Second Chance für Second Life (in deutschen Medien)

Second Life

Screenshot: die Benutzeroberfläche des Second-Life-Clienten. Mein virtuelles Büro in Cymric auf knapp 4000 „Meter“ Höhe. Der rote Button links ist für eine „minderlegale“ Software, mit der ich andere Avatare durch die Gegend schleudern kann, wenn sie mich nerven. Die Menüs rechts machen meinen Avatar zu einem Karatekämpfer, der andere wegpushen kann, auch wenn Avatare unverletzlich sind, und versetzen ihn in die Lage, die Chats anderer zu belauschen – auch aus einiger Entfernung. Als Inhaber einer virtuellen Detective Agency hat man immer ein paar schmutzige Tricks im Ärmel. Neulinge – „geboren“ nach 2007 – in Second Life wissen oft gar nicht, was es so alles gibt.

Deutsche Medien und Second Life – ich sollte ein Lehrbuch für Journalistik schreiben. Ich hatte gleich zahllose Beispiele, wie man es nicht machen sollte. Vielleicht tue ich Spiegel offline auch unrecht. Vielleicht ist es nur Selbstironie, wenn die über Second Life schreiben: „Totgeglaubte virtuelle Welt“. Vom Glauben wird man nicht satt, und Glaubensfragen zu verbreiten ist keine journalistische Aufgabe. wer glaubte denn – und warum?

„Glaubt man dem Medienecho, dürfte es ‚Second Life‘ längst nicht mehr geben. Die einst hochgelobte virtuelle Welt hat einen miesen Ruf. De facto aber ist ‚Second Life‘ ein profitables Unternehmen mit vielen Nutzern. Und Konkurrenten wie „Twinity“ [nein, Spiegel offline setzt keinen Link zu Twinity.] versuchen sich auf dem gleichen Feld.“

„Einst hochgelobt“ – vom wem? Vom gesunden Volksempfinden? Von Redakteuren, die sich zehn Minuten dort aufgehalten haben? Interessanter wäre es doch zu erklären, warum es zu einem sinnfreien Hype kam und warum der plötzlich abebbte. Natürlich – es handelt sich um deutsche Medien. Denen muss man nur das Wort „Kinderpornografie“ in den Rachen werfen. Irgendetwas wird schon hängen bleiben. Vergleiche den unsäglich dämlichen Artikel im österreichischen Standard: „Kinderpornos: Die Gefahr lauert nicht nur im WWW“. (Deutschsprachige, nicht deutsche Medien – wie wollen die Aussis nicht einverleiben.)

Einen „miesen“ Ruf hat Second Life nur bei denen, die alles glauben, was in der Zeitung steht oder im Fernsehen kommt. „Kinderpornografie in Second Life“ ist eine Medienente von Report Mainz. (Mittlerweile kenne ich sogar diejenigen, die damals agierten, als der Informant von Report Mainz Screenshots machte – es waren ohnehin keine Kinder involviert.)

Second LifeSecond Life

Mein Avatar besucht eine Sim in Second Life, die das Engadin virtuell präsentieren will.

Erstens: Twinity ist eine Totgeburt. Recherche bedeutet nicht, dass man das abschreibt, was die Macher behaupten. Das hingegen nennt man Public Relations, auch als Werbung bekannt. Schon mal davon gehört? Christof Kerkmann, dpa, ich wette, geschätzer Kollege, dass du weder einen Avatar in Twinity noch in Second Life hast.

„Bereits vor einigen Monaten verbannte die Firma aus San Francisco einige Inhalte in einen virtuellen Rotlichtbezirk. Nur wer sich bei der Registrierung als Erwachsener ausweisen kann, kommt dort rein. Kein Avatar soll ungewollt mit Sex, virtuellem Drogenkonsum und Gewalt zu tun bekommen – das schadet dem ohnehin angeschlagenen Ruf.“

Zweitens: Davon ist so gut wie kein Wort wahr. Es gibt – so wie das da steht – keinen „virtuellen Rotlichtbezirk“. Cybersex kann man überall kriegen und haben. Ich will nicht schon wieder von Gor in Second Life anfangen. Gemeint ist: Eine Sim mit „adult“-content, also Inhalt für Erwachsene, kann man als Avatar nur betreten, wenn man eine „age verification“ gemacht hat. Ein 16-Jähriger kann Second Life genau so leicht spielen wie er ein Video ausleihen kann, das nur für Erwachsene ist. Die „Altersverifikation“ ist ein Placebo. Vermutlich hat Lindenlab die nur eingeführt, damit deutsche Medien mit ihrer calvinistischen Obsession endlich das Maul halten. Aber um das herauszufinden, müsste man „vor Ort“ recherchieren. Beim Thema Second Life ist Google offenbar noch nicht einmal der Minimalstandard der Recherche. Und noch eins: „virtuellem Drogenkonsum und Gewalt“. Tickt ihr noch ganz richtig bei Spiegel Offline bzw. dpa? Was zum Teufel ist „virtueller Drogenkonsum“? Und haben das die Jugendschutzwarte auch verboten? Zuzutrauen wäre es ihnen. Wie kann man so einen Unfug unredigiert auf die Leute loslassen?.

Second Life

Es nützt auch nichts, wenn ab und zu virtuelle Welten gelobt werden mit dem Hinweis, dass die nächste Generation (für Zensursula und Schäuble wäre das die gefühlte überüberübernächste Generation) schon mit Avataren aufwächst. Diese Welten sind Datenkraken, erziehen die lieben Kleinen zu Konsumfetischisten und sind nur primitive 3D-Chats – kein Vergleich mit Second Life.

Auch Zeit Online stößt ins gleiche Horn: „Ausgestorben, unfertig, völlig überschätzt: «Second Life» hat einen miserablen Ruf. Die virtuelle Welt erlebte erst einen beispiellosen Höhenflug bei Nutzern und Medien, stürzte dann aber umso tiefer ab.“

Wieso „stürzte sie ab“? Die Nutzerzahlen sind kontinuierlich gestiegen, die Performance hat sich kontinuierlich verbessert. Fakten, Fakten, Fakten, und nicht an die Gefühle denken. Das wäre Journalismus. Der Text des Artikels konterkariert sich immerhin selbst: „‚Die Wahrnehmung von Second Life entspricht nicht der Realität‘, sagt der Chef von Linden Lab. Das Entwicklerteam habe anfangs nicht mit dem riesigen Andrang Schritt halten können, gesteht er ein. Doch heute sei die 3D-Welt stabil – und bei weitem nicht entvölkert: Rund 16 Millionen Nutzer sind registriert, jeden Monat loggt sich eine Million von ihnen ein, ein beträchtlicher Teil davon aus Deutschland. Ebenso wichtig für die Firma: Sie verbringen im Schnitt immer mehr Zeit auf der Plattform.“

Ja, was deutsche Medien schrieben, entsprach nicht der Realität. So einfach ist das. Darüber sollte man ein wenig nachdenken. Und woher das wohl kommt? Ansonsten ist es dergleiche Artikel von dpa, nur dass Zeit Online den Namen des Autors weglässt. Zeit online und Spiegel „Online“ bringen identische Artikel? Ja. Bin mal gespannt, was passierte, wenn ich beiden denselben Artikel anböte mit dem Hinweis, das wäre doch kein Problem..

Second Life

Mein Avatar mit zwei Freundinnen in Second Life, einer Holländerin, meiner virtuellen „Partnerin“, und einer Freundin aus Mendoza in Argentinien. Mit beiden chatte ich in Englisch, obwohl beide Deutsch verstehen.