Willkürlich herrschende Schufte und Sicherheitsmaßnahmen

schufte

Im Nachlass meines Großvaters Hugo Reinhold Schröder (1902-1992) hat sich noch ein kleines Buch gefunden, das wir für ein Poesiealbum gehalten und unbeachtet gelassen hatten. Beim Entziffern fanden wir jetzt heraus, dass er auf den letzten beiden Seiten Tagebuch geschrieben hat. Hier geht es um das Jahr 1929. Beim Opa war damals Lehrhauer auf der Zeche Vereinigte Margarete in Dortmund-Sölde. Die Schachtanlage Margarethe wurde am 15. Juni 1926 stillgelegt. Mein Großvater verlor seinen Job, wurde „an die Fürsorge überwiesen“ und musste „Stempeln gehen“. Danach heißt es im Tagebuch:

Pflichtarbeit muss geleistet werden. Von den willkürlich herrschenden Schuften dazu gezwungen. Gegenaktion eingeleitet aus der ungerechten Behandlung heraus geboren.

Pflichtarbeit, also Zwangsarbeit bei Arbeitslosigkeit wurde 1923 in der Weimarer Republik eingeführt. „Die Verordnung zur Pflichtarbeit legte fest, daß sich jeder Arbeitslose, der nach Auslaufen der Arbeitslosenversicherung auf Krisenunterstützung angewiesen war, für gemeinnützige Arbeit zur Verfügung stellen mußte, ohne dafür entlohnt zu werden. Auf diese Weise wurden nicht nur zahlreiche Produktivkräfte außerhalb geregelter Arbeitnehmerrechte, wie Organisations- und Streikrecht, beschäftigt. Die Verordnung zur Pflichtarbeit sah auch erstmalig den Entzug der Unterstützung bei Arbeitsverweigerung und Sabotage vor, was praktisch der Verurteilung zum Hungertod gleichkam. (…)

Im Gegensatz zur ‚unterstützenden Erwerbslosenfürsorge‘, die zur Sicherung des Existenzminimums beitragen sollte, war die Sicherung des Überlebens von nun an an die Verrichtung von Notstandsarbeiten gebunden. Auch hier stand weniger der ökonomische denn ein pädagogisch-disziplinierender Faktor im Vordergrund, wie aus dem folgenden Zitat aus der Begründung zum Entwurf der Änderungsbestimmungen von 1925 deutlich hervorgeht:

‚Vor allem aber ist die produktive Erwerbslosenfürsorge das beste Mittel, um die Verelendung des Erwerbslosen und den Verfall seiner Arbeitskraft und seines Arbeitswillens zu verhüten; sie wirkt heilend und vorbeugend. (…) Wenn Arbeitslosigkeit in dicht zusammendrängender Bevölkerung in größerem Umfange und mit längerer Dauer eintritt, sind Störungen der öffentlichen Ordnung zu befürchten, besonders dann, wenn unter gewissen bekannten Einwirkungen der Wille der Massen in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. (…) Notstandsarbeiten bilden eine Sicherheitsmaßnahme, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.'“

Von meinem Vater weiß ich, dass mein Großvater damals Kommunist gewesen sein soll. Leider wird sich nicht mehr feststellen lassen, um welche „Gegenaktionen“, die er im Tagebuch erwähnt, es sich handelte. Wenige Monate später hat er auf der Zeche Achenbach Arbeit als Bergmann gefunden.

Das erinnert mich doch sehr an heute – an Hartz IV und 1-Euro-Jobs.

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Kommentare

7 Kommentare zu “Willkürlich herrschende Schufte und Sicherheitsmaßnahmen”

  1. Horst Horstmann am Oktober 31st, 2016 1:09 pm

    „Das erinnert mich doch sehr an heute – an Hartz IV und 1-Euro-Jobs.“

    Dazu muß man auch sagen: Hartz IV hat diese Zwangsarbeyt nicht eingeführt, sondern lediglich „einem größeren Kundenkreis zugänglich“ gemacht.

    Traditionspflege
    halt.

  2. Deckname: Ossi am Oktober 31st, 2016 3:08 pm

    @Horst

    Jawoll. Genau so. Traditionspflege!
    Somit ist ja unsere Gesetzgebung ja sowas von traditionell, gewöhnlich und ordinär.
    Am heutigen Tag sollte man auch wieder an den „Junker Jörg“ a.k.a. Prediger im besonderen Einsatz (PibE) M. Luther erinnern.
    Sozusagen der deutsche Zbig Brzezinski des Mittelalters.

    Aber man kann es ruhig sagen, es ist immer wieder schön zu sehen, wie die Lösung von Problemen der Gegenwart mit fast 100 Jahre alten bewährten Vorgehensweisen angegangen wird.

    Aber das Ende der Fahnenstange ist noch nicht erreicht, dank der Horror-Politiker und Grusel-Politikerinnen.
    Zur Zeit und demnächst noch intensiver zerlegt es ja gerade wieder einmal das Gesäß der Kapitalistenklasse.
    Was erlaube Schlitzauge? Unsere modernen deutschen Autos fahren stromlos, auch bei den Kinesen!
    Was erlaube Trump? America First? Mal sehen, welche Bewegung ab 09.11.2016 in deutsche Produktionsstätten mit einer hohen Zahl von Aufträgen aus den USA kommt.

    PS:
    Gibt es eigentlich noch ein Stück Deutschland was noch nicht zur Verwertung freigegeben wurde?
    Mit den BAB sollten man ja fast mit allem durchsein, oder?

  3. Martin am Oktober 31st, 2016 5:38 pm

    Da darf ich dann mal auf ältere Texte von mir verweisen:
    http://www.bongards.gmxhome.de/tool.html
    http://www.bongards.gmxhome.de/berate.html
    Der Text zu den 1€-Jobs ist nicht so ganz aktuell, denn diese wurden zurückgefahren – auf Initiative der Handwerkskammern, durchgeführt von der CDU. Seitdem müssen diese Arbeiten „wettbewerbsneutral“ sein. Das ist der SPD nicht in den Sinn gekommen, denn dort sind die Aufseher organisiert.
    Schöne Grüße

  4. blu_frisbee am November 1st, 2016 1:24 am

    Die Diskussion um die moralische Qualität der Armen ist alt, es wurde unterschieden zwischen schuldig und unschuldig arm.
    Soennhamland
    https://www.youtube.com/watch?v=u0lrQxwoTEQ&index=2&list=PLxR1evLJul6bX87GMvm1JVeE7I3am3fOz

    Burks, beschreib mal irgendwo wie man in Kommentaren anständiges HTML macht, erstmal Versuch (kann ja nicht editieren).

  5. blu_frisbee am November 1st, 2016 1:25 am

    Sollte Speenhamland heißen, funzt.

  6. Martin Däniken am November 1st, 2016 1:58 pm

    War die Notstandsarbeit eigentlich schon Faktor der Wirtschaft,wie die Häftlingsarbeit in der DDr- war also schon ausgerechnet was es brachte oder hat man dort wo es not tat Leute zur Arbeit gezwungen….?
    Ohne grossartige Planung!

  7. Wat. am November 2nd, 2016 12:15 am

    @blu_frisbee


    Guckst Du bitte hier: HTML, externe Links

    Ok, ok, ich heiße nicht Burks ;)

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