Neue Mehrheiten und das Wilde am Kapitalismus

Camila Valejo

Spiegel online Die Mainstream-Medien erklären uns Politik und den Kapitalismus, hier in Chile:
Vieles, was in anderen Ländern selbstverständlich ist, gilt in dem südamerikanischen Land noch immer als linksradikal und verdächtig. Ein regulierender Staat zum Beispiel, die Begrenzung des wilden Kapitalismus, Arbeitnehmerrechte, würdige Löhne und Gehälter oder eben ein Bildungs- und Gesundheitssystem, das bezahlbar ist.

Da haben wir doch alle Textbausteine und Sprechblasen für die Lautsprecher des Kapitals zusammen. Vieles, was in anderen westeuropäischen Ländern selbstverständlich ist, gilt in Deutschland noch immer als linksradikal und verdächtig, zum Beipiel, eine Alternative zum Kapitalismus zu suchen, das K-Wort in den Mund zu nehmen oder Antifaschismus.

Camila Vallejo „tritt für die Kommunistische Partei an, die erstmals bei einer Wahl unter den Mantel der großen Mitte-links-Koalition ‚Nueva Mayoria‚ um Präsidentschaftskandidatin Michelle Bachelet geschlüpft ist.“

Wie meinen? Eine Präsidentschaftskandidatin erlaubt (vade retro, Satanas!) Kommunisten, mit ihr zusammenarbeiten? Wo bleibt der Exorzismus? In Deutschland gehen die „Sozialdemokraten“ sogar lieber mit der bürgerlichen Rechten und den Handlangern des Kapitals zusammen als dass sie mit der harmlosen „Linken“ koalieren würden, die mit kommunistischer Politik so viel zu tun hat wie Alice Schwarzer mit einem Puff.

Sogar als es zeitweilige rechnerische Mehrheit im Bundestag für einen Mindestlohn von zehn Euro gab, hat die SPD gekniffen – und nur, weil der Vorschlag von der „Linken“ kam. Ekelhafte heuchlerische und moralisch verkommene Bande! Lasalle würde euch zum Duell fordern. Ihr seid sogar zu dumm, um euch zu schämen.

Lassen wir uns jetzt auf der Zunge zergehen, was deutsche Journalisten als Gesellschaftsmodell nicht schlecht finden: „ein regulierender Staat“? Ach was? Was soll denn das heißen? Rückkauf der Energiekonzerne? Ist in Berlin, wo auch die „Linke“ mitregiert, gerade gescheitert. Soll die heilige Kuh angetastet werden und der Staat in den „freien Markt“ eingreifen? Die Bahn nicht mehr an die Börse gehen?

Am Schönsten ist ohne Zweifel „die Begrenzung des wilden Kapitalismus“. Das ist nicht nur Deutsch des Grauens, sondern auch grober nichtssagender Unfug, also ein Paradebeispiel für deutsche Medienberichte über ökonomische Fragen. Das wundert mich nicht, denn Klaus Ehrenfeld, der Autor des Artikels bei Spiegel online, schreibt auch für das Handelsblatt. Und in dem Lobbyisten-Blatt für die so genannte freie Marktwirtschaft das Kapital darf die Systemfrage noch nicht einmal gedacht werden.

Was ist denn „wild“ am Kapitalismus und welcher Teil soll von wem wie gezähmt werden? Und wann sind Löhne „würdig“ – würdig wessen? Und darf Hartz IV auch würdig sein?

Hinter derartigen hohlen Phrasen verbirgt sich nichts anderes als suggestives Volkswirtschaftssprech und die quasi-religiöse Idee der „sozialen Marktwirtschaft“ – als gäbe es auch eine „asoziale“ Marktwirtschaft. „Sozialer“ Kapitalismus oder „asozialer“ Kapitalismus – das ist hier nicht die Frage. Der „gezähmte“ Kapitalismus macht und auch nicht alle reich und glücklich. Was wolltest Du uns denn eigentlich über die Ökonomie mitteilen, Kollege Ehrenfeld?

Das ist – mit Verlaub – kein Journalismus, sondern ziemlich dämliche Propaganda. Y viva commandante Camila.