Unter Schnellballsystemikern und Couponschneidern

Umverteilen?! Das scheint zur Zeit das Modewort zu sein bei den Ökonomie-Quacksalbern, Kapitalismus-Apologetikern und anderen Wirtschafts-Astrologen, von Spiegel online bis zur taz. Kein ernst zu nehmender Linker würde jemals auf die Idee kommen, etwas „umverteilen“ zu wollen. Karl Marx ist nicht Robin Hood und wollte es nie sein: Wer umverteilen will, kritisiert den Kapitalismus mit den kleinstmöglichen Mitteln. Die Idee der Umverteilung gebiert automatisch die Zwillinge „gerechter Lohn“ und „fairer Preis“ – Dinge, die etwa so logisch und rational sind wie ein weiblicher Papst oder vegetarisches Gulasch.

Die „Tagesschau“ verblödete die Rezipienten jüngst mit der Überschrift „Euro-Schulden-Krise.“ Der Euro kriselt aber gar nicht, und wer hat hier bei wem Schulden – und warum? Dazu müssen wir uns heute leider damit beschäftigen, wie Banken im Kapitalismus funktionieren. Das hört sich dröge an, und der Text ist auch länger als 140 Zeichen, aber die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser sollten nach der Lektüre mehr über das System wissen, das wir alle lieben und verehrenTM und das es auch noch kurz vor der Apokalpyse genau so wie heute geben wird.

Stellen wir uns ganz dumm und einen Staat vor, der einen Haufen Schulden hat. Die Gläubiger haben also diesem Staat etwas geliehen – Geld, für das der Staat Zinsen zahlen muss (sonst würde ihm ja niemand etwas leihen). Man nennt das Anleihen oder auch Obligationen – also eine Art Schuldschein, dessen Wert dem Gäubiger nach einer festgelegten Frist zurückgezahlt werden muss.

Stellen wir uns weiter vor, dieser Staat hätte mit dem geliehenen Geld nicht irgendetwas getan, damit er so viel mehr einnimmt, um seine Schulden – und die Zinsen – zurückzahlen zu können. Ganz im Gegenteil: Seine Einnahmen (etwa aus Steuern) hätten sich weiter verringert. Es ist also nichts da, um die Anleihen zurückzuzahlen, und es muss noch mehr her.

Wie löst man das Problem? Ganz einfach: Der Staat leiht sich noch mehr Geld, mit anderen Worten: Er gibt noch mehr Staatsanleihen aus. So kann man eine ganze Weile wirtschaften.

Irgendwann aber kommen Herr Charles Ponzi und die Mathematik ins Spiel. Diese Methode, an Geld und immer mehr Geld zu kommen, nennt man „Schneeballsystem“. Die Zahl derjenigen, die dem Staat Geld leihen können und auch deren Geldmenge ist nicht eine liegene Acht, sondern endlich. Deshalb bricht alles irgendwann zusammen, und die Letzten beißen die Hunde.

Bei den Euro-Staatsanleihen oder „Euro Bonds“ kommt noch etwas hinzu. Die Banken, die dem Staat Geld leihen, haben ein Privileg: Ihre „Schuldscheine“ oder die „Staats-Obligationen“ sind notenbankfähig, das heisst: Sie können diese Euro Bonds bei der Europäischen Zentralbank (EZB) als „Sicherheit“ hinterlegen. Sie kriegen also immer Geld, weil letztlich die EZB für die Schulder der Staaten den Kopf hinhalten muss. Das nennt man ein Repo-Geschäft; es funktioniert ungefähr so wie eine Vollkasko-Versicherung.

Jeder Mensch, den die Evolution mit einem Gehirn ausgestattet hat, fragt sich natürlich: Warum muss der Staat, wenn er sich Geld leihen will, den Umweg über die Banken gehen und kann sich nicht direkt Geld bei der Europäischen Zentralbank leihen – wenn es doch im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft? Ganz einfach: Das ist laut Artikel 123 („Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“) verboten. Die Deutschen wollten es so. Im Piraten-Wiki heisst es ganz richtig: „Art. 123(1) ist ein Ermächtigungsgesetz für die Banken. Es macht den Staat in einseitiger Weise vom Wohlwollen der Banken und der Anleihemärkte abhängig.“

