Missing Link oder: Franziska und kleine Könige

Nibelungenlied
Das Nibelungenlied und die Klage (Leithandschrift A): „Wie die herren alle zen Hevnen [Hunnen] fvren“. Ein historischer Kern oder Anknüpfungspunkt der Sage ist die Zerschlagung des damals von Gundahar [by the way: interessante Vornamen für männliche Neugeborene!] beherrschten Burgunderreiches im Raum von Worms um 436 durch den römischen Konsul und Magister militum (Heermeister) Aëtius mit Hilfe hunnischer Hilfstruppen.

Ich sage nur: Audofleda, Amalasuntha, Dietrich von Bern, Childerich, Aegidius, Fredegar sowie der Liber Historiae Francorum (wer fließend Latein lesen kann). Habe ich jemanden vergessen? Eventuell Syagrius?

Dann holen wir tief Luft und beginnen mit dem Schlusskapitel von Thomas Fischers Gladius – Roms Legionen in Germanien:
Die Auflösung des weströmischen Reiches außerhalb Italiens war ein längerer Prozess: Weite Teile gerieten bereits gegen Ende des 5. ]h.s de facto unter die Herrschaft von Germanenstämmen, etwa den Vandalen, Franken, Burgundern und Westgoten. Sie alle waren in ein Machtvakuum vorgestoßen, das der Zerfall der römischen Zentralregierung hinterlassen hatte. Aber auch die Macht der neuen Herren war nıcht immer unangefochten: Ostgoten, Vandalen, Franken, Burgunder und Westgoten stellten in ihren Herrschaftsgebieten nur eine Minderheit dar, die über die große Anzahl von römischen Untertanen römisch-katholischen Bekenntnisses herrschte. Da aber die germanische Oberschicht zumeist nicht dem römisch-katholischen Glauben anhing, sondern der arianischen Glaubensrichtung, verschärfte dies die Spannungen zwischen Herrschern und Beherrschten. Nur im Frankenreich, das sich dann ım Verlauf der weiteren Entwicklung als Großmacht und Haupterbe des römischen Reiches im Westen* durchsetzen konnte, fand sich für dieses schwerwiegende Problem eine Lösung…

Minderheiten, die über Mehrheiten herrschen bzw. deren herrschende Klasse ersetzen, haben wir oft in der Geschichte, zum Beispiel die mongolische Yuan-Dynastie in China oder die Spanier in Lateinamerika. Es kömmt aber auf die Ökonomie an.

Mit Childerich haben wir ein erstes politisches Missing Link zwischen Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus: Ein fränkischer Warlord, also ein Germane, der sich (lateinisch!) Rex nannte und dessen Truppen als römischer Verbündete (foederati) in Gallien dienten. Die Historiker sind bei der Frage, was dieser Franke eigentlich exakt war, heillos zerstritten („ist aber nicht immer klar, ob Childerich als römischer Befehlshaber oder als fränkischer Anführer bzw. König agierte“). Childerich verwaltete in der Endphase des römischen Galliens die römischen Provinz Belgica Secunda aka Gallia Belgica, auch als militärischer Befehlshaber (dux).

siegelring childerichs
Fingerring bzw. Siegelring (anulus) des merowingischen, fränkischen Königs Childerich (Hilderich) – Beschriftung: (Sigillum) CHILDERICI REGIS. Childerich hat auf dem „Portrait“ einen geschorenen Bart und, wie bei fränkischen Königen üblich, langes Haar trug (rex crinitus).

Wir wiederholen:

Wir müssen hier ein berühmtes Zitat aus dem Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von Marx abklopfen, ob es mit der Realität übereinstimmt:
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.“
„Soziale Revolution“ meint offenbar nicht das Klischee, dass Männer in langen Wintermäntel und mit Gewehren Paläste stürmen, sondern dass die Eigentums- und Produktionsformen radikal umgewälzt werden. Insofern ist die „Spätantike“ durchaus eine solche Epoche. Sehr interessant ist, dass die aktuelle bürgerliche Forschung das ähnlich sieht und von einer Transformation spricht.
Joseph Tainter scheint der Marxschen These sogar sehr nahe zu kommen. Sein Hauptwerk Collapse of Complex Societies definiert diese „soziale Revolution“ als „Kollaps“: a rapid, significant loss of an established level of sociopolitical complexity, also genau das, war mit dem Römischen Weltreich geschah.

