Unter Machtspielern

alexander von plato

Die primären psychologischen Reaktionen der Einzelnen, Führer oder Geführter, sind irrelevant vor den übermächtigen Verhältnissen, in die sie eingespannt sind und die ihnen ihr Verhalten weithin aufnötigen, obwohl die objektiven Tendenzen kaum so furchtbar sich durchzusetzen vermöchten, okkupierten sie nicht auch das psychische Leben wider die Interessen der Lebenden.“ (Theodor W. Adorno: Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute (1968), in: Adorno: Gesammelte Schriften in 20 Bänden: Band 8: Soziologische Schriften I)

Wer sich dafür interessiert, was wirklich backstage geschah, als die jeweils Herrschenden beschlossen, Deutschland wiederzuvereinigen, sollte Alexander von Plato: Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel von vorn bis hinten lesen. Es ist das Standardwerk zum Thema und das einzige, dessen Fazit auf allen relevanten Akten fußt – auch den sowjetischen. Plato interviewte zusätzlich die maßgeblichen Beteiligten, was zu interessanten Widersprüchen zwischen Protokollen und dem führt, an das sich die Protagonisten erinnern. (Allein die Bibliographie umfasst rund 50 Seiten. Durch die Fülle der Original-Quellen eignet sich das Buch hervorragend für den Schulunterricht oder für historische Seminare.)

Helmut Kohl ist als Bettvorleger losgesprungen und als Tiger gelandet.“ (Nikolai Portugalow im Interview, 2000)

Fazit: Die sowjetische Seite hatte zunächst gar keinen Plan und hat sich weitgehend über den Tisch ziehen lassen, auch auf Grund der lavierenden Verhandlungstaktik Gorbatschows. Andererseits hatte er keine große Wahl, denn er kämpfte an mehreren Fronten, gegen die Hardliner im Inneren und gegen den drohenden Staatsbankrott. Plato gibt zu, dass die Strategie der deutschen Bundesregierung „ohne größere Fehler“ gewesen sei und diese das Maximum herausgeholt hat, was möglich war. Dazu kommt, dass die sowjetischen Regierung die Macht und die Sogwirkung nationaler Unabhängigkeitsbewegungen, wie die in Litauen, unterschätzte, was ihre Verhandlungsposition im „Inneren“ – parallel zu den Verhandlungen mit den Deutschen – unterminierte. „Mit Litauen war die UdSSR selbst bedroht, mit der deutschen Frage ’nur‘ die Ränder ihres Hegemonialbereichs. Dadurch war wegen Litauen der Zwang zu sowjetischen Konzessionen in der deutschen und in der NATO-Frage stärker geworden.“

Die Protokolle der Verhandlungen verdeutlichen, dass ein wiedervereinigtes, aber neutrales Deutschland – also ohne NATO-Mitgliedschaft – durchaus im Bereich des Möglichen gewesen wäre. Der ökonomische Bankrott der DDR, den sich sogar Helmut Kohl nach eigenen Angaben. so hatte nicht vorstellen können, und auch der gleichzeitig drohende wirtschaftliche Kollaps der UdSSR drängten in eine andere Richtung.

Ein weiteres Fazit: Die Rolle der Opposition der DDR wird im öffentlichen Diskurs maßlos überschätzt. Es gehört wohl zum nationalen Mythos, dass die Wiedervereinigung durch „das Volk“ erzwungen worden sei, ähnlich realistisch wie die Siegfried-Sage. Die Mitglieder der Opposition waren, laut den Protokollen, über alle Maßen naiv, hatten von den ökonomischen Sachzwängen nicht die geringste Ahnung und wurden – man muss sagen: wohl zu Recht – einfach überrollt.

Schwer zu lesen und manchmal dröge, aber äußerst penibel geschrieben und teilweise spannend, weil man die Dinge hinterher anders sieht als man sie aus den Medien zum Thema kennt.