Werner Heine, Ex-Redakteur der konkret, schreibt:
Das war der Gründungsfehler der Währungsunion: Weil die Deutschen Angst vor der haushaltspolitischen Unzuverlässigkeit der Partnerländer hatten, setzten sie durch, daß die gemeinsame Zentralbank keine direkte Staatsfinanzierung betreiben können sollte. Deshalb stellt die EZB das benötigte Kreditvolumen ausgewählten Banken in Europa zur Verfügung, die es dann an die einzelnen Länder weiterreicen, zu einem Zinssatz, der sich in einem Versteigerungsverfahren ergbt: Die kreditsuchenden Staaten bieten ihre Anleihepakete [ihre Schulden, B.S.] den Banken an und verlaufen zum günstigsten offerierten Zinssatz. (Werner Heine: „Paradise now? Über den Charakter der gegenwärtigen Krise“, in: in: Hermann L. Gremliza (Hg.): „No way out? 14 Versuche, die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise zu verstehen“, S. 67)

Das nennt man „Notenbankzinssatz“, ein zusätzliches Geldgeschenk an die Banken. Das Ergebnis: Deutschland verkauft seine Anleihen, auch bekannt als Staatsschulden, zu günstigen Zinsen, die Griechen werden sie gar nicht mehr los. Griechenland darf also keine Kettenbriefe mehr verschicken und am Schnellballsystem des Schuldenmachens nicht mehr teilnehmen.

Die wohlwollenden Leserinnen und geneigten Leser werden sich besorgt fragen: Können sich denn die nationalen Banken unbegrenzt lange Geld leihen und in beliebiger Höhe? Nein, es gibt so genannte „Eigenkapitalregeln“- also ein bestimmtes Verhältnis zwischem „eigenem“ und „ausgeliehenem“ Geld. Bis 2009 war es anders: Nach der damals gültigen „Richtlinie über Eigenkapitalanforderungen“ (auch „Basel II“ genannt) brauchten die Banken gar kein eigenes Geld, sondern durften dem Staat munter leihen, was sie wollten und dafür die Zinsen einstreichen.

Wohlstand

Das ist natürlich nicht etwas, was man als „seriös“ bezeichnen würde. Sogar die verbohrtesten bürgerlichen „Volks“wirtschaftler und Apologeten der so genannten „Freien Marktwirtschaft“ ahnten, dass man für den Fall der Fälle – den Staatsbankrott – etwas vorsorgen musste. Also schönheitsoperierte und „reformierte“ man ein bisschen hin und her und nannte das Ergebnis „Basel III„, im affirmativen Bürokraten-Nominalstil „Verbesserung der Risikodeckung“.

Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung formuliert in ihrer Studie „Anspruch und Wirklichkeit der Finanzmarktreform“ unfreiwillig komisch:
Neben der Forderung nach höheren Eigenkapitalanforderungen für systemrelevante Finanzinstitute vereinbarte die G20 in ihrer Pittsburgh-Erklärung, dass systemrelevante Finanzinstitute für den Fall einer Pleite Pläne zur geordneten Abwicklung vorhalten müssen.

„Systemrelevante“ Finanzinstitute: Besser hätte das Anshu Jain auch nicht sagen können. Um mal Klartext zu reden: Das sind diejenigen Banken, die am so genannten „Primary-Dealer-System“ teilnehmen. Diese Finanzunternehmen müssen dem Staat eine bestimmte Menge seiner Schulden – also known as Staatsanleihen abkaufen – und das nach einem vorher festgelegten Zinssatz. Nicht sehr „frei marktwirtschaftlich“, möchte man einwerfen. Zu recht, denn der Staat sorgt zwangsweise für eine Mindestnachfrage für den Kauf seiner Schulden. Da aber die Banken an den Zinsen satt verdienen und wegen der Vollkasko-Versicherung bei der EZB meckern sie nicht allzusehr.

Jetzt haben die europäischen Banken aber ein Problem: Woher sollen sie denn das geforderte eigene Geld – im Volkswirtschaftssprech „Eigenkapital“ – nehmen? Es handelt sich bei der „Eigenkapitallücke“ immerhin geschätzt um schlappe eine Billion Euro!

