Class Matters

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Wo ist eigentlich die Arbeiterklasse? Überall. Man muss sich nur zur richtigen Zeit umsehen. Der Begriff „Arbeiterklasse“ ist übrigens und bekanntlich in deutschen Medien tabu. Just saying. Sonst müsste man auch das gefährliche Unwort „Klassenkampf“ wieder benutzten (im Englischen class struggle), was den sozialen Frieden gefährdete, weil die Leute auf dumme Gedanken kämen.

Vielleicht sollte man unsere kleinbeourgeoisen Journalisten allesamt zum Beispiel morgens um 4.15 Uhr in die öffentlichen Verkehrsmittel stecken, ein halbes Jahr lang. Da sitzen die, die keine Zeit haben für Fratzenbuch, für Triggerwarnungen, Gendersprech und andere Lifestyle-Themen. Die sind schon um kurz nach drei aufgestanden und konnten beim Arte-Bildungsprogramm nicht einschlafen, weil sie da schon im Bett waren. In der Mehrzahl Frauen, viel mehr ältere farbige Frauen, mehr als die Hälfte „südländisch“ aussehend, auch viele Osteuropäer: Putzkolonnen, Mindestlohn – wenn sie Glück haben, oft mehrere Jobs gleichzeitig, Alltagsrassismus hautnah, keine finanziellen Reserven, Urlaub, wenn überhaupt, vom Munde abgespart. Müde, manchmal verbrauchte Gesichter, weit ab vom Schönheitsideal, das in der Boulevardpresse verbreitet wird. Trotzdem sind sie oft untereinander lustig. (Ja, ich bin heute auch um 3.30 Uhr aufgestanden – Urlaubs- und Krankheitsvertretung von Kollegen: Schwieriges Objekt, komplizierte Alarmanlage, Berlin-Mitte.)

Diese Leute gehören genau so zur Arbeiterklase wie ein Proletarier in einem hochtechnisierten Unternehmen, der einen Jahreswagen fährt und dessen Job bald von Robotern übernommen wird. Gefühlt und vom Lohn aus betrachtet, gehört der klassische deutsche Fabrikarbeiter – wenn man einen bürgerlichen Soziologen oder die FDP fragt – zur „Mittelschicht“. ökonomisch nicht. Wenn er das weiß, hat er Klassenbewusstsein. Wenn nicht, lässt er die Mainstream-Medien weltanschaulich vordenken.

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Das kann man noch erweitern. Ich erinnere mich an ein Wahlplakat der „Linken“: „Richtig investieren“. O je. Aber wer? Da ist die Systemfrage noch nicht mal im Kleingedruckten. Ach ja, weil zeitlos gültig:

„Die langfristige Gewinnmaximierung wird von den meisten Fachvertretern (…) als oberste Zielsetzung und damit als Auswahlkriterium anerkannt.“*

„Ein besonderes Recht zum streiken kann nicht anerkannt werden. Der Streik gibt keinen Rechtstitel an, sondern ist ein tatsächliches Machtmittel.“**

„Vor dem Tarifvertrag steht die Wirtschaft, dem er zu dienen hat.“***

* Günter Wöhe: Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, München 2000, 20. Auflage, S. 41ff., zitiert nach Karsten Heinz Schönbach, S. 82)

** Ernst von Borsig, Vortrag: Industrie und Sozialpolitik“, gehalten auf der RDI-Tagung in Berlin im März 1924, in: Veröffentlichungen des Reichsverbands der Deutschen Indstrie, Heft 21, April 1924, S. 42, zitiert nach ebd., S. 84

*** ebd.

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