Nicht vergeben, nicht vergessen

rosa Luxemburg

Am 31. Mai 1919 fand ein Schleusenarbeiter Rosa Luxemburgs Leichnam an einer Schleuse im Landwehrkanal. Um Massenunruhen zu vermeiden, verhängte Noske (SPD) eine Nachrichtensperre, ließ den Leichnam konfiszieren und in das Militärlager Zossen bringen. Rechtsmediziner obduzierten ihn und stellten einen Pistolennahschuss als Todesursache fest.

Ich habe mich ein bisschen durch Luxemburgs Biografie auf Wikipedia gewühlt und dann noch die ihres Geliebten und Freundes Leo Logiches studiert (Schande über mich: Ich kannte ihn nicht, obwohl er Mitbegründer der KPD war!). Was waren das für unglaubliche Leben!

Rosa erhielt eine umfassende humanistische Bildung und lernte neben Polnisch, Deutsch und Russisch auch Latein und Altgriechisch. Sie beherrschte Französisch, konnte Englisch lesen und Italienisch verstehen. Sie kannte die bedeutenden Literaturwerke Europas, rezitierte Gedichte, war eine gute Zeichnerin, interessierte sich für Botanik und Geologie, sammelte Pflanzen und Steine und liebte Musik, besonders die Oper und die Lieder von Hugo Wolf. Zu ihren zeitlebens geachteten Autoren gehörte Adam Mickiewicz.

Ich kann nicht widerstehen zu fragen, wer von den Nachgeborenen oder den „Linken“ heute so gebildet ist oder sein will? Was hätte die Luxemburg wohl zu den wohlfeilen und nichtssagenden Worthülsen „nachhaltig„, „Klima“ usw. gesagt?

Sie setzte ihren kompromisslosen Kampf gegen den Nationalismus in der Arbeiterbewegung zeitlebens fort. Diese Haltung isolierte sie anfangs fast völlig und brachte ihr viele erbitterte Konflikte ein, unter anderem seit 1898 in der SPD und seit 1903 mit Lenin.

Man ahnt schon, warum die Funktionäre der SED Luxemburg nicht ausstehen konnten (obwohl die DDR – oft ekelhaft heuchelnd – versuchte, sie zu vereinnahmen):
Marxismus ist eine revolutionäre Weltanschauung, die stets nach neuen Erkenntnissen ringen muss, die nichts so verabscheut wie das Erstarren in einmal gültigen Formen, die am besten im geistigen Waffengeklirr der Selbstkritik und im geschichtlichen Blitz und Donner ihre lebendige Kraft bewahrt.

Ich meine, dass die hiesige Restlinke das Thema Diktatur des Proletariats anhand von Luxemburg neu diskutieren muss – Rosa Luxemburg war näher an Marx als die SED je war:
Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse, und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, d. h. sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen.

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Kommentare

9 Kommentare zu “Nicht vergeben, nicht vergessen”

  1. Godwin am Juni 1st, 2020 3:18 pm

    „aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen…“

    wir leben aber eher in einer Gesellschaft der aktiven Passivität eben jener „Massen“. weder will die „Masse“ wirklich mitwirken (Teilnahme an der so-kann-es-nicht-weitergehen-AfD-Demo gilt nicht), noch kann sie es. dafür fehlt die Zeit UND die politische Bildung.
    insofern bleibt auch politischer Aktivismus ein Element der Arbeitsteilung und der Bereich der privilegierten Klassen, die eben FÜR die anderen Denkt und befiehlt…

  2. ... der Trittbrettscheiber am Juni 1st, 2020 4:00 pm

    Der letzte Absatz, hätte wohl nicht einmal mehr ein Wegzappen per SUV-Fernbedienung verursacht. Ich kann, wenn ich meinen Blick aus dem Fenster, über den Bürotisch oder durch die Glitzergassen der Einkaufsmeilen schweifen lasse, kaum nachvollziehen, wie sie es geschafft hat, so viele Menschen zu erreichen, damals und erst recht heute. Heute würde sie wohl nicht erschossen. Sie bekäme wohl ein stilles Amt, in dem sie endlos twitternd immer leiser würde.

  3. admin am Juni 1st, 2020 4:02 pm

    Man muss sich vergegenwärtigen, dass die KPD einmal mehr als 300.000 Mitglieder hatte, bevor Thälmann Vorsitzender wurde.

  4. Siewurdengelesen am Juni 1st, 2020 8:09 pm

    Immerhin ist Rosa Luxemburg für eines der am meisten fehlinterpretierten Zitate gut genug…

  5. tom am Juni 1st, 2020 11:05 pm

    Aktive Teilnahme der Massen ist bis auf Weiteres utopisch.
    Aber es gibt alte neue Ideen.
    https://wyriwif.wordpress.com/2018/10/25/antike-demokratie-und-demokratie-in-der-moderne/

  6. tom am Juni 2nd, 2020 8:32 am

    Politik? Könnte auch anders gehen, nämlich richtig.
    https://www.youtube.com/watch?v=KwYRkf3BKm8

  7. Wolf-Dieter Busch am Juni 2nd, 2020 6:23 pm

    An manchen Tagen ist Widerspruch angesagt.

    Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt.

    Welch ein Pathos! Ähnlich ebenso Gutgemeintes wie an der Praxis gescheitertes haben wir von Rudi Dutschke selig gehört.

    Marxʼ zutreffende Analyse der Gesellschaft als „Diktatur der Bourgeoisie“ antizipiert er mit seiner „Diktatur des Proletariats“.

    Betonung auf „antizipiert“. Darauf einen realen Entwurf für eine Gesellschaft abzuleiten kann gut gehen. Betonung auf „kann“.

    R. Luxemburg war sicher begnadete Rednerin. Gescheit wie nur was. Aber wer sagt uns, dass sie durch den Mord nicht einfach an endgültiger Blamage gehindert wurde? Ein Mord, der zu ihrer de-facto-Heiligsprechung führte, in schöner christlicher Märtyrer-Tradition?

    Einen Gesellschaftsentwurf per „Revolution von oben“ – korrekterweise heißt das „Putsch“ – ist unvermeidlich verbunden mit temporärer Gesetzlosigkeit. Ebenso unumgänglich wie mit Leichen gepflastert.

    Der Linken wäre dies vorzuwerfen: die Phase wurde nie ernsthaft diskutiert. Wann immer die Rede darauf kam lautete die Antwort des Chefideologen (den ich menschlich durchaus schätzte): „Keine Frage, ich bin ein Kritiker von Stalin … immerhin hat er eine Schwerindustrie auf die Beine gestellt … etc.) – womit das Thema zuverlässig abgehandelt war.

    Yup. Ehren wir Rosa Luxemburg für das was sie war, aber bitte nicht als Zukunftsmodell, auch nicht als gescheitertes solches.

    PS bin ich jetzt ein Bösewicht?

  8. Serdar Günes am Juni 4th, 2020 5:38 pm

    Die rote Rosa nun auch verschwand
    Wo sie liegt, ist unbekannt
    Weil sie den Armen die Wahrheit gesagt
    Haben sie die Reichen aus der Welt gejagt

    (Bertolt Brecht, 1919)

  9. ... der Trittbrettschreiber am Juni 5th, 2020 8:28 am

    @Serdar Günes

    Grabstätte der Rosa Luxemburg ist der Zentralfriedhof Friedrichsfelde. Wahrscheinlich ist sie dort erst nach diesem Brechtschen Gedicht bestattet worden, so dass er aus seiner zeitlichen Perspektive wohl recht hatte, was den Ort angeht.

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