Nach Basel III schwand zudem das Motiv, immer mehr und immer öfter Staatsschulden aufzukaufen, da die Banken eine Gegenleistung in Form von Eigenkapital bringen müssten. Nach Adam Riese oder wem auch immer traf ein erhöhtes Angebot aufzukaufender Staatsschulden auf eine verminderte Nachfrage. Die Anleihekurse für Euro-Bonds sinken also.

Wir wären nicht im Kapitalismus, wenn jetzt noch zusätzlich ein bisschen mit heißer Luft gepokert und gewettet würde: Es gibt einen Unterschied zwischen Zins und Rendite bei Staatsanleihen. Die Zinsen, die der Staat den Banken zahlt – der so genannte Coupon– , sind festgelegt, bis die Schulden zurückgezahlt werden (am Sankt Nimmerleinstag). Die Rendite ist der aktuelle Wert der „Schuldscheine“ am Finanzmarkt. Ich könnte also darauf wetten, dass die Zinsen, die Staaten für das Geld zahlen müssen, die ihnen die Banken geliehen haben, steigen oder fallen, und damit Geld verdienen. Das ist ungefähr so sinnvoll wie eine Abgabe an die GEMA, wenn man „Ihr Kinderlein kommet“ auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt singt.

Wenn uns jemand in die Geschäftsbücher der Banken schauen ließe und wenn es in den Mainstream-Medien Deutschlands Journalisten gäbe, die von Ökonomie mehr verstünden als ein beliebiger Klippschüler, dann würde die Öffentlichkeit aufhorchen. Würden die Banken „die in ihrem Besitz befindlichen Papiere zu ihrem derzeitigen Marktwert bilanzieren müssen (wozu sie nur gezwungen sind, wenn sie vorzeitig verkaufen) wären sie alle pleite.“ (Stefan Frank: „Von Ponzi bis Pilatus“, in konkret 8/2012)

Jetzt bekommt das hübsch zweideutige Wort „systemrelevant“ einen ganz eigenen, typisch kapitalistischen Geschmack: Ginge der Staat pleite, wären auch die „systemrelevanten“ Banken bankrott. Wer hätte das gedacht!

Wohlstand

Wir nähern uns mit großen intellektuellen Schritten der aktuellen Krise der europäischen Staatsfinanzen (die aber nur eine Teilmenge der systemischen Überakkumulationskrise seit 2007 ist – doch dazu ein anderes Mal).

Deutschland ist bekanntlich der größte Exporteur in Europa. Was geschähe, wenn zum Beispiel Griechenland aus der Europäischen Union austräte und die Drachme wieder einführte? Die Zeit, die des Linksextremismus ganz unverdächtig und dem Marxschen Gedankengut abhold ist, schreibt im Januar 2012:
Laut dem gerade veröffentlichten Rüstungsexportbericht 2010 sind die Griechen nach den Portugiesen – auch ein Staat kurz vor der Pleite – die größten Abnehmer deutscher Kriegswaffen. Spanische und griechische Zeitungen verbreiteten gar das Gerücht, Angela Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy hätten Griechenlands Ex-Premier Giorgos Papandreou noch Ende Oktober am Rande eines Gipfeltreffens daran erinnert, bestehende Rüstungsaufträge zu erfüllen oder gar neue abzuschließen.

Nach einem Austritt Griechenlands oder dem Zerfall der Union würde das deutsche Kapital weit weniger Profite machen, da die Landeswährungen abgewertet würden. Es wäre genauso wie das Verhältnis zwischen Dollar und Euro. Ein schwacher Euro ist gut für den Export: „European companies are rubbing their hands at the sales boost they should get from the euro’s 10% decline against the greenback in recent weeks“.

Das heißt: Die deutschen Kapitalisten müssen alles dafür tun, dass Exporte des Ausland nach Deutschland nicht billiger werden. Ein vernünftig denkender deutscher Kapitalist muss die Europäische Union und den Euro auf jeden Preis erhalten wollen. Merkel handelt dementsprechend – sie verhält sich zum Kapital etwa wie Mappus zu Morgan Stanley. Es ist vergleichbar, nur ein paar Nummern größer. Ob das funktieren kann, kriegen wir später.

Das Wort zum Sonntag ist viel zu lang geworden. Vielleicht sollte ich morgen doch wieder Fotos posten, irgendetwas aus dem Dschungel und dem dortigen unerbittlichen Kampf ums Dasein und ums Überleben.