Irvingianer, Xenoglossisten und die Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus

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Ihr müsst jetzt sehr stark sein. Nein, ich will Euch nicht das obige Buch Bilder zur Geschichte der Katholisch-apostolischen Gemeinden empfehlen und auch nicht – von demselben Autor – Die Katholisch-apostolischen Gemeinden in Deutschland und der „Fall Geyer“ (beide in meiner Bibliothek).

Ich habe in den neunziger Jahren im Auftrag einer Stiftung mit dem Autor Vortragsreisen in Sachsen und Thüringen unternommen; es ging immer über „Religion“ und „Sekten“. Albrecht ist heute Oberbürgermeister von Jena, und bin nichts dergleichen. Unsere Diskussionen waren immer sehr anregend und interessant. Aber schon damals wusste ich, dass wir im Umkreis von ein paar hundert Kilometern, wenn nicht mehr, niemanden finden würden, der sich dafür interessierte, worüber wir stundenlang debattieren konnten. Und warum habe ich für das obige sehr seltene Buch fast 200 Euro bezahlt? Natürlich weil es mit meiner Biografie zu tun hat, der man, wenn sie so exotisch ist wie meine, niemals entrinnen kann.

Man könnte behaupten, dass Edvard Irving an allem schuld ist und seine Anhänger, die man Irvingianer nannte. Irving initiierte die Katholisch-apostolische Gemeinden, die sich von der Anglikanischen Kirche abspalteten. Es ging um Eschatologie („das Ende ist nahe“), Zungenreden (Variante: Xenoglossie) und später, als die Endzeitstimmung auf Deutschland übergriff, vor allem in der Person Heinrich Geyers, um die Frage, ob die Volksfront von Judäa oder die Judäische Volksfront die wahren Propheten seien. Wer es hardcoremäßig mag, beschäftige sich in Zeiten der Muße mit dem Apostelamt Juda, auch bekannt als „Gemeinschaft des göttlichen Sozialismus“. Man stelle sich eine Abspaltung von einer Abspaltung der Judäischen Volksfront vor.

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Wie allgemein bekannt, bin ich als Kind in die Neuapostolische Kirche hineingeboren worden (und erst mit gut zwanzig ausgetreten) – also nicht die Irvingianer, sondern eher die Geyerianer. Als eine deren Spezialitäten gilt, dass sie die Toten nicht in Ruhe lassen. Ich habe das erst begriffen, nach dem ich Elias Canettis grandioses Buch Masse und Macht gelesen habe und darin das Kapitel „Die unsichtbare Masse“ – ich kam aus dem Kopfnicken gar nicht mehr heraus.

Wenn man in so einer extrem rigiden Gruppe aufwächst, ist das nur deshalb nicht lustig, weil man die Außenwelt gar nicht kennt. Man lernt das bequeme und angenehme Gefühl auszuhalten und damit umzugehen, dass alle anderen die Wahrheit nicht kennen und nur man selbst weiß, wo es langgeht, ähnlich wie ein Geisterfahrer. Man empfindet für die da draußen nur Mitleid. Dem Stammpublikum meines Blogs wird diese Attitude, die man nicht einfach ablegen kann, schon öfter begegnet sein. Charisma, eine Version dieser Haltung, setzt unter anderem voraus, dass man andere überzeugen kann. Das ist eine „Gabe“, die eben nicht jeder hat. Bei Sektenführern ist es ein Feature.

Interessant ist, dass diese winzigen Gruppen erstaunlich zäh sind. Manche haben eine geringe vierstellige Mitgliederzahl und existieren schon ein Jahrhundert. Als ich gestern die obige Skizze ansah, fiel mir auf, dass ich in meinem allerersten Buch Unter Männern – Brüder, Kumpel, Kameraden (1988) eine Reportage über die „Apostolische Gemeinde Wiesbaden“ geschrieben hatte, die damals gerade im Begriff war, sich von der „Neuapostolischen Kirche“ abzuspalten. Ich beobachtete das Geschehen wie ein Entomologe in vivo. (Vgl. Unter Aposteln, 1-3)

Wer hat bis hierhin durchgehalten? Chapeau!