Revolution in Stuttgart?

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Ich habe gerade in zahlreichen historischen Schmökern nachgesehen, wann in die Stuttgart die letzte Revolution stattgefunden hat, um das Gezerre um den aktuellen Abriss des Hauptbahnhofs historisch einordnen zu können.

Im Bauernkrieg zogen die württembergischen Aufständischen nur durch, es ist nicht bekannt, ob die Stuttgarter sypathisierten oder sich in ihren Häusern verkrochen.

1849 zog sich das Rumpfparlament nach Stuttgart zurück: „Das Stuttgarter Rumpfparlament war im Rahmen der liberalen und nationalstaatlichen Märzrevolution von 1848/49 in den Staaten des Deutschen Bundes der letzte Versuch, die verbliebenen parlamentarisch-demokratischen Strukturen dieser Revolution, die im Frühsommer 1849 kurz vor ihrer endgültigen Niederschlagung stand, noch zu retten. (…) bereute die württembergische Regierung die nicht mit ihr abgestimmte Einladung an das Parlament schon nach wenigen Tagen, insbesondere da sich das Rumpfparlament und die Reichsregentschaft immer mehr radikalisierten und zur Steuerverweigerung sowie zum militärischen Widerstand gegen die Nichtanerkennung der Verfassung durch die Bildung eines Reichsheers aufriefen. (…) Am 18. Juni besetzte württembergisches Militär vor Sitzungsbeginn den Tagungsort, das Fritz’sche Reithaus. Der von den noch 99 in Stuttgart befindlichen Abgeordneten daraufhin improvisierte Demonstrationszug in Richtung des Sitzungssaales wurde durch das Militär schnell und ohne Blutvergießen aufgelöst…“

1907 tagte der Internationale Sozialistenkongress in Stuttgart, Clara Zetkin wohnte seit 1903 in Stuttgart-Sillenbuch.

In den siebziger Jahren des 20 Jahrhunderts agierte in Stuttgart die maoistischen Politsekte Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands (KABD), die wir damals spaßeshalber „Spätzle-KPD“ nannten.

Soweit zur Geschichte. Mehr Revolution habe ich in Stuttgart nicht gefunden. Natürlich handelt es sich bei den jüngsten relativ harmlosen Auseinandersetzungen ohnehin weder um eine Revolution noch um eine, die es werden will. Im Vergleich zu den Demonstrationen etwa in Brokdorf vor 30 Jahren sind ein paar kleine Wasserwerferchen harmlos und Spielkram.

Laut Spiegel Offline sagte der unvermeindliche Rainer Wendt (das ist der mit den virtuellen Streifenfahrten im Internet), Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft: „Polizeiliche Einsatzmittel müssen Waffen sein, die weh tun, nur dann wirken sie.“ Richtig. Die Gewalt, die vom Staat ausgeht, radikalisiert und politisiert die Schüler und Jugendlichen in Stuttgart. Wer vorher noch im Stile einen protestantischen Pfarrers naiv „keine Gewalt“ auf seine Fahnen geschrieben hatte, wird jetzt eines Besseren belehrt werden – und das ist auch gut so.

Aber mal im Ernst: Ich habe gar keine Meinung, wer Recht hat oder nicht. Mir ist der Stuttgarter Hauptbahnhof wurscht. Natürlich werden dort Steuergelder in großem Maße zum Fenster hinausgeworfen, und nötig ist der neue Bahnhof gewiss nicht. Mich interessierte eigentlich nur, wer welche Bestechungsgelder genommen hat und wer am meisten finanziell profitiert. Sinnlose Geldverschwendung ist die Regel, nicht die Ausnahme. Wer erinnert sich noch an den Rhein-Main-Donau-Kanal, den der damalige Bundesverkehrsminister Volker Hauff „das unsinnigste Bauwerk seit dem Turmbau von Babel“ nannte und den die CDU trotzdem bauen ließ?

Es geht auch nicht darum, die Wahrheit über das herauszufinden, was in den letzten Tagen geschehen ist. Wahrheit ist relativ. Jeder wird aus den Fernsehbildern das herauslesen, was das eigene politische Weltbild bestätigt. Der Innenminister Mappus handelt konsequent. Wissen.de schreibt ganz richtig: „Es wird deutlich, dass die Union ihre konservative Stammwählerschaft umgarnt, um verloren gegangenes Terrain zurückzuerobern. Die seit 1953 bestehende Vorherrschaft der Südwest-CDU ist akut bedroht. Laut jüngsten Umfragen hat die christlich-liberale Koalition keine Mehrheit mehr im Südwesten. Stattdessen kann sich ein grün-rotes Bündnis, Hoffnungen auf den Sieg im März 2011 machen. (…) Die Parteistrategen in der CDU-Zentrale haben sich auf die Grünen als Hauptgegner eingeschossen.“

Und ein sehr schönes Zitat fasst alles zusammen: „Auch der Chef der Landtagsfraktion, Peter Hauk (CDU), weiß, wo der Feind steht: ‚Ich wehre mich dagegen, mich unter das Diktat von Altkommunisten und Altlinken zu stellen, die in den letzten Wochen die Rädelsführer des Protestes waren‘, sagt er. Da gehe eine Saat auf, ‚die die Grünen mitgelegt haben‘.“

Solche Zitat wenden sich nicht an die, die in Stuttgart demonstrieren. Das ist eine irrelevante Minderheit, die für die CDU sowieso verloren ist. Nein, es geht Mappus und Konsorten darum, die rechtskonservative Stammwählerschaft der CDU zu befriedigen und zu reaktivieren. Die „Mitte“ sind in Stuttgart die Grünen, und mit Wasserwerfern und Reizgas kann man dieses Wählerpotential der gefühlten Mitte spalten. Der Protest wird sich ja ohnehin bald legen; über Wochen hält das Bürgertum das nicht durch, zumal es kein ernst zunehmendes revolutionäres Ziel gibt.

Auch N-TV kommentiert überraschend klug: „Es kann nur eine sinnvolle Erklärung geben: Die Landesregierung will die Debatte um Stuttgart 21 in einen gewaltsamen Konflikt überführen und fährt bewusst eine Strategie der Eskalation. Wenn erstmal die Demonstranten Molotow-Cocktails werfen und Vermummte Straßenbarrikaden basteln – dann ist die Schwarz-Weiß-Welt wieder in Ordnung. Und dann besteht die berechtigte Hoffnung, dass die braven Stuttgarter Bürger wieder zu Hause bleiben und hinnehmen, was ihnen die Obrigkeit vorgesetzt hat. Früher bauten die Herrscher Schlösser, um sich zu feiern. Heute machen sie die Schlossgärten wieder platt und bauen Bahnhöfe.“

Wer sich also über einen angeblich „überzogenen“ Einsatz der Polizei aufregt, ist nicht nur reichlich naiv, sondern verkennt auch, dass man immer fragen muss: cui bono? Wem nützt das? Wenn sich eine kleine Minderheit der Protestierenden radikalisiert und eine härtere Gangart fährt, kann sich die Polizeileitung entspannt zurücklehnen und der Politik signalisieren: Auftrag ausgeführt! Dann sind die Wasserwerfer a posteriori gerechtfertigt worden. Und wenn diese Minderheit weiterhin friedlich beliebt, ist das Ergebnis identisch. Es passiert gar nichts, und der neue Bahnhof wird gebaut werden.