Bauer Poppe, revisited

„Es war an einem Freitag des Jahres 2004, als in einem bis dahin unauffälligen Dorf namens Waffensen ein Schüler als Autor des weltweit wütenden Computerwurms „Sasser“ festgenommen wurde. Für die aktuellen Medien eine Pflichtgeschichte – und für ein Magazin, dessen Drucktermin nahe war, eine kleine Herausforderung. Die Reporter des „Spiegel“ indes fanden sogar Muße, die folgenden Details für den Einstieg ihres Beitrags zu ermitteln:

In dem Dorf Waffensen nahe dem niedersächsischen Rotenburg an der Wümme scheint die Welt noch in Ordnung: Der Gasthof „Eichenhof“ lockt mit gemütlicher Kaminschenke, Bauer Poppe um die Ecke verkauft Fleisch und Marmelade aus eigener Produktion, und bislang brachte allein der Shanty-Chor einen Hauch der großen, weiten Welt in den norddeutschen Heideflecken.

Eichenhof, Bauer Poppe, Shanty-Chor: Mag sein, dass harte Recherchen vor Ort zu einer derart treffenden Charakterisierung des „Heideflecken“ führten. Kann aber auch sein, dass stattdessen ganze 0.13 Sekunden Muße genügten. Gleich, nachdem der Beitrag am Samstag im Vorgriff aufs Heft bei Spiegel Online erschienen war, meldete sich jedenfalls ein Journalist im Internet-Medienforum jonet. Er hatte den Text gelesen und nebenbei „Waffensen“ gegoogelt (in 0.13 Sekunden). Dabei war er auf folgendes Treffer-Ranking gestoßen: Platz 1 – Eichenhof. Platz 3 – Bauer Poppe. Platz 12 – Shanty-Chor.

Als Marginalie des Recherche-Alltags wäre der Fall nicht weiter erwähnenswert, würde er nicht auf einen Streich alle vier Antworten auf eine wichtige Frage illustrieren: Wie hat Google den Journalismus verändert?“

Der Text stammt von Jochen Wegner und ist aus dem Jahr 2005.

Dass die Wirklichkeit im Journalismus erfunden wird, ist also nicht neu. Ich weiß schon, warum ich „szenische Einstiege“ bei einer Reportage hasse.

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Kommentare

3 Kommentare zu “Bauer Poppe, revisited”

  1. blu_frisbee am Dezember 27th, 2018 3:33 pm

    Relotius hat schon 2011 gefaked.
    https://www.arminwolf.at/2018/12/21/die-spiegel-affaere/
    Interessanter ist, wie so einer Karriere machen kann. Im Verfall blüht Hochstapelei. Guttenberg anyone?

  2. admin am Dezember 27th, 2018 6:30 pm

    Ja, sehr schön.. „Hier stellt sich für mich am dringendsten die Frage nach der Mitverantwortung der Redaktion: Der SPIEGEL hat die Praxis, Interviews autorisieren (also vom Gesprächspartner gegenlesen und korrigieren) zu lassen, im deutschen Sprachraum einst eingeführt. So sollten aus den abgedruckten Interviews unbestreitbare historische Dokumente werden.

    Aber da interviewt ein Reporter die letzte Überlebende der berühmtesten Widerstandsgruppe der NS-Zeit, eine einmalige Zeitzeugin, und der SPIEGEL verzichtet auf eine Autorisierung? Weil Lafrenz keine verlangt habe (tatsächlich sind Autorisierungen in den USA nicht üblich). Aber warum hat der SPIEGEL in diesem Fall keine verlangt? Erst recht, nachdem Relotius kein Tonband von dem angeblich mehrstündigen Gespräch vorweisen konnte? Wie glaubwürdig ist das? Und warum ließ die Redaktion das durchgehen? Das verstehe ich wirklich nicht.“

  3. flurdab am Dezember 28th, 2018 4:14 pm

    Money makes the world go around.
    Und der Stern existiert trotz der Tagebücher ja immer noch.
    Also welches Risiko soll es geben?

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