Liebe Kinder, als Hausarbeit lernt ihr bitte folgende fränkischen Namen auswendig: Childerich („Missing Link“), Chlodwig (der zum Christentum konvertierte, also das oben genannte angebliche „schwerwiegende Problem“ löste), Karl Martell (der islamfeindlich war – Frau Chebli, bitte übernehmen!). Überlegt euch ein, zwei Sätze dazu. Mehr muss man heute über die vier Jahrhunderte vor Karl dem Großen nicht wissen. Außerdem gibt es ohnehin kaum belastbare Quellen.

franziska
Fränkische Wurfaxt Franziska (Stiel neuzeitlich), 6. Jahrhundert, Grabfund 1935, Museum Grünstadt [Vorsicht! Bei der Website braucht man eine Sonnenbrille!]. Credits: Altera levatur / Wikipedia

Wir reden also, was die Ökonomie betrifft, über die fließende Grenze zwischen dem Kolonat der spätrömischen Antike und der frühfeudalen Villikation (ab dem 7. Jh.).

Wir haben hier eine Sythese zwischen der herrschenden Klasse der westgermanischen Kriegergruppen und deren Warlords und dem romanisierten Volk, das für diese arbeitete, nachdem die überregionale Verwaltung des weströmischen Reiches weggebrochen war. Ob die Goten, Vandalen, Burgunder, Franken, Langobarden oder Sachsen die neuen Herrscher gewesen wären, bleibt letzlich eine Frage des historischen Zufalls, wer wen in welcher Schlacht entscheidend massakrierte. Es hätte an der Ökonomie und deren langfristigen Entwicklungstendenzen nichts geändert.

* Im Süden waren die „Erben“ die Umayyaden, und im Osten natürlich das tausendjährige (!) byzantinische Reich. Aber diesen beiden „Erben“ bzw. deren Regionen gelang der Sprung zum Kapitalismus nicht so schnell wie in Nordwesteuropa.
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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)

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Kommentare

12 Kommentare zu “Missing Link oder: Franziska und kleine Könige”

  1. Godwin am Mai 28th, 2022 5:00 pm

    Wenn schon die Ökonomie als Motor behauptet werden soll, wäre mal etwas deutlicher darzustellen, an welchen Stellen welche Widersprüche auftreten.

    Ich erinnere an Bourdieu. Der stellte auch fest, dass seine Stämme zwar gegen die Kolonialisten kämpfte, aber gleichzeitig deren kapitalistische Produkttiobsweise übernahm.
    Das wäre aber ein sozialer Widerspruch.
    Daß die Kabylen sahen, dass man auch anderes leben kann und das besser fanden als ihre altbackener Kram – eher ein Lerneffekt.

    Sie Vikings Staffel 1
    Als die anfangen sich in England anzusiedeln bekommen sie neue Geräte geschenkt, weil die Engländer technische voraus waren

  2. ... der Trittbrettschreiber am Mai 28th, 2022 5:19 pm

    Sone piggelich wrängische Wurwaxt häddisch au gärn emol, grad heitzutdaach – den Rescht konnst in de Donne drredn.

    I hobs lieber mit meine Männlischgaid – ob des abbe JEVERstanne werde ko, des waisch i nedde…sodelaa.

  3. admin am Mai 28th, 2022 6:20 pm

    Godwin: Warum ist das ein Widerspruch? Die Germanen war ja ursprünglich auch nur auf Beute aus, die haben bestimmt nicht geplant, in Westeuropa „Reiche“ zu gründe.

  4. Godwin am Mai 28th, 2022 7:43 pm

    @Burks

    Ja das ist ja meine Frage
    Wo genau ist da der Widerspruch zwischen Produktivkräften uns Produktionsverhältnissen?
    Ich sehe den in deinen Erläuterungen noch nicht.

    Der Übergang zu ReichsGründern wäre auch so ein Kapitel… wieso wurde das auf einmal wichtig?

