Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht

st. wiperti reliquiar

Evangelistar (liturgisches Buch) aus St. Wiperti, vielleicht von Goldschmiedemeister Michel aus Quedlinburg, 1513 – ein Vertrag der Äbtissin von Sachsen mit ihm über Reliquiare ist überliefert.

Das Buch hat einen Holzkern mit gegossenem und getriebenem Silber, mehrere der ursprünglich 34 Edelsteine sind verloren (nach Dietrich Kötzsche (Hrsg.): Der Quedlinburger Schatz wieder vereint], 1993)

An dem Beschlag der Kanten des Deckels kann man ANNO DOMINI MVCXIII lesen, links SVB LAVRENCIO PREPOSITO (unter dem Probst Laurentius). Die Christusfigur besteht aus einem Stück Silber und ist mit durchsichtigem Email überzogen. Ursprünglich trug Christus eine Weltkugel in der Hand, die ist jedoch verloren. Der Rahmen zeigt die vier bibischen Evangelisten und „Kirchenväter“. Das Seidengewebe des Deckels stammt aus Florenz oder Venedig. (Wie so etwas hergestellt wurde, beschreibt Regula Schorta: „Il Trattato dell’arte della seta: a Florentine 15th century treatise on silk manufacturing“, 1991).

Die Handschrift im Innern aus Pergament hat 59 beschrieben Blätter und einige leere Seiten und enthält Perikopen aus den Evangelien, die während der Messen gelesen wurden. Der Text sei im Vergleich zum kostbaren Deckel „unaufwenig“, schreibt K. Koetzsche: „Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine Arbeit von Wanderminiatoren. Unter den erhaltenen Quedlinburger Handschriften dieser Zeit gibt es jedenfalls keine weiteren illuminierten Pergamentcodices.“

Die historisch interessierten Leser und mediävistisch gebildeten Leser sollten der Tatsache eingedenk sein, dass das obige Evangelistar rund 300 Jahre jünger ist als die jüngst vorgestellten Exemplare aus dem Quedlinburger Domschatz. In Quedlinburg tobte Ende des 15. Jahrhunderts der Klassenkampf (den bürgerliche Historiker und Wikipedia natürlich nicht so nennen). Der feudale Adel, auch der kirchliche, kämpfte gegen die Städte um Mühlen, Münzprägung, Fischerei und Holzrechte und die Gerichtsbarkeit. Die Stadtbürger Quedlinburgs verloren und mussten sich unterwerfen, der steinerne Roland am Rathaus wurde geschleift. „Quedlinburg hatte aus der Hanse und allen Schutzbündnissen auszutreten und der Äbtissin Erbhuldigung zu leisten. Ohne Einwilligung der Äbtissin konnte die Stadt weder einen Rat, noch einen Stadthauptmann wählen oder die Stadtbefestigung ausbessern. Die Stadtentwicklung erlitt einen entscheidenden Rückschlag; in den kommenden Jahrhunderten blieb Quedlinburg eine kleine Ackerbürgerstadt.

roland quedlinburg

Was ist also in den mehr als 500 Jahren passisert – zwischen Heinrich, dem sächsischen König des Ostfrankenreichs und den Königen und Kaisern des späten Feudalismus aka „Spätmittelalter“?

Die Feudalklasse hat sich etabliert und zwischen den Kaiser, der zu Zeit etwa der Karolinger Zeit noch der mit abstand Mächtigste Kriegsherr war – aufgrund seiner ökonomischen Basis -, und die Bauern geschoben. „Das frühmittelalterliche Heer war mehr als eine moderne Armee; es war der Pupulus, das Volk in Waffen“, schreibt Johannes Fried in Die Anfänge der Deutschen: Der Weg in die Geschichte (S.529). Die Vasallen des obersten Herrschers drängten aber danach, „selbst zu befehlen“. „Es bedurfte spezieller Vasallen mit großem Vermögen- fünfzig bis zweihundert Bauernstellen sind unter Karl dem Großen bezeugt -, die der König bereitstellen musste, denn die teure Ausrüstung der Ritter überstieg die Leistungskraft einfacher Freier. Die Königsvasallen blieben fortan des Königs Rückhalt gegen die großen Adelsfamilien…“( S. 269). Die probten den Aufstand in Permanenz.

Ein halbes Jahrtausend später sind die Bauern entwaffnet, die herrschende Feudalklasse hat das militärische Monopol, der König ist allein militärisch machtlos.

