Der lange weltpolitische Atem

xi mao

So ein Teaser (Paywall) machte mich extrem neugierig: Kishore Mahbubani gilt als einer der klügsten geostrategischen Denker Asiens. Der aus Singapur stammende Ex-Botschafter wirft dem Westen im Gespräch mit Stefan Aust vor, China aus Arroganz falsch eingeschätzt zu haben. Die vergangenen 200 Jahre hält er für einen Unfall der Geschichte.

Beide Herren wollen natürlich auch ihre neuen Bücher bewerben. Kishore Mahbubani veröffentlichte Hat China schon gewonnen?: Chinas Aufstieg zur neuen Supermacht; Stefan Aust schrieb Xi Jinping – der mächtigste Mann der Welt. Es habe bisher keine Biografie XI Jinpings gegeben, was – da muss ich zustimmen – einigermaßen erstaunt.

Kishore Mahbubani: Der Westen nimmt an, das 19. und 20. Jahrhundert sei der Normalzustand gewesen und die 1800 Jahre davor nicht normal. Ich sehe es genau umgekehrt: Die vorherigen 1800 Jahre waren der Normalzustand, mit China und Indien als den beiden führenden Volkswirtschaften der Welt. Die letzten 200 Jahre waren eine Abweichung.

Das trifft sich mit der hier schon – aber noch nicht abschließend – diskutierten Frage, ob nicht der chinesische Weg über den Kapitalismus hinaus derjenige sei, der das Land an die Spitze der „Entwicklung“ stellt und nicht etwas der europäische und russische Weg, der in der orthodoxen marxistischen Diskussion bis zum Zusammenbruch des so genannten „Sozialismus“ dort als solcher angesehen wurde. Im Wettrennen, wer es zuerst bis zum Kapitalismus schaffen würde, geriet China ins Hintertreffen, aber wer zuletzt lacht, bei dem kommt der Kommunismus zuerst. Ich hatte schon Mitterauers „Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“ erwähnt, der genau diese Frage auch stellt und, wie der Titel suggeriert, ähnlich beanwortet wie Kishore Mahbubani.

Kishore Mahbubani: Die Chinesen haben ihre eigene politische Geschichte, ihre eigenen politischen Traditionen und ihre eigene politische Kultur. Sie wissen, was in China funktioniert und was nicht. Ein gespaltenes Zwei-Parteien-System wie in den USA funktioniert aus ihrer Sicht nicht für China. Ich sage nicht, dass das meine Sicht ist. Aber aus ihrer Sicht beweist die chinesische Geschichte, dass es der Bevölkerung unter einer starken Führung am besten geht, und dass vor allem die sozial gesehen unteren fünfzig Prozent der Bevölkerung leiden, wenn die Führung gespalten ist. Laut einer Studie der Harvard Kennedy School ist die Zustimmung zur Kommunistischen Partei Chinas von 86 Prozent im Jahr 2003 auf 93 Prozent 2016 gestiegen. Warum? Weil sie in den letzten 40 Jahren die beste sozialökonomische Entwicklung ihrer Geschichte hatten. (…)

Die westlichen Länder haben keine formale Zensur, aber eine informelle Zensur. Ich bin gerade aus den USA zurückgekehrt und habe von Studenten dort immer wieder gehört, wie die politische Korrektheit die Meinungsfreiheit einengt. Oder denken Sie an den Fall der britischen Professorin Kathleen Stock, die gerade von ihrem Lehrstuhl zurücktreten musste, weil Transgender-Aktivisten ihre Forschungsergebnisse nicht mochten. Was ist das, wenn nicht Zensur?

Wenn das die Baerbock läse! Aber das tut sie nicht, und sie ist als Grüne sowieso beratungsresistent.

Kishore Mahbubani: China ist in vielerlei Hinsicht der rationalste Akteur auf der internationalen Bühne heute. Es kalkuliert sein nationales Interesse sehr vorsichtig. Doch beim Thema Taiwan ist China kein rationaler Akteur, sondern ein emotionaler. Es ist bereit, einen massiven ökonomischen und militärischen Preis zu zahlen, um Taiwan zu sichern. Auch wenn das zehn Jahre Konjunkturrückgang für China bedeutet, wird China das hinnehmen, wenn seine rote Linie überschritten wird: Taiwan erklärt sich für unabhängig. (…) Darum kann China eine Unabhängigkeit Taiwans nicht akzeptieren – ich garantiere Ihnen zu hundert Prozent, dass China in einem solchen Fall Taiwan den Krieg erklären wird. Sollten die USA dann zugunsten Taiwans eingreifen, könnte das zum Atomkrieg führen. (…)

Doch die Chinesen glauben, der beste Weg, um einen Krieg zu gewinnen, ist ohne Kampf. Als schlaue Kenner der Geopolitik werden sie vorsichtig kalkulieren und wissen: Wenn sie um das Jahr 2030 herum die Wirtschaftsmacht Nummer eins sind, werden sich die anderen Länder ihnen gegenüber fügsamer verhalten. Dann pflücken sie die Frucht Taiwan, wenn sie reif ist. Warum sollten sie sich also beeilen?

Das beantwortet natürlich nicht die für mich spannendste Frage, es ob es im Staatskapitalismus so genannten Sozialismus chinesischer Prägung Klassenkampf gebe und wer da gegen wen kämpft. In der Kulturrevolution wurde diese Frage schon einmal gestellt, mit dem bekannten chaotischen Ausgang. Und wenn man das heute in China fragt, wird man verhaftet.

Es gibt immer die gleichen Indizien: Wenn sich ein Machthaber unsicher fühlt, stellt er sich ikonografisch in die Tradition seiner Vorgänger, die jenseits von Gut und Böse sind. Xi wird zusammen mit Mao verehrt (vgl. Foto oben), für unsere Verhältnisse ziemlich kitschig und lächerlich. Aber unser Geschmack nicht der Maßstab, und die Chinesen sehen das vermutlich nicht so. Als Marxist fragt man sich aber: Warum hat er das nötig? Wem gegenüber möchte er sich rechtfertigen? Ich habe da einen Verdacht – und Bertold Brecht hatte schon eine Lösung.

xi

Beim Schreiben hörte ich übrigens Henri 1 und Henri 2.