  5. ... der Trittbrettschreiber am Mai 29th, 2022 5:48 am

    @Godwin @admin

    Also ich habe da Mutmaßungen:

    Ein Leih-Brauereibesitzer ist meist auch Leih-Eigentümer seiner geleasten Fässer und Miet-Maischebottichen. Dazu kommen die nachhaltigen Rohstoffe, Bio-Hopfen, Karma-Malz und aus den Kläranlagen aufbereitetes Öko-Quellwasser. Alles zusammen brodelt synchron zu dem, was das eigentliche Produkt später ebenso durchlaufen muss – den alles richtenden Markt. Ist es heute noch für jeden Bierfan leicht zu haben, wird es morgen zum Elitegesöff der Schönen und Bleichen.
    Ein riesiges Tohuwabohu mit kaum zu durchschauenden Wirkungen auf andere Produkte, wie Bierhumpen, Kotzkübel und Antikater-Vorrichtungen. Die Produktivkräfte brodeln also spiegelverkehrt und im Widerspruch zum Eigentum des Brauenden innen und auch außen und erzeugen manigfaltige Phantasmagorien bei denen, die ihre Nase zu tief in die Würze stecken. Einhalt gebieten kann dem nur ein ehrlicher und sympathischer Trinker m/w/d/x, der sich einen Whisky darum schert, was das denn alles zu bedeuten haben mag – Hauptsache, und das sollte man wie eh und JEVERlautbaren lassen, der Nachschub stimmt. Und genau da liegt die Krux zwischen den Kräften und den Verhältnissen. Die Kräfte nehmen mit jedem Verhältnis exponentiell reziprok ab. Und die Moral von der Geschicht:
    Wenn du trinkst dann schäker nicht…hcks.

    Herr Ober: Bitte ein unverdünnt kräftiges Helles zum verhältnismaäßg günstigsten Preis – auf Deckel, wie üblich.

    https://www.youtube.com/watch?v=YbfSTZaH4wo

  6. Mitleser am Mai 29th, 2022 10:12 am

    So sehr beeindruckend solche umfangreichen Analysen auch daher kommen, so sehr wundert es mich, dass die stillschweigende Annahme, der Mensch würde ausschließlich oder zumindest zum allergrößten Anteil als „Homo oeconomicus“ agieren, unhinterfragt akzeptiert wird.
    Der Blick auf die Handlungen der Menschen im hier und jetzt, im Kleinen wie im Großen läßt mich an dieser „Rationalität“ sehr zweifeln – auch, wenn viele der Gedanken dieser Analysen sehr wertvoll sind.

  7. gottfried24 am Mai 29th, 2022 10:59 am

    Die Auflösung des weströmischen Reiches außerhalb Italiens war ein längerer Prozess:

    … und jetzt bitte etwas über die Auflösung der Bundesrepublik Deutschland in ein Kalifat …

    Ansonsten guter Text. Sollte in DIE WELT oder ZEIT erscheinen und nicht hier im blog.

  8. admin am Mai 29th, 2022 11:00 am

    So ist Ökonomie nicht gemeint, sondern: Diese setzt Grenzen, innerhalb deren der Mensch handelt.

  9. admin am Mai 29th, 2022 11:01 am

    Das würden die nie pubizieren.

  10. Juri Nello am Mai 29th, 2022 11:23 am

    Stimmt. Da hätte Burks schon eher einen Ratgeber schreiben müssen. So in der Art von: „Hilfe! Mein Schwanz ist zu lang. Was soll ich machen?“ oder „Mein Chef will keinen Sex mehr von mir. Was kann ich tun?“

  11. Wolf-Dieter Busch am Mai 29th, 2022 11:34 am

    Vorsicht! Bei der Website braucht man eine Sonnenbrille!

    Ja. Ein buntes Spiel von Primärfarben. Im Reiter „Linkliste“ ist zu lesen: Dies ist eine kostenlose Homepage erstellt mit hPage.com.

    Wie an anderer Stelle bemerkt: gutes Design kostet.

  12. Jim am Mai 30th, 2022 9:28 am

    @Juri
    „8 Dinge die du JETZT tun kannst, wenn dein Freund Marxist ist!“

    @gottfried
    Kalifat? Höre ich da ein Mimimi?

    @Godwin (1. Post)
    Der Fortschritt ist eben nicht aufzuhalten. Selbst Nordkorea wird irgendwann aufgeben, alles wandelt sich früher oder später.

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