender Verbände als warlords erscheint problematisch, suggeriert sie doch aufgrund ihrer Prägung im Rahmen moderner, gewalttätig agierender Gruppierungen in instabilen Staaten das Bild hochdynamischer kultureller und gesellschaftlicher Prozesse mit deutlich greifbaren (Um-)Brüchen. Dies scheint jedoch für die Germania der Römischen Kaiserzeit nicht zuzutreffen. Archäologisch ist davon auszugehen, dass waffenführende Gräber wohl nicht selten Gefolgschaftskriegern zuzuordnen, auch wenn dies im Einzelnen nur schwer zu beweisen ist.“ (Germanen: Eine archäologische Bestandsaufnahme, S. 31)

„Der französische Ethnologe Pierre Clastres befasste sich Mitte der 1970er Jahre intensiv mit den sogenannten primitiven Gesellschaften, als deren wesentliches Kennzeichen er die geringe ökonomische und politische Differenzierung sah, die aus der Verhinderung von materiellen Überfluss und sozialer Ungleichheit resultiere, Auch wenn dieses aufgrund von Feldforschungen vor allem im südamerikanischen Raum gewonnene Bild sicher nicht unmittelbar auf die Gemeinschaften in der Germania zu übertragen ist, zeigt es doch einen möglichen Interpretationsweg der archäologischen Forschungen im von den Römer als Germania bezeichneten Raum rechts des Rheins und nördlich der Donau auf, die genannten Phänomene erklären könnte.“