Alter Westfriedhof Unna oder: Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, erläutert anhand zweier Grabmäler

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Den Alten Westfriedhof in Unna kannte ich gar nicht, obwohl ich in der Stadt großgeworden bin. Rein zufällig stolperte ich über den Eingang.

Kurz gesagt: Der Friedhof ist einen Besuch wert, seine Grabmäler sind allemal interessanter als „Lichtinstallationen“ und, wenn nicht der lärmende Verkehrsring direkt daneben läge (und offenbar quer durch den Friedhof gebaut wurde), ein Park zum Relaxen und Sinnieren. (Der Architekt, der in der Massener Straße auf der südlichen Seite ultrahässliche Parkhäuser gebaut hat, deren Rückseite den Friedhof verschandeln, sollte öffentlich ausgepeitscht werden. Ich nenne ihn, auch in Gegenwart seines Anwalts, ein kulturloses profitgeiles Arschloch einen Kulturbanausen.)

Der deutsche Friedhof ist eigentlich ein Wald oder so gedacht. Der „Deutsche Wald“ wurde als Metapher und Sehnsuchtslandschaft seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Gedichten, Märchen und Sagen der Romantik beschrieben und überhöht. Historische und volkskundliche Abhandlungen erklärten ihn zum Sinnbild germanisch-deutscher Art und Kultur oder wie bei Heinrich Heine oder Madame de Staël als Gegenbild zur französischen Urbanität. (Hallo? Heinrich Heine muss man kennen, auch ohne einen Link, oder man muss dieses Blog verlassen!)

„Gedenk- und Trauerarten in Form von Waldfriedhöfen und Baumbestattungen“ lesen wir im einschlägigen Wikipedia-Eintrag. Auf dem Unnaer Friedhof kann man sogar steinernen (!) Grabsteine in Baum- oder Wurzelform entdecken. Quod erat demonstrandum.

Spannender finde ich immer die politischen Aussagen: Es starben als Soldaten Leutnant d. R. Albrecht Herdieckerhoff, geb. 7.5.1886, gefallen 18.9.1915 bei Brodno, Oberleutnant d. R. Otto Herdieckerhoff, geb. 3.6.1894, gefallen 11.9.1939 bei Radom. Sie schlafen dort, wo sie ihr Leben gaben für Deutschland.
Oder: Zum Gedächnis an Karl-Theodor von von Velsen-Zerweck, Fahnenjunker im Inf. Regiment 16 Hacke Tau*, geb. am 16. Juli 1895, vermisst in der Schlacht bei Langemarck Sept. 1914 (Auf dem Grabstein steht „Karl“. „Ein deutscher Angriff fand am 10. November [1914] bei dem Dorf Langemarck statt. Die daran beteiligten Regimenter bestanden zum Teil aus jungen Kriegsfreiwilligen.“).

Darüber könnte man ein ganzes historisches Seminar halten – die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, erläutert anhand zweier Grabmäler. (Ich setze hier nur die Links, und die geneigten Leserinnen und wohlwollenden Leser denken sich ihren Teil.)

Noch einmal zustimmend Wikipedia: Die im 19. Jahrhundert vermittelten kulturellen Bilder vom „deutschen“ Wald waren in erster Linie Ergebnis eines städtischen, elitären Denkens. Diese Vorstellungen wurden aber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in der Industriearbeiterschaft übernommen. Das romantische Waldbewusstsein der Deutschen hat sich seitdem schicht- und generationenübergreifend bis ins 21. Jahrhundert gehalten, was in Anbetracht der politischen und sozialen Umwälzungen eine bemerkenswerte Kontinuität darstellt. (By the way: Der Wikipedia-Artikel zum „Symbol der nationalen Identität“ ist richtig interessant; man beachte auch die Links darauf.

Ein Grabstein trägt den Titel: „Rittergutsbesitzer“. Was, liebe Nachgeborenen, sind ein Rittergut, ein nobilitas realis und ein Patronatsrecht? („Allerdings wird darauf hingewiesen, dass die Patronate rechtlich nicht zwingend abgeschafft worden sind…“) Das gibt schon ein weiteres Seminar für Studenten der Geschichtswissenschaft. (Huhu, Genderpolizei!)

Morgen früh fahre ich wieder nach Berlin. Ein paar Fotos über meine alte Heimat wird es aber noch geben. (Warum zum Teufel machen hier selbst Kneipen der neuen Mittelschichten und von Studenten schon um 23 Uhr zu? Das ist ja wie zu Zeiten, als ich noch Schüler hier war. Franzi wird aber hoffentlich in ein, zwei Jahren noch Bier ausschenken.)

* Wikipedia: „Durch anhaltende Regenfälle, während der Schlacht von Groß-Beeren 1813, versagten damals die Gewehre der Soldaten, so dass sie im Nahkampf den Gewehrkolben einsetzten und dabei riefen „HACKE TAU …“ (Schlag zu) „… es geit fort Vaterland“ riefen. Als Folge erhielten die Angehörigen des Infanterie-Regiments den Beinamen: Hacketäuer.“