Anmerkungen zur Lage, Update

russian tanks
Die beiden oberen Fotos zeigen angeblich Panzer der Volksrepublik Donezk („DPR troops“) bei Bugas, ca. 50 Kilometer nördlich von Mariupol. Quelle: Intel Slava Z.

Was denken russische Experten über den Krieg in der Ukraine? RT Deutsch hat ein paar interviewt. Interessant, dass deren Meinungen mit der Putins und dessen peer group nicht immer übereinstimmen oder nicht deckungsgleich sind. [Die Website wird in Deutschland zensiert. Wie man das umgeht, habe ich hier schon erklärt.]

Wassili Nebensja, Russlands Vertreter bei den UN: „Sobald die ukrainischen Behörden bereit sind, den Entmilitarisierungs- und Entnazifizierungsprozess einzuleiten, wäre dies ein Schritt in Richtung Abschluss der Operation“.

Das ist natürlich die Hardliner-Version. Ob es aber generell um eine Entmilitarisierung gehen oder ob die Ukraine nur auf atomare Waffen verzichten soll, bleibt unklar.

Wassili Kaschin, Leiter des Zentrums für umfassende europäische und internationale Studien an der Higher School of Economics (HSE): „Wir haben nur ein begrenztes Verständnis für die Ziele Russlands in diesem Bereich. Anscheinend geht es darum, das gesamte Gebiet der Ukraine zu durchqueren und ihr politisches System zu verändern. Ich nehme an, es geht darum, die Ukraine zu dem zu machen, was sie geworden wäre, wenn sie sich an die Minsker Vereinbarungen gehalten hätte – ein Land mit einem schwachen Zentrum und starken Regionen. Das würde es der Ukraine unmöglich machen, zielstrebig eine blockorientierte Außenpolitik zu verfolgen. Außerdem wären die Nationalisten von der Politik abgeschnitten. Wie genau Russland das erreichen will, ist mir noch unklar, denn die Ukraine ist ein großes Land und die russischen Kräfte sind begrenzt.“

Den hat Putin bestimmt nicht vorher gefragt. Kaschin hätte auch antworten können: Ich habe keine Ahnung, was sich Putin dabei gedacht hat.

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Bugas – das Foto ist authentsch. Quelle: Intel Slava Z.

Kaschin weiter: „Es ist wahrscheinlich, dass Kiew erst umzingelt und dann eingenommen wird, aber ich glaube nicht, dass es so schnell geht, da die Einheimischen dort Waffen erhalten haben. Russland konzentriert sich jetzt vor allem auf andere Teile des Landes. In ein oder zwei Wochen wird die organisierte Verteidigung der Ukraine wahrscheinlich zusammenbrechen, und dann wird es darum gehen, das Land unter Kontrolle zu bringen und ein neues Regime zu errichten“.

Das halte ich für unwahrscheinlich, und das müsste jemand wie Kaschin auch wissen. Selbst wenn Kiew eingenommen würde, wäre der Westteil der Ukraine nicht unter russischer Kontrolle. Und dort wäre der Widerstand, der vom „Westen“ unterstützt würde, ohnehin am größten. Ich denke, dass Kaschin sich mit dem letzten Satz nur absichert, dass er auf Putin-Linie ist.

Oleg Barabanov, Leiter des hier schon zitierten Valdai-Klubs (ein Diskussionsforum der herrschenden Klasse Russlands): „Wenn die Operation in den nächsten Tagen gut läuft und die militärischen Ziele erreicht werden, wird die Ukraine keine andere Wahl haben, als über die russischen Forderungen nach einer Entmilitarisierung zu diskutieren. Wenn die Operation jedoch ins Stocken gerät, wird sich der Schock der ersten Tage verflüchtigen, und die Ukraine wird in der Lage sein, ihre Verteidigung zu verstärken. Dann wird es zu einem langwierigen militärischen Konflikt kommen, bei dem Verhandlungen keine entscheidende Rolle mehr spielen“.

Dieses Statement umschreibt vorsichtig den Status Quo, obwohl sich das konkret erst in zwei oder drei Wochen zeigen wird. Niemand, selbst Putin nicht, wird davon ausgegangen sein, dass Russland die Ukraine schneller würde erobern können als die Wehrmacht Frankreich – damals hatte Frankreich nur halb so viel Einwohner wie die Ukraine heute. Das hätte nur funktioniert, wenn die ukrainische Armee gar nicht existierte.

„Die Ausgabe von Waffen an untrainierte Zivilisten außerhalb der Armeestrukturen ist verteidigungstechnisch nicht sehr sinnvoll. Aber sie werden getötet, wenn sie versuchen, Widerstand zu leisten, und jeder dieser Todesfälle wird dazu führen, dass sich mehrere Dutzend weitere Menschen an antirussischen Aktivitäten beteiligen – schließlich hat jeder Getötete Angehörige und Freunde. Das ist der Grund für die unnachgiebige Verteidigung Kiews, anstatt sich nach Westen zurückzuziehen und die Linie an der Grenze zu halten.“ (Es ist bei RT Deutsch unklar, ob das Kaschin oder Barabanow gesagt hat.)

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Flüchtlinge bei Irpin, die Brücke wurde angeblich von den ukrainischen Streitkräften zerstört. Quelle: Intel Slava Z.

Barabanow: „Die russischen Truppen versuchen, nicht in ukrainische Städte einzudringen, sondern sie einzukesseln und zu blockieren. Vom taktischen Standpunkt aus mag das richtig sein. Die Frage ist jedoch, ob Selenskijs Regierung am Ende an der Macht bleiben wird oder ob sich ein neues, alternatives Machtzentrum herausbilden wird. Selenskij und sein Umfeld werden nicht so leicht aufgeben, wenn man bedenkt, wie tapfer und organisiert sie jetzt sind. Das ist der entscheidende Unterschied zu 2014. Damals war es wahrscheinlich, dass die Eliten und die Armee fliehen würden, sodass eine achtjährige Verzögerung ein großer Fehler ist. Ich würde sagen, dass es keine Chance gibt, dass Selenskij flieht. Auch wenn seine Handlungen manchmal widersprüchlich sind, tut er alles, was er kann“.

Auch das ist realistisch. Barabanov erklärt, warum es gar nicht so wichtig sei, die Städte jetzt schon zu erobern. Da stimmt er mit westlichen Militärexperten überein. Die Hoffnung, die herrschende Klasse der Ukraine würde automatisch aufgeben, könnte aber trügerisch sein. Die Kritik an Putins Intervention wird hier geschickt hinter einer noch „härteren“ Position versteckt, nämlich der, dass Barabanov meint, man hätte schon vor acht Jahren einmarschieren sollen.

„Barabanow glaubt, dass eine neue „noworussische“ Volksrepublik mit einer Hauptstadt in der Nähe von Cherson im Süden oder Charkow im Osten eine Alternative zur amtierenden Regierung in Kiew sein könnte. ‚In diesem Fall können sie sogar mit Russland verhandeln und die Ukraine praktisch spalten. Ich glaube nicht, dass es eine Chance gibt, dass jemand Selenskij einfach absetzen kann, trotz Putins Aufforderung an das Militär, die Macht zu übernehmen. Ich halte das für das unwahrscheinlichste Szenario'“.

Interessant ist es, welche dubiosen Figuren RT Deutsch in Richtung „Opposition“ gegen das Regime in Kiews ventiliert. Zum Beispiel Ilja oder: Illja) Kiwa, einer der wichtigsten Faschisten der Ukraine, der auf Selenski noch nie gut zu sprechen war. Gleichzeitig hat ihn Klitschko ihn als „Landesverräter“ beschimpft, weil er Putin zum Geburtstag gratuliert hatte.

Es wäre ja eine Ironie der Geschichte, wenn solchen Typen, die ich nicht mit der Kneifzange anfassen würde, plötzlich von den Russen hofiert würden, um Selenski zu stürzen.

Sehr hübsch ist die Kritik Kaschins an der russischen Propaganda allgemein: „Russland hätte detailliertes Referenzmaterial vorbereiten sollen, das allgemein zugänglich ist und alle Informationen darüber enthält, wie die Gespräche gescheitert sind, wer dafür verantwortlich war und wer wie die Entscheidung getroffen hat, die aktuelle Militäroperation zu starten. Vor allem aber sollte klar erklärt werden, warum die Ukraine für Russland so wichtig ist, dass wir ihretwegen den größten Krieg in Europa seit 1945 begonnen haben.“

Warum sollte der „Westen“ russische Propaganda verbieten, wenn die Russen selbst sagen, dass die Mist ist und nicht überzeugend?

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Es könnte die Brücke über die E373 sein. Quelle: Intel Slava Z.