Exakte Zielansprache für gefühlt erlesene Ichs

„Das erlesene ich“ heißt ein Artikel im Tagesspiegel vom Peter-André Alt, der nicht nur als Feuilletonist dilettiert, sondern auch in der FU Berlin präsidiert. Da kann ich natürlich nicht widerstehen, zumal mich schon der Untertitel stutzen lies: „Identitäten“? Aber Herr Professor, „Identität“ kennt so wenig einen Plural wie „Aktivität“, wenn man die deutsche Sprache ernst nimmt – und wer war hier noch mal identisch mit wem oder was?

Helm ab zum deutschen Feuilleton für den Oberstudienrat, nein, lesen wir einfach gemeinsam und gedenken derer, die wussten, dass sogar die deutsche Sprache Melodie und Rhythmus besitzt, wüsste man denn, wie dieselben anzuwenden wären:

Das moderne Ich, dessen Geburtstunde in der Aufklärung schlug, stützt sich auf unterschiedliche Rollen- und Identitätsentwürfe. Es ist so angelegt, dass es sich in Prozessen der Reflexion, der Einbildung, der Selbststilisierung, der Maskerade und Täuschung vervielfältigen kann. Lesen initiiert solche Formen der Anreicherung, indem es dazu beiträgt, das Ich mit seinen unentdeckten Möglichkeiten zu konfrontieren.

Ung, ung, ung, ung, tönet das Echo im Sprachwalde in der Hoffnung auf Erlösung vom Nominalstil. Diese gespreizte Bläh- und Furzdeutsch wollen wir jetzt übersetzen, liebe Kinder.

Der moderne Ich – wieso eigentlich „modern“? Meint der Kerl den Bürger und wie er sich im Kapitalismus formte, angefangen bei Norbert Elias und dem „Prozess der Zivilisation“ bis zu Max Weber, der, weil ein ehrlicher Wissenschaftler, sich noch traute, das böse Wort „Kapitalismus“ auszusprechen: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus„?

Es gab mal einen Präsidenten der FU Berlin, der schützte seine Studenten persönlich vor der Polizei (ich war damals Augenzeuge). Es versteht sich nicht von selbst für einen Wissenschaftler, die Theorie zu vertreten, es gebe eine soziale Rolle. Damals, als man noch nachdachte und kritisch war, sah man das anders – guckst du hier:

Wo „Theorien der Gesellschaft“ von „soziologischen Theorien“ unterschieden werden, etwa im Marxismus oder in der Systemtheorie, da wird „Rolle“ entweder als gefährlicher Konkurrenzbegriff vehement zurückgewiesen, oder er wird einfach übergangen: Frigga Haug beanstandete als Marxistin, dass sowohl die Geschichte der Gesellschaft und ihre ökonomischen Bedingungen als auch das dialektische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit dem Begriff „Rolle“ in das Individuum verlegt werden; die Theatermetapher „Rolle“ erleichtere zudem die Selbsttäuschung. Rollenforderungen stellen demnach eine äußere Übermacht dar, bei der die Gefahr besteht, dass das Individuum sich in die „innere Emigration“ zurückzieht …. Gesellschaftliche Verhältnisse erscheinen dementsprechend fälschlich als unveränderbar.[24] Eine systemtheoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Rolle“ steht noch aus.

Quod erat demonstrandum (sagt derjenige, der auch Bücher interessant findet, deren Titel moderne Glotzentalkshowseher selbst dann nicht verstünden, wenn man ihnen das Werk um die Ohren haute.) Wer „Rolle“ sagt, outet sich damit als jemand, der den Lesern eine Ideologie subtil unterjubeln will – die des modernen Ichs Kapitalismus, also known als die Gesellschaftsform, die wie alle lieben, die uns alle reich und glücklich macht und die das Ende der Geschichte bedeutet.

Verdammt, wir sind immer noch beim ersten Satz. Unterschiedliche Rollen- und Identitätsentwürfe“ – also Synonyme oder was? Das Ich ist nicht eingelegt, etwa in Sprachaspik, sondern angelegt dergestalt, das es gleich mehrere ist. Wie meinen? Wir sind viele? Noch einmal ganz langsam zu Mitschreiben – und jetzt benutzen wir Verben also known as Tuwörter:

Das Ich denkt, bildet sich etwas ein, stilisiert sich, maskiert sich und täuscht sich, und währenddessen das Ich all dieses tut, wird es viele.

„Lesen initiiert solche Formen der Anreicherung“. Ach wirklich. Lesen reichert an – was aber genau? Das Tun des Denkens, sich Einbildens, sich Stilisierens, sich Maskierens und sich Täuschens? Ich schlage vor:

Alt: Lesen initiiert solche Formen der Anreicherung, indem es dazu beiträgt, das Ich mit seinen unentdeckten Möglichkeiten zu konfrontieren.
Neu: Lesen bildet: Man merkt, wenn man liest, dass man mehr kann als man dachte.

Wer hätte das gedacht. Aber wenn man so schriebe wie Bertold Brecht, dann kriegte man das deutsche Feuilleton eben nicht voll. Da aber der Tagesspiegel das Zentralorgan des berliner Bildungsbürgertums ist, soweit vorhanden, werden die Leser zusätzlich mit dem Privaten, das bekanntlich immer politisch ist, des Feuilletonisten angesprochen; die LeserIinen sollen sich wiedererkennen:

Bitte beschreiben Sie Ihre Identität in einem Satz: Ich plane gern und freue mich dennoch über Zufälle, weil sie das Leben unberechenbar, schön und gefährlich machen.
Ich würde antworten: Cogito, ergo sum.

Drei Bücher, die Sie zuletzt mit Begeisterung gelesen haben
Niklas Luhmann, Universität als Milieu; Franz Werfel, Verdi. Roman der Oper; David Lodge, Author, Author.

Ich würde antworten: Mary Douglas: Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Hertha von Dechend: Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit. Burkhard Schröder: Die Konquistadoren (har har).

Drei kulturelle Höhepunkte in diesem Jahr: Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker mit Mahlers erster Sinfonie, Hector Berlioz’ „Die Trojaner“ in der Deutschen Oper und Darren Aronofskys „Black Swan“.
Habt Ihr euch beim Tagesspiegel eigentlich mal gefragt, ob das jemand arrogant nennen würde? Diese Art kultureller Orgasmen muss man sich auch leisten können. Ich würde schon aus Trotz antworten: Deutschland sucht den Superstar. Eurovision Song Contest‎. Der Kachelmann-Prozess.

Die letzten drei Urlaubsorte: Kalifornien, Sylt, Türkei.
Venezuela. Mallorca, Gor in Second Life – das können Sie nicht mithalten, Herr Professor! Aber das wollen sie auch gar nicht, denn sonst würde sich der Oberstudienrat, der gefühlt nur Erlesenes konsumiert, im Feuilleton des Tagesspiegel gar nicht mehr wohl fühlen. Habe die Ehre!

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Kommentare

One Kommentar zu “Exakte Zielansprache für gefühlt erlesene Ichs”

  1. genova am Juni 17th, 2011 12:40 pm

    Alt hat in Bezug auf die FU auch schon Klartext gesprochen:

    http://exportabel.wordpress.com/2010/08/08/die-dummheit-wird-intensiver-sein-als-heute/

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