Die Lümmel oder: Strong language

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.
(Heinrich heine: Deutschland. Ein Wintermärchen)

Ich weiß nicht, was die Medien eigentlich haben: Warum werden Wörter, die das Volk ausspricht, mit Sternchen ersetzt oder weggepiept? Ficken und „fuck“ – das geht nicht? Pussy oder „Möse“ sind unanständige Wörter oder „strong language“? Das sagt man nicht? Wo? Wer? Wer behauptet das?

Trump redet eben auch so, wie seine Wähler sind. Nur Journalisten aus der Mittelschicht regen sich auf: Bei den Spieß- und Kleinbürgern kommt es eben darauf an, wie man sich „benimmt“ und nicht, wer man ist. Gutes Benehmen sichert gefühlt den sozialen Status. Ach ja, ist das so?

By the way: Hat Trump behauptet, wenn man ein „Star“ sei, könne man viele Frauen haben und sie angrapschen? Ist das nicht so? Man müsste mal Bill Wyman fragen. Oder bei Wikipedia nachlesen, was ein Groupie ist.

Ja, man(n) muss der „strong language“ entsagen, man muss sich benehmen, man muss darauf achten, was man sagt. Aber, wie Henryk M. Broder richtig einwendet: „Das Volk darf grob sein und sich unangemessen äußern“. Ja, man darf zur Regierung und deren Charaktermasken ganz enthemmt sagen: „Pack, verpiss dich!“ oder diese wüst beschimpfen. Das Volk ist der Regierung keinerlei Rechenschaft schuldig, wohl aber umgekehrt.

Ich wette, liebe Leserinnen und Leser: Den Wählern von Trump geht die Diskussion am Arsch vorbei. Mir übrigens auch, aber aus anderen Gründen.




Selfie am Atabapo

atabapo

Selfie am Zusammenfluss von Rio Guaviare und Rio Atabapo, kurz vor der Mündung beider in den Orinoco, Venezuela, Region Amazonas (1998, ungefähr hier).




Ihr seid nicht das Volk, revisited

militant strike

Foto: Streikende Bergleute in Asturien, Quelle: libcom.org

Ein ganz hervorragendes Interview mit Didier Eribon hat Zeit online: „Für Nation und Heimat, gegen Oligarchie und Finanzelite: Linke Bewegungen wie Podemos und Nuit Debout klingen oft wie Rechtsradikale“.

Ich kan allem, was er sagt zustimmen. Hierzulande gibt es kaum jemand, der so denkt. Das ist kein Zufall.

Die Leute haben nicht gegen die EU gestimmt, weil sie glauben, danach wären die Dinge tatsächlich besser. Sie wollten vor allem ihre generelle Ablehnung zum Ausdruck bringen. (…)

In den Achtzigern haben linke Neokonservative mit Investorengeld Konferenzen organisiert, Seminare gegeben und mediale Debatten angezettelt mit dem Ziel, die Grenze zwischen rechts und links zu verwischen. Das war eine konzertierte Kampagne. Sie wollten all das abschaffen, worauf sich linkes Denken gründet: den Begriff der Klasse, die soziale Determination, die Ausbeutung der Arbeitskraft etc. Heute sehen wir, dass sie zum größten Teil erfolgreich waren. (…)

Das Problem ist, dass Europa von einer Klasse regiert wird, die der britische Autor Tariq Ali einmal die „extreme Mitte“ genannt hat: Diese Leute glauben, dass das, was den gut ausgebildeten Menschen in den Metropolen nützt, automatisch gut für alle ist. Das ist offensichtlich falsch (…)

Wie ist es möglich, so viele Menschen im politischen Alltag zu ignorieren? In Europa wissen die Eliten nicht einmal, dass es in ihren Ländern echte Armut gibt. (…)

Niemand wählt eine Partei, weil er mit ihr in jedem einzelnen Punkt übereinstimmt. Wir wählen Parteien, weil wir in dem Weltbild, dass sie vor Augen haben, selbst vorkommen. Und viel mehr wollen die Arbeiter auch nicht.

Sag ich doch. Ich habe auch die kleinbürgerlichen Beschimpfungen der Wähler satt. Besonders die schimpfen auf das pöbelnde Volk, die finanziell abgesichert und hochnäsig in ihren Stühlen sitzen und meinen, „man“ müsse doch die westlichen Werte hochhalten. Der schlimmste Gefühlszustand für den Spießer ist die „Enthemmung“, nichts anderes als die Furcht, die da unten könnten anders aufbegehren als es der Mittelschicht gefällt.

Sie wollen nur das Volk wieder auf den Konsens im Kapitalismus einschwören. Das machen die Arbeiter offenbar nicht mit. Nur gibt es keine linke Partei, die das auffängt.




Natürlich nichts gewusst

Das Neue Deutschland fasst noch mal den Stand des NSU-Prozesses zusammen: Jede Menge offenen Fragen, die nie beantwortet werden können.

„Die Bundesanwälte wollten den skandalösen Fall staatlichen Versagens bei der Abwehr von Rechtsterroristen möglichst rasch anklagen. Und dabei den Kreis der Verdächtigen eng begrenzen. Lass es nur kein Netzwerk sein! (…) Und so sammelte man eifrig alle belastenden Indizien gegen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe sowie die anderen vier angeklagten Nazi-Figuren. Das Umfeld verschwamm bis zur puren Unschärfe. (…) Die Forensik spielte bei den Ermittlungen eine große Rolle. »Wir haben viel gefunden«, sagt Greger. Stimmt. Was man allerdings nicht gefunden hat, sind beispielsweise DNA-Spuren von Böhnhardt und Mundlos – tatsächlich: an 28 Tatorten nicht eine einzige. Auch keine Fingerabdrücke.“

Besonders interessant dieses: „Es gibt eine Anweisung von Oberstaatsanwältin Greger, die von Weitblick geprägt gewesen zu sein scheint. Zehn Tage nachdem der NSU aufgeflogen war, verfügte sie, dass keinerlei Ermittlungswissen an den Verfassungsschutz weitergegeben werden darf. Denn es bestehe der Verdacht, dass der NSU der bewaffnete Arm »einer Partei sein oder einen Bezug zur organisierten Kriminalität« haben könnte. Und man wisse ja nicht, wie tief der Verfassungsschutz in solche Sachen involviert sei. Doch diese Anweisung hatte leider nicht lange Bestand.“

Ich hatte früher immer Zweifel, ob es einen organisierten Rechtsterrorismus à la „Barune Armee Fraktion“ gebe, vor allem deshalb, weil alle in Frage kommenden Anführer Spitzel des Verfassungsschutzes waren. Ich traue dieser Behörde ziemlich viel zu, aber so etwas erschien mir doch etwas zu abwegig, da einer ja immer plaudert und das recht schnell ans Tageslicht gekommen wäre. Dachte ich damals. Das war falsch. Das Vertuschen ist offenbar dumm und dreist amtsübergreifend.

Ich schrieb 2003:
Zum anderen vertritt der suggestive Begriff „Braune Armee Fraktion“ eine These, wie das ultrarechte Milieu strukturiert sei. Das vorgebliche Fehlen einer „Struktur“ war immer das wichtigste Argument, den Terror von rechts nicht ernst zu nehmen. Je mehr jedoch rassistische und antisemitische Ideen gesellschaftlich hoffähig sind, um so weniger bedarf es einer „Struktur“ des ultrarechten Milieus. Jeder Neonazi ist ein potentieller Terrorist, aber diese Möglichkeit muss nicht dauerhaft sein. Rassismus ist eine positive Option, ein Versprechen, nach irrationalen Kriterien soziale Grenzen so definieren zu können, dass man selbst einen Vorteil davon hat. Terror, der eine antisemitische und rassistische Motivation voraussetzt, ist immer individuell, weil die Ideologie und „moralische“ Begründung auf der subjektiven und rein irrationalen Entscheidung beruht, wer als der jeweilige Gegner anzusehen sei. Der „linke“ Terror der RAF bedurfte hingegen der theoretischen Legitimation und einer eschatologischen Interpretation der Geschichte, um potentielle Sympathisanten zu gewinnen. Terror, und das scheint hochaktuell, ist immer ein Zeichen der Niederlage der Idee.

Ja, weil wir heute die Salonfaschisten von der AfD haben und Pegida und Konsorten.

Der wichtigste Abschnitt im Artikel des ND ist dieser:
„Der Mann mit dem Arbeitsnamen Lothar Lingen ist jener ehemalige Referatsleiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, der am 11. November 2011 in einer Schredderaktion die Akten von V-Leuten vernichtet hat. Er war stets wortkarg, doch bei einer Vernehmung durch das BKA hatte er 2014 sein Motiv für die Vernichtungsaktion erklärt. Es sei bereits damals ‚völlig klar‘ gewesen, dass die Öffentlichkeit angesichts der vielen Quellen, die der Verfassungsschutz in der Thüringer Naziszene platziert hatte, nie geglaubt hätte, dass der Geheimdienst nichts vom NSU gewusst hat. Im Gegenteil, schon die nackten Zahlen der V-Leute sprachen dafür, ‚dass wir wussten, was da läuft‘.“

Quod erat demonstrandum.




Schlechte Aussichten in Kolumbien

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Traurig, dass die Mehrheit der kolumbianischen Bevölkerung das Friedensabkommen zwischen der Regierung und der Guerilla FARC abgelehnt hat. Wer mehr über die Hintergründe wissen will, sollte die beste kolumbianische Wochenzeitung Semana lesen, die sowohl der Regierung als auch der Guerilla kritisch gegenübersteht: „Las víctimas votaron por el Sí“. Die Opfer und die Betroffenen des Bürgerkrieges waren mehrheitlich für das Abkommen (vgl. die Wahlergebnisse der Regionen), das reaktionäre Kleinbürgertum in den Städten stimmte gegen den Frieden.

Das überrascht nicht. Man kann die Situation mit der in Chile zu Zeiten Allendes vergleichen. Auch damals war die städtische Kleinbourgeosie gegen den (linken) Präsidenten – und die herrschende Klasse sowieso. In Kolumbien ist der gegenwärtige Präsident nicht links, aber er ist immerhin vernünftig.

Ich war 1982 im von der Guerilla FARC mehr oder weniger kontrollierten Gebiet südwestlich von Villavicencio. Ich war jung und naiv, heute wäre ich vorsichtiger. Es ist mir aber nichts passiert.

Ausgangspunkt war der winzige Ort Vistahermosa (wörtlich: „Wundervolle Aussicht“, vgl. Fotos oben). Mehr dazu hier („In der Serranía de la Macarena“, 06.03.2911) und auf spiggel.de: „Dschungelfieber“ (27.01.2004) und „Das Cucaracha-Massaker“ (28.01.2004).




Die deutsche Volksseele

Noch ist keiner auf die Idee gekommen, die Lage der Deutschen des Jahres 1932 mit der von heute zu vergleichen, um herauszufinden, dass „die deutsche Volksseele“ damals bei einer Arbeitslosigkeit von 44 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, einer Halbierung der Industrieproduktion seit 1928 bei gleichzeitiger Senkung der Löhne und Gehälter um vierzig Prozent auf erst 37,5 Prozent für die NSDAP hochgekocht war. Wie die Volksseele bei ähnlicher Lage 2017 brodelte, lässt sich gar nicht übertreiben. Noch auch brannten 1932 die Synagogen nicht wie seit 1990 bis heute die Ausländerheime, noch konnten Juden mit ihrer Kippa auf dem Kopf, anders als heute, unversehrt durch Berlin spazieren. Deutschland (..) war vor 1933 weniger nazistisch (und viel weniger antisemitisch) als heute. (Hermann J. Gremliza in der aktuellen Konkret)