Im Unterschied etwa zu Polen emanzipierten sich jedoch die hörigen Bauern ab dem 10. Jahrhundert wieder mehr und mehr von der Grundherrschaft. Ich schrieb hier schon: Der Feudalstaat entwickelte sich in Polen ganz anders zum Kapitalismus, mit weit reichenden Folgen. Die polnische Adelsrepublik Rzeczpospolita, also die Union von Polen und Litauen, war „fortschrittlicher“ organisiert als die Herrschenden in Westeuropa. Fast ein Zehntel der polnischen Bevölkerung gehörte zum bäuerlichen Kleinadel, der Schlachta (auch: Szlachta); der Kleinadel organisierte sich durch Wahlen und durch Delegierte. Die Dominanz der Schlachta aber verhinderte auch, dass sich, anders als in Deutschland, die Städte im Gegensatz zur Feudalherrschaft organisierten. In Polen gab es weniger Klassenkämpfe zwischen Bauern und Feudaladel als in Deutschland. aber: „Die Identifizierung von Schlachta und Staat bewirkte allerdings schon im 16. Jahrhundert eine dem städtischen Bürgertum und seinen Rechten abträgliche Tendenz.“ Die Bourgeoisie hatte kaum eine Chance – der Adel war immer schon da. Ohne Bourgeoisie aber kein Kapitalismus und die ihm angemessene Herrschaftsform.

Die Feudalisierung war also zur Zeit des Kampfes zwischen der Äbtissin von Sachsen und der Stadt Quedlinburg abgeschlossen. Auch der Bauernkrieg im frühen 16. Jahrhundert scheiterte, was zu erwarten war, ein Proletariat war nur embryonal vorhanden. Nur wenige Städte waren frei und von den Bürgern selbstverwaltet.

kana Krugkana-Krug

Kana-Krug , Alexandria oder Rom, 1. Jahrhundert n. Chr.., aus Alabaster. Ein Henkel ist abgebrochen, ein Deckel fehlt. Laut Kötzsche sei der Krug vermutlich ein Kantharos, die Mehrzahl dieser Gefäße wurde in Italien gefunden, auf Friedhöfen dienten sie als Aschenurnen. Otto I. hatte mehrere Krüge aus Italien mitgebracht und verschenkte sie an diverse Kirchen; ein anderer Krug ist in St. Ursula in Köln erhalten. (Ich finde kein Foto davon.) „Obwohl Alabasterurnen noch im 2. und frühen 3. Jahrhundert n. Chr. in Gebrauch waren, gehört dieses Gefäß auf Grund des besonderen Henkelform und ihrer Parallelen in das frühe 1. Jahrhundert n. Chr.“
Dass der Krug von der biblischen Hochzeit zu Kana stammen soll, macht ihn im feudalen Sinn wieder zu einer Reliquie mit magischer Macht. Der Krug wurde den Gläubigen am 2. Sonntag nach Epiphanias gezeigt.

bergkristall

Großes Bergkristall mit Vögeln (geringfügiger Bruch), fatimidisch, die Montierung stammt aus dem 13. oder 14. Jahrhundert, Quedlinburg. Die mittlere Höhlung ist leer, in den anderen beiden sind in roten Stoff gehüllte Reliquien, angeblich von den Windeln und Kleidern Christi.

Der Titeltext stammt von Wolfram von Eschenbach: Parzival.

Reminder: Photos are licensed under a Creative Commons Attribution-NonCommercial 3.0 Germany License.

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Bisher zum Thema Feudalismus erschienen:
– Reaktionäre Schichttorte (31.01.2015) – über die scheinbare Natur und die Klasse
– Feudal oder nicht feudal? tl;dr, (05.05.2019) – über den Begriff Feudalismus (Fotos: Quedlinburg)
– Helidos, ubar hringa, do sie to dero hiltiu ritun (08.05.2019) – über die Funktion der verdinglichten Herrschaft in oralen Gesellschaften (Quedlinburger Domschatz I)
– Tria eburnea scrinia com reiquis sanctorum (09.05.2019) – über Gewalt und Konsum der herrschenden Feudalklasse als erkenntnistheoretische Schranke (Quedlinburger Domschatz II)
– Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz III)
– Authentische Heinrichsfeiern (13.05.2019) – über die nationalsozialistische Märchenstunde zum Feudalismus (in Quedlinburg)
– Der Zwang zum Hauen und Stechen oder: Seigneural Privileges (15.06.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [I] (24.07.2019)
– Yasuke, Daimos und Samurai [II] (03.05.2020)
– Agrarisch und revolutionär (I) (21.02.2021)
– Trierer Apokalypse und der blassrose Satan (17.03.2021)
– Energie, Masse und Kraft (04.04.2021)
– Agrarisch und revolutionär II (15.05.2021)
– Gladius cum quo fuerunt decollati patroni nostri (Essener Domschatz I) (28.10.2021)
– Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) (14.11.2021)
– Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise (Essener Domschatz III) (27.11.2021)
– Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) (17.12.2021)
– Pantokrator in der Mandorla, Frauen, die ihm huldigen und die Villikation (Essener Domschatz V) (23.12.21)
– Jenseits des Oxus (09.01.2022)
– Blut, Nägel und geküsste Tafeln, schmuckschließend (Essener Domschatz VI) (18.04.2022)
– Missing Link oder: Franziska und kleine Könige (28.05.2022)
– Die Riesen von Gobero (Die Kinder des Prometheus Teil I) (18.07.2022)
– Die Liebhaber von Sumpa, Ackergäule und Verhüttung (Die Kinder des Prometheus Teil II) (25.07.2022)

Zum Thema Sklavenhaltergesellschaft:
Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil I]) 05.11.2020)

Doppeldenk oder: Die politische Macht kommt aus den Legionen [Teil II]) 27.12.2020)

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Kommentare

13 Kommentare zu “Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht”

  1. ... der Trittbrettschreiber am Mai 10th, 2019 7:06 pm

    „…angeblich von den Windeln und Kleidern Christi.“

    Das sind so Momente, wo ich meinen eigenen Rausschmiss provoziere, wenn ich an einer Führung teilnehme und mir dann von einer netten aber ernsten historisch bewanderten Dame (meistens) solche Fake-Oldies anhören muss. Es ist auch ein bisschen Wut dabei. All die einst hingabevoll hergestellten Klein- und Großodien werden dann jäh dem Zauber entrissen und einfach nur alter Kram.

    Mich interessiert, wie die Bauern sich nach und nach wieder der Feudalherschaft entzogen haben. Ging es um „Steuern“ waren sie hinterlistig und wurden hinterrücks reich oder waren die Feudalen zu bequem und nachlässig, gar gütig und Freiheit gönnend? Ich bleibe dran…

  2. Martin Däniken am Mai 11th, 2019 11:14 pm

    „Alle Tiere sind gleich.
    Aber manche Tiere sind gleicher als andere.“
    Es gab immer die Cleveren und Smarten,
    die Reichtum auf der Armut anderer Armer gründen konnten…
    nicht nur den finanziellen
    sondern auch den an Macht…

    Und was den Fortschritt der Polen mit Wahlen usw angeht…
    ich bin mal so defätistisch und
    sage das man Leichen nur tief genug verbuddeln muss
    und der eigenen Machtposition hat es noch nie geschadet präventiv Probleme zulösen!
    Sei es mit Heirat, Moneten oder einer Erpressung oder einer stillen Beerdigung!
    Sei als Gesamtangebot oder als massgescheidertes Paket…
    In Verbindung mit Fehdenwesen als das ich Feudalismus als erstes immer lese,kann man sehr gewinnbringende Szenarien/Muster erkennen,oder?!

  3. Fatimidisch und fernöstlich : Burks' Blog am Juni 12th, 2019 8:42 pm

    […] schrieb: Im Unterschied etwa zu Polen emanzipierten sich jedoch die hörigen Bauern ab dem 10. Jahrhundert […]

  4. Der Zwang zum Hauen und Stechen oder : Seigneural privileges : Burks' Blog am Juni 15th, 2019 5:24 pm

    […] Zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert ging die Überführung in die Leibeigenschaft (enserfment) rasch vonstatten, aber im Laufe der Zeit wurde die rechtliche Stellung der Ausgebeuteten verschlechtert und vereinheitlicht. Die Entwicklung der Warenproduktion brachte Veränderungen in der Form der Rente hervor, so dass Renten in Form, von Naturalabgaben und Geld gegen Ende des 13. Jahrhunderts (mit Ausnahme von England) größtenteils die Rente in Form von unmittelbaren Abgaben abgelöst hatte, was ihrerseits eine Verbesserung des Rechtsstatus bewirkte. Aus verschiedenen Gründen, die mit der Entwicklung der Warenproduktion zusammenhängen (darunter sind die Zersplitterung der Bauernwirtschaften und die Entwicklung bäuerlichen Widerstandes gegen die Ausbeutung am bedeutsamsten), lockerte sich die direkte Aneignung der Rente, die den Bauernhöfen auferlegt war, aber der Gesamtbedarf nach Feudalrente seitens der Feudalherren wurde durch die Ausbeutung anderer herrschaftlicher Privilegien (seigneural privileges) und durch die Entwicklung von privaten und öffentlichen „Steuern“ aufrechterhalten.“ [Vgl. den Kampf zwischen der Äbtissin Hedwig und der Stadt Quedlinburg. […]

  5. Yasuke, Daimos und Samurai [I] : Burks' Blog am Juli 24th, 2019 7:47 pm

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  11. Ida, Otto, Mathilde und Theophanu, kreuzweise : Burks' Blog – in dubio pro contra am November 29th, 2021 4:00 pm

    […] (Quedlinburger Domschatz II) – Die wâren steine tiure lâgen drûf tunkel unde lieht (10.05.2019) – über die Entwicklung des Feudalismus in Deutschland und Polen (Quedlinburger Domschatz […]

  12. Hypapante, Pelikane und Siebenschläfer (Essener Domschatz IV) : Burks' Blog – in dubio pro contra am Dezember 23rd, 2021 1:40 pm

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  13. Magische koloniebildende Nesseltiere mit kappadokischem Arm und Hand (Essener Domschatz II) : Burks' Blog – in dubio pro contra am Dezember 23rd, 2021 7:59 pm

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