Russische Märsche oder: Noch ein 1000-jähriges Reich

sussanin
Iwan Sussanin auf dem Nationaldenkmal Tausend Jahre Russland in Weliki Nowgorod

Ein Leben für den Zaren – habe ich nie gehört – allein schon der Titel schreckt ab. Vielleicht sollte man sich mit dem Plot der Oper befassen, um etwas darüber zu lernen, wie „der Russe“ so denkt. Ein Bauer, den den Zaren vor den pöhsen Polen rettet, von denen ermordet und damit zum nationalen Märtyrer wird – das wäre ungefähr so, als hätte Thomas Müntzer sein Leben für Georg den Bärtigen geopfert.

Die nationalen Mythen sagen immer viel aus über das Verhältnis der herrschenden Klassen und den Untertanen – oder darüber, wie jene es gern hätten. In Russland feiert man auch einen Tag der Einheit des Volkes, also reaktionären Kitsch, der die Klassenunterschiede leugnet und stattdessen ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Kapital und Arbeit erzeugen will, was der Realität im Kapitalismus widerspricht. Da wundert es nicht, dass die Teilnehmer und Organisatoren der Russischen Märsche (darunter früher auch der so genannte „Oppositionelle“ Nawalny, das Hätschelkind der westlichen Medien) gern die Mumie Lenins aus dem Kreml verbannt hätten. Vermutlich ist der ihnen zu kosmopolitisch und „unrussisch“, wie Rosa Luxemburg den Polen heute suspekt ist, weil sie den polnischen Nationalismus kritisierte.

Was im ideologischen Mainstream Russlands zur Zeit herumschwimmt, lässt einen fragen, ob es die Sowjetunion jemals gegeben hat und ob die noch alle Tassen im Schrank haben. Die sind ideologisch total verwahrlost, und man muss vermuten, dass bald, wie schon in Polen, die Lektüre von Marx nicht mehr möglich ist. Auf RT Deutsch lässt man einen Herrn zu Wort kommen, der das demonstriert: Valeri Korowin ist Direktor des Zentrums für Geopolitische Expertise, Leiter der Informations- und analytischen Abteilung der öffentlichen Nichtregierungsorganisation Internationale Eurasische Bewegung und ein Vize-Leiter der NGO selbst, Journalist, Publizist, Politologe und Philosoph, Experte im Zentrum für geopolitische Expertise des Expertenbeirats für Fragen der nationalen Sicherheit beim Vorsitzenden der Staatsduma der Russischen Föderation.

Har har. Allein schon das Herumgeschwurbel mit merkwürdigen Titeln macht einen misstrauisch. „Journalist, Publizist, Politologe und Philosoph, Experte“ – ja klar, bin ich auch alles. Dieser Korowin hat patriotische Ansichten, als hätten russische Versionen von NPD und MLPD fusioniert. (Chor skandiert dissonant im Hintergrund: Alain de Benoist! Carl Schmitt!)

Lauschen wir kurz hinein:
Taiwan ist für China das, was die Ukraine für Russland ist – und sowohl die Ukraine als auch Taiwan gingen aus geopolitischen Konfrontationen hervor, die vom Westen initiiert worden waren.

Die Ukraine ist ein Projekt des Westens mit dem von Anfang an gesetzten Ziel, ein Fragment von Großrussland abzutrennen. Mit anderen Worten: Die Ukraine ist ein politisches Projekt, das von der österreichisch-ungarischen Regierung in Auftrag gegeben und später von Deutschland und Polen mitgetragen worden war – und zwar mit dem Ziel, das Russische Reich zu schwächen und einen Teil seiner Gebiete zu entfremden. Ursprünglich hatte das Projekt auf dem Mythos beruht, dass im Südwesten des Russischen Reiches ein besonderes Volk lebe – und dass der Raum Südwestrusslands selbst nichts anderes als die Ukraine sei, die da die Unabhängigkeit von Russland erringen müsse, koste es, was es wolle. (…)

Aus geopolitischer Sicht ist die Ukraine ein wichtiger Teil des Großen Russlands, ohne den Russland nach den Worten des verstorbenen Zbigniew Brzeziński aufhört, eine eurasische Supermacht zu sein, und sich in ein asiatisches Regionalreich mit einer Reihe von Konflikten mit seinen Nachbarn verwandelt – wohingegen ein mit der Ukraine vereintes Russland automatisch ein Imperium werde.

O heilige Sch….! Wenn man sich ausmalt, auf welchem weltanschaulichen Pferd Putin gerade reitet, wenn er mit dieser völkischen Mischpoke anbandelt – es ist auf jedem Fall tiefbraun.

Bonus: Make Alaska russian again:
Ganz zu schweigen vom freien und unabhängigen Alaska, das seit hundert Jahren unter der Unterdrückung durch US-Kolonialisten leidet – und wo, inmitten des glitzernden Schnees und der Nordlichter, die russischen Iskander-Raketen sich besonders gut machen würden.

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Kommentare

11 Kommentare zu “Russische Märsche oder: Noch ein 1000-jähriges Reich”

  1. Wurstfachverkäufer am April 20th, 2022 1:40 pm

    Hier erfährt man einige Deutungen der russischen Seele und Mythen, auch Glinkas Oper wird eingeordnet:

    https://www.youtube.com/watch?v=kF9KretXqJw

    und Fortsetzung hier
    https://www.youtube.com/watch?v=ZqBzJMEJqZ8

    Der Mann hat bereits 2018 die heutigen Sportpalastreden der russischen Führung kommen sehen.

    Wer nicht so gerne finnisch mit deutschen Untertiteln schaut, kann hier ein verkürztes Transkript auf Englisch lesen (ist aber nicht so gut wie die deutsche Untertitel-Übersetzung):

    https://ricochet.com/1214468/finnish-intelligence-officer-explains-the-russian-mindset/

  2. Götz am April 20th, 2022 3:25 pm

    Beim Beobachten der derzeitigen Kurse von NATO-Fluggerät (> https://globe.adsbexchange.com/?icao=adff0c <) kam mir der polnische Ortsname Zamość unter.
    Wikipedia weiß über dortige Persönlichkeiten – Söhne und Töchter
    … Marek Grechuta (1945–2006), Sänger und Komponist und
    … Rosa Luxemburg (1871–1919), kommunistische Politikerin; die 1979 an ihrem Geburtshaus angebrachte Gedenktafel ließ der Lubliner Woiwode im März 2018 als „kommunistische Propaganda“ entfernen.[5]
    Der sie betreffende Link wäre interessant, aber:
    funztnich

  3. Albert Rech am April 20th, 2022 5:49 pm

    Ja, Putin bedient sich momentan noch des russischen Nationalismus.
    Aber das ist alles Teil des Plans.
    Nach dem Sieg über Ukraine, NATO und USA wird er die Gelegenheit nutzen und einen neuen demokratischen Sozialismus in dem Gebiet aufzubauen das unter der Kontrolle des russischen Staats steht.
    Einfach auf den Plan vertrauen, Putin weis was er tut.

  4. Corsin am April 20th, 2022 9:37 pm

    Nur kurz eine Kanalempfehlung, hier zum Thema russische Verluste:

    https://youtu.be/zbsC5zDVyfU?t=262

  5. Juri Nello am April 20th, 2022 10:32 pm

    Ob Putin sich da nur bedient oder ob er da bedient wird, wird erst noch die Zeit zeigen.

    Stepan „Stenka“ Timofejewitsch Rasin wird ja auch gern national gefeiert.

  6. Cpt Arrowhead am April 20th, 2022 11:08 pm

    der Unterschied ist das der Russe an sich noch nie einen systemnatischen Völkermord veranlasst hat um die „Zinsknechtschaft“ zu brechen

  7. DasKleineTeilchen am April 20th, 2022 11:58 pm

    @admin:

    „weil sie den polnischen Nationalismus kritisierte“

    kein link im link.

    *diese nachricht wurde nicht maschinell erstellt und kann nach eingang unter beachtung der üblichen sicherheitsmassnahmen gelöscht werden*

  8. DasKleineTeilchen am April 21st, 2022 12:13 am

    @Albert R.:

    oha. sie kennen „putins plan“? da wissen sie augenscheinlich mehr als der rest der welt. was dagegen uns en detail zu erleuchten?

  9. admin am April 21st, 2022 6:16 am

    @wurstfachverkäufer: Interessant, aber der finnische Herr bleibt ziemlich an der Oberfläche und erklärt nicht wirklich etwas. Also eine marxistische Klassenanalyse ist das nicht. :-) Und dann spricht er mir zu viel von einem „genetischen Erbe“ (die Russen haben die dunklen Augen von den Mongolen usw.)..

  10. blu_frisbee am April 21st, 2022 8:38 am

    Russischer Bonapartismus ist zwar bedenklich,
    aber wirklich erschreckend ist die geistige Verelendung und Verluderung der deutschen Medien und der Linkspartei.
    Die „deutsche Vergangenheitsbewältigung“ kümmert sich nur um die zwar emotional widerlichen Schreckenstaten der Nazis aber hat keinen Begriff mehr von den geistig-ideologischen Grundlagen die dahin führen.
    Man kanns Gefühlsverblödung nennen.
    https://www.youtube.com/watch?v=Ni2r3BNmTrY#1:49:43_DE_Propaganda_UA

    https://www.lunapark21.net/putin-als-bonapartist/

  11. ... der Trittbrettschreiber am April 21st, 2022 9:36 am

    @blue_frisbee

    :-)… danke für den 1. Link. Er beweist, das Professionalität heutzutage ein Makel ist, besser noch – eine Geisteskrankheit, die erfreulicherweise nicht ansteckend ist. Ich werde mir diese Videotie nur im Vollrausch weiter antun, selbstverständlich, nachdem ich die Heizung runtergedreht, das Gas abgestellt und die Haustür einen Spalt geöffnet habe, um wenigstens die leise Illusion zu behalten, dass Rettung nahen könnte, falls ich durch stärkere Verzweiflungs-Drogen (Veltins?) ins Delirium falle…

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