Entchristianisierung und Entbürgerlichung

Junge Welt: „Auf einer Reise durch befreite Gebiete in Ostdeutschland stieß der Mitarbeiter der Süddeutschen Zeitung Gustav Seibt auf un-westdeutsches Benehmen der Eingeborenen. (…) ‚Bezeichnend ist auch, daß nicht einmal mehr der gebildete Geschichtsrespekt, der in Museen noch verlangt wird, hier gilt. So zeigt sich im entprotestantisierten Milieu nordostdeutscher Landstriche das Ergebnis des doppelten Kulturvorgangs der letzten zwei Generationen: Entchristianisierung und Entbürgerlichung. Zurück bleiben Arbeitnehmer, die sich das Recht auf Pause nicht nehmen lassen mögen, oder Aufseher, die das Publikum gerne schurigeln und zum Dienstschluß hinauswerfen, kurz: die Überlebenden des sozialistischen Experiments. (…) Jedenfalls in den nördlichen Gebieten der DDR wird dem, der sich – immerhin gegen Bezahlung – bedienen lassen will, signalisiert, daß dies eigentlich illegitimer Klassenhochmut sei. Daß in einer modernen Marktgesellschaft Dienstleistungen austauschbare Rollen sein könnten, nicht aber ständische Rangverhältnisse bedeuten, ist nicht angekommen. Zwischen Elbe und Oder war der Klassenkampf erfolgreich. Jedenfalls zeigt die im demographisch ausgedünnten, ökonomisch verzweifelnden Osten verbreitete Patzigkeit und Unfreundlichkeit, daß die Egalität vielleicht noch nicht die höchste Weisheit des Zusammenlebens ist.'“