Vorfabrizierte klinisch reine Phrasen und die Nicht-Existenz einer Opposition

blockparteien

Unter denen, die sich vom Leben noch irgendetwas Aufregendes erwarten, schreibt Timothy Garton Ash, möchte niemand ein Deutscher sein.

Ash beschäftigt sich mit der Rolle Deutschlands in Europa und stellt einige interessante Thesen auf, die man so in deutschen Medien noch nicht gelesen hat. Helmut Kohl, das steht in einigen Gesprächsprotokollen, hat sich damals für den Euro entschieden, weil er meinte, die fiskalische und politische Union würde sich quasi automatisch einstellen. „He had taken this decision [to commit to the monetary union] against German interests“. Nun hatte Kohl sicher genauso wo wenig Ahnung, wie Ökonomie funktioniert, wie 99 Prozent aller heutigen Bundestagsabgeordneten. Das Ergebnis der gemeinsamen Währung kann sich aber sehen lassen: Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus (die eine ganz normale und fast vorhersagbare Vernichtung unproduktiven Kapitals ist) nützt nur der deutschen Wirtschaft und „subventioniert“ indirekt die deutschen Exporte. Die gute Nachricht für den Berufsrevolutionär ist jedoch, dass die Krise damit nicht beseitigt wird – sie wird nur auf andere abgewälzt. „This is a ‚European Germany‘ of which Thomas Mann could be proud.“

Ash beschreibt auch sehr einleuchtend, dass die staatlichen Organe, die nach Hitler in Deutschland implementiert wurden, eigentlich Demokratie garantieren. Alle kontrollieren sich gegenseitig, etwa durch die – im Vergleich zu anderen Ländern – starke Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Das mache aber „ecutive leadership very difficult“. Das ist auch gut so, möchte man hinzufügen, wenn „Ledership“ wirklich nötig wäre.

Das bedeutet aber auch: Politischer Streit findet nicht mehr statt. Ich habe selten die sinnfreien Textbausteine der deutschen Politik, wie sie unverdaut in Talkshows und anderen Politik-Simulationen dargeboten und von den Mainstream-Medien unkritisch übernommen werden, besser beschrieben bekommen: „The entire German political class uses a kind of sanitized Lego-language, snapping together prefabricated phrases made of hollow plastic.“

Das erklärt auch, warum sich kein Ökonom oder „Wirtschaftsexperte“, der mehr als einmal ins Fernsehen eingeladen werden will, jemals trauen würde, Marx‘ Thesen über Ökonomie positiv zu erwähnen. Das regelt schon die Schere im Kopf. Man darf den allergrößten Blödsinn in grottenschlechtem Deutsch daherfaseln, es darf nur nicht etwas sein, das die Glaubenslehren der „Volkswirtschaft“ in Frage stellt. Ich finde es immer wieder sehr spannend zu beobachten, wie sich diese Selbst-Zensur der Medien, die das Lego-Sprech der politischen Klasse zum Volk transportiert, durchsetzt: Niemand befiehlt, aber alle folgen.

Die Briten sind, im Gegensatz zu den Deutschen, in der Lage, eine Art heitere Gelassenheit und Selbstironie zu zeigen. Zusätzlich verhält sich die angelsächsische Presse zu deutschen Medien, was den Mut und die Recherche angeht, wie ein Bullterrier zum Mops. Dennoch gibt es dort kaum Widerstand gegen die Wahn der totalen Überwachung. Meine These war schon immer: Die Briten glauben nicht, dass ihre politischen Klasse wirklich schlimme Dinge macht; die Deutschen wären zwar die allerletzten, die aufbegehren würden, sie trauen aber ihren FührerInnen (sic) theoretisch alles Ekelhafte zu, weil wir das schon mal hatten. Die Deutschen beschreiben sich nicht zufällig als „schlafmützig„, bieder, gemütlich und nach dem Motto lebend: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Wenn die Deutschen aufbegehren, tun sie das nie, um das politische System zu stürzen, sondern weil etwas gegen ihre (protestantisch geprägte) Moral geht oder weil sie vor irgendetwas Angst haben. Enzensberger und Schirrmacher reden von „postdemokratischen Zuständen“. Dahinter steht wieder nur ein Gefühl, kein politisches Programm. Diejenigen, die jetzt vor den pöhsen Geheimdiensten Angst haben, waren genau dieselben, die es gut hießen, dass die Obrigkeit private Computer ausspähen will, die noch nie eine vertrauliche E-Mail geschrieben haben, die nicht wissen, was Truecrypt ist, und die den freien Markt Kapitalismus als das Ende der Geschichte ansehen, nach dem nichts mehr kommt. [Übrigens: Von Glenn Greenwald lernen, heißt verschlüsseln siegen lernen!]

Ich frage mich mittlerweile, ob es möglich ist, dass sich eine formale Demokratie in ihr Gegenteil verkehrt, ohne das es jemand merkt, also ohne Putsch, Ermächtigungsgesetz oder Faschismus. Unstrittig hat das Kapital zur Demokratie ein nur taktisches Verhältnis, Demokratie ist nur gut, wenn die Massen ruhiggestellt werden und/oder sich verdummen lassen. [Wenn das ägyptische Militär islamistischen Terror bekämpft, ist das irgendwie schlecht, aber man nimmt es hin; wenn der syrische Diktator Assad islamistischen Terror bekämpft, muss man den Terroristen noch Waffen schicken. Wenn „Muslimbrüder“ in Mail das Land übernehmen wollen, kommt die französische Fremdenlegion. Undsoweiter.]

Ich beurteile eine Gesellschaft weniger nach dem, was die herrschende Klasse und ihre Helfershelfer aka „PolitikerInnen“ machen, sondern nach dem Zustand der „Wählerinnen und Wähler draußen im Lande“. Wenn die breite Masse sich mit allem abfindet, was geschieht, brauchte das Kapital keine Militärdiktatur. Die Nazis mussten noch die kommunistische Opposition umbringen oder in Lager stecken. Was aber, wenn es keine Opposition gibt? Die Partei „Die Linke“ stellt ja auch nicht den Kapitalismus in Frage, und ihre „linken“ Protagonisten verehren Ludwig Erhard, den Säulenheiligen der so genannten „Freien sozialen Marktwirtschaft“.

Mal ganz im Ernst: Noch nie gabe es, seitdem Deutschland als Staat existiert, eine Epoche, in der die Opposition so schwach, unfähig und vor allem auch unwissend war. Da kaum jemand aus der Vergangenheit etwas lernst, müssen wir, so fürchte ich es, noch hundert Jahre warten, bis sich das ändert.

barrierefrei

„Reporter Ohne Grenzen“ will es offenbar den Pappnasen vom DJV-Bundesverband nachmachen: Die wissen aucht nicht, wie man eine E-Mail so schreibt, dass die von jedem Ausgabegerät korrekt angezeigt wird, was unter Fachleuten als „barrierefrei“ bezeichnet wird. Ich komme mir vor wie Don Quichotte: Ich predige vernünftiges Verhalten in meinen Seminaren und weise auf die Risiken und Nebenwirkungen hin, wenn man meine Ratschläge nicht befolgt, aber niemand hält sich daran. Manchmal wünsche ich mir, kurzzeitig das Mittelalter mit Folter und Peitschenhieben zurück; manche Leute verstehen offenbar keine andere